Martin Wichmann 12 Maße ein jugendsprachlicher Ausdruck erwartbar. Umso verwirrender ist es für DaF-Lerner, dass hier ein eindeutig standardsprachlicher Ausdruck (gefallen) realisiert wird. 3. Die sprachlichen Einzelphänomene werden isoliert betrachtet. Die Per- spektive wird auf die lexikalische Ebene verengt. Die kommunikativ-situ- ative Einbettung spielt keine Rolle. Text- und Diskursebene werden kom- plett ausgeblendet. 4. Das Verhältnis von Merkmalen der Jugendsprache, der Mündlichkeit und der Umgangssprache bleibt ungeklärt. Die Äußerungen sind größtenteils um Merkmale der Mündlichkeit bereinigt. Dennoch – und darauf scheint das folgende Beispiel hinzudeuten – sollen Merkmale der Mündlichkeit abgebildet werden. Dies geschieht jedoch in unsystematischer und zudem sehr rudimentärer Weise: (3) „Lass mich in Ruhe – ich hab‘ heute absolut keinen Turn.“ (Berger; Martini 2005: 143) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zentrale Kritikpunkte, wie sie gegenüber der didaktischen Umsetzung von Jugendsprache in DaF-Lehrwerken formuliert wur- den, nach wie vor zutreffen. Dabei scheint sich die didaktische Umsetzung eher an den Vorstellungen der Öffentlichkeit als an linguistischen Erkenntnissen zu orientie- ren. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt z.B. die Analyse finnischer bzw. finnischer und schwedischer DaF-Lehrwerke (vgl. Wichmann 2013, Maijala 2007). Der DaF-Didaktik kommt dabei die m.E. interessante Aufgabe zu, dieses Desiderat – zumindest ein Stück weit – aufzuarbeiten. Hierzu möchte das Projekt einen Beitrag leisten. 5 Projektvorstellung 5.1 Projektziele Was die didaktische Umsetzung von Jugendsprache betrifft, so verfolgt das Projekt JiMFI die folgenden Ziele: 1. Ein möglichst authentischer und aktueller Sprachgebrauch soll die Grund- lage für die didaktische Vermittlung bilden (vgl. Wichmann 2013: 91). An welche Grenzen ein solcher Anspruch stößt, werde ich im Folgenden an- hand der methodischen Diskussion von Spielfilmen exemplarisch diskutie- ren. In jedem Fall geht es aber um eine Abkehr von konstruierten Beispie- len der Lehrwerkautoren. 2. Dabei soll insbesondere die ganze Bandbreite an Erscheinungsformen von Jugendsprache dargestellt werden (s. dazu Tab. 15). Die allzu starke Fokus- sierung auf lexikalische Ausdrücke gilt es zu überwinden. 5 Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich es bei dieser Überblicksdarstellung belassen und die Kategorien nicht jeweils an Beispielen veranschaulichen. Hierzu verweise ich auf die genannte Literatur. Integriertes Sprach- und Kulturlernen am Beispiel von Jugendsprache im DaF-Unterricht 13 3. Auch wird eine linguistisch korrekte Darstellung von Jugendsprache ange- strebt, die notwendigerweise eine didaktische Reduktion vornehmen muss, ohne jedoch zu stark zu vereinfachen. 4. Darüber hinaus sollen Jugendsprache auf der einen sowie Jugendkulturen und Jugendszenen auf der anderen Seite miteinander verknüpft werden. Das Projekt JiMFI richtet sich an zwei Zielgruppen: 1. An Lerner im schulischen DaF- Unterricht der gymnasialen Oberstufe mit dem Sprachniveau B1/B2. 2. An Germanis- tikstudierende im universitären Bereich mit dem Sprachniveau B2/C1. In diesem Bei- trag beziehe ich mich durchgängig auf den schulischen DaF-Unterricht. Im Rahmen des Projekts sollen fachdidaktische Publikationen (z.B. in Aufsatzform) entstehen, in denen exemplarisch Didaktisierungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Dabei sollen Deutschlehrer in die Lage versetzt werden, eigenständig Materialien zu didaktisieren, was ich selbst in Fortbildungskonzepten erprobe. Tab. 1: Erscheinungsformen von Jugendsprache im Überblick − auf der Grundlage von Neu- land (2008: 139ff., 2007b: 12) Pragmatische Ebene Sprachliche Handlungen Konversatio- nelle Hand- lungsmuster (z.B. Lästern) Bricolagen Zitationen und Spiel mit fremden Stimmen Lexikalische Ebene Wörter für semantische Bereiche (z.B. Partnerbe- zeichnungen) Verstärkungs- partikeln Anglizismen Wertungs- ausdrücke Schimpf- wörter, Fäkal- ausdrücke Phonologische Ebene Prosodische Sprachspiele- reien Lautwörter- kombination 5.2 Korpus Das Korpus umfasst insgesamt drei Teilkorpora: Teilkorpus 1 umfasst Songtexte, Teilkorpus 2 enthält Filmausschnitte aus Spiel- bzw. Dokumentarfilmen (s. dazu Tab. 2) und Teilkorpus 3 beinhaltet Gesprächsausschnitte, d.h. vereinfachte Tran- skriptdarstellungen aus linguistischen Publikationen. In diesem Beitrag beziehe ich mich ausschließlich auf Teilkorpus 2. Martin Wichmann 14 Tab. 2: Teilkorpus 2 im Überblick Filmausschnitte Spielfilme Dokumentarfilme Die Welle (2008) Prinzessinnenbad (2012) Dorfpunks (2009) Das Leben! Früh reif – Mädchen in der Pubertät (2010) Nichts bereuen (2001) Meine Welt – über die Jugend von heute (2010) Sommersturm (2004) The First Time (2012) 45 Szenen 24 Szenen 69 Szenen (unterschiedlicher Länge) Die didaktische Einheit ist die Szene. Die einzelnen Szenen wurden transkribiert. Eine Darstellung in Form von GAT-Transkripten erscheint mir als nicht zumutbar (vgl. Wichmann 2013: 91). Ferner wurde zur Vereinfachung literarische Umschrift verwen- det und primär linguistisch motivierte Notationsweisen wie metasprachliche Kom- mentare, Einwürfe, Pausen und Hörerrückmeldungen wurden weggelassen (vgl. Wichmann 2013: 91, 93). Hingegen wurden Gesprächspartikeln, Abbrüche, Reformu- lierungen, mündliche Aussprachevarianten und – sofern relevant – auch Betonungen sowie para- und nonverbale Phänomene abgebildet, da sie z.T. für das Verständnis der jugendsprachlichen Erscheinungsformen wichtig sind und auf diese Weise ein Rest an Mündlichkeit erhalten werden soll (vgl. Wichmann 2013: 93). 5.3 Methodische Reflexion Die Entscheidung, Spielfilme zu verwenden, ruft den möglichen Einwand der man- gelnden Authentizität hervor, da Spielfilme „gemacht“ und medial inszeniert sind. Der Einwand lässt sich m.E. durch die folgenden Gegenargumente entkräften: 1. Primäres Ziel des Projekts ist die Abkehr von konstruierten Lehrwerkdia- logen, wie sie nur allzu bekannt sind. Insofern geht es um ein Bemühen um Authentizität und Authentizität ist immer ein relatives Kriterium, das mit anderen Kriterien in Einklang zu bringen ist. 2. Die Filmemacher bemühen sich um realistische Einblicke in jugendkultu- relle Lebenswelten und führen hierzu im Vorfeld z.T. umfangreiche Re- cherchearbeiten durch (vgl. Wichmann 2013: 93). Die Tatsache, dass sich Jugendliche mit dem Film identifizieren und durch ihn (emotional) ange- sprochen fühlen, ist entscheidend für den Filmerfolg. 3. Der Einwand präsupponiert, dass alternativ auf authentische Daten zu- rückgegriffen werden könnte. Diese sind jedoch schwer zugänglich und weisen oft eine sehr schlechte Tonqualität auf. Auch die Durchführung ei- Integriertes Sprach- und Kulturlernen am Beispiel von Jugendsprache im DaF-Unterricht 15 gener Aufnahmen (z.B. von lokalen Jugendgruppen) ist keine sich anbie- tende Lösung. Einzelne Jugendgruppen sind i.d.R. stark auf ihr lokales Lebensumfeld ausgerichtet, sie behandeln spezifische Themen, die ein komplexes landeskundliches und kulturgeschichtliches Wissen vorausset- zen, und sind an eine gemeinsame Interaktionsgeschichte gebunden, die dem Beobachter (im Gegensatz zum Filmzuschauer) verborgen bleibt. Hinzu kommen sprachliche Hürden wie dialektales Sprechen oder Codeswitching (etwa bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund). All dies führt dazu, dass der Didaktisierungsaufswand einfach zu groß wird. 4. Der didaktische Zugriff ist nicht nur ein sprachlicher. Wesentliches Ziel des Projekts ist es, aktuelle Einblicke in die Zielsprachenkultur zu geben. Dies soll durch die Darstellung verschiedener Jugendkulturen, etwa durch Filme mit attraktiven Themen sowie Orten und Schauspielern als Identifi- kationsangeboten realisiert werden. 5. Auch muss in Rechnung gestellt werden, dass es sich bei der Zielgruppe um Schüler handelt, denen grundlegende landeskundliche Einblicke er- möglicht werden sollen. Bei Germanistikstudierenden könnten und sollten die Unterschiede zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen sprachlich und methodisch am konkreten empirischen Material untersucht und reflektiert werden. 6 Beziehung zwischen Jugendsprache und Jugendkultur Das Verhältnis von Jugendsprache und Jugendkultur lässt sich folgendermaßen fassen: Sprachliche Äußerungen sind eingebettet in kulturelle Praktiken und Muster. Beide Ebenen lassen sich nicht losgelöst voneinander betrachten. Daher werden sie auch oft in einem Atemzug genannt: so z.B. bei Schlobinski (2002), Neuland (2008: 17) oder Maijala (2007). Dass auch die Jugendkulturen in den Blick genommen werden, ist didaktisch allein schon deshalb angezeigt, da auf diese Weise ein breiterer Unterrichts- gegenstand erschlossen werden kann, was wiederum die Behandlung des Themas im DaF-Unterricht stützt. In Bezug auf den Kulturbegriff lehne ich mich an Knapp an, der ihn wie folgt fasst: Bestand an Symbolen und Praktiken, […] durch den ein zwischen Mitglie- dern einer Gruppe geteiltes Wissen an Standards des Glaubens, Deutens und Handelns in der sozialen Interaktion manifest gemacht wird (Knapp 2004: 412) Kultur wird hiernach als gruppenspezifisches Symbolsystem aufgefasst, was sich ins- besondere mit der Charakterisierung von Jugendsprache als Gruppenphänomen deckt. Entsprechend weit fasse ich auch den Begriff Jugendkulturen. In der soziologischen Literatur (so z.B. bei Farin 2006) werden unter Jugendkulturen die prototypischen Martin Wichmann 16 Jugendszenen wie Gothics, Techno oder Hip Hop verstanden. Ein solches Begriffs- verständnis stellt jedoch m.E. eine unnötige Reduktion dar, da auf diese Weise viele Jugendliche – früher als „Normalos“ bezeichnet – nicht berücksichtigt würden. So sind in meinen Daten lediglich Punks („Dorfpunks“) und Emos („Meine Welt“) ver- treten. Auch die Gleichsetzung von Jugendkulturen und Musikstilen ist zwar üblich, aber zugleich auch problematisch, da Musikstile einem schnellen zeitlichen Wandel unterliegen. Was die spezifische Sprachverwendung in den einzelnen Jugendkulturen betrifft, so ist hierüber sehr wenig bekannt. Zwar liegen inzwischen eine ganze Reihe linguisti- scher Einzeluntersuchungen vor (s. Neuland 2008: 47), diese sind jedoch so speziell, dass sie kaum verallgemeinernde Schlussfolgerungen zulassen. So mangelt es vor allem an einem Überblick und einem systematischen Vergleich. Auch sind Unterschiede im empirischen Sprachgebrauch zwischen verschiedenen Gruppen bislang kaum unter- sucht und herausgearbeitet worden. Nicht zuletzt fehlt es an Analysen zur gesproche- nen Sprache. Dies ist umso überraschender, als dass Jugendsprache in dieses Medium eingebettet ist. Für die didaktische Umsetzung des Themas im DaF-Unterricht bedeutet dies, dass nicht auf gesicherte linguistische Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden kann, die dann didaktisch reduziert werden könnten. Vielmehr bietet es sich an dieser Stelle an, die Schüler selbst an empirischem Material arbeiten zu lassen, um so möglicher- weise auch Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen, wie z.B. Rappern und Ravern, selbst herausarbeiten zu können. Die Beschäftigung mit Jugendsprache und Jugendkultur ist eingebettet in das übergreifende Lernziel Aufbau interkultureller Kompetenz und in Bezug darauf postu- liert Buttjes (1995: 147), dass dem DaF-Unterricht die Aufgabe der „Vermittlung der Pluralität von Denkerfahrungen und Historizität kultureller Erscheinungen“ zukom- me. Es existiert eine enorme Bandbreite kultureller Sichtweisen, die alle nebeneinander ihre Berechtigung haben und deren Erscheinungsformen einem ständigen Wandel unterliegen. Die Lerner sollen jedoch nicht nur eine Einsicht in die Kulturspezifik von Sichtweisen und Erscheinungsformen gewinnen, sondern auch Handlungskompetenz in der Begegnung mit fremden Kulturen entwickeln: Primäre Aufgabe der Landeskunde ist nicht die Information, sondern Sen- sibilisierung sowie die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertig- keiten im Umgang mit fremden Kulturen. (ABCD-Thesen 1990: 16). Um dieses Fernziel zu erreichen, sind allerdings mehrere Zwischenschritte notwendig. Der erste Schritt besteht im DaF-Unterricht darin, dass die Schüler die eigene Kultur bewusst wahrnehmen sowie reflektieren lernen und nicht etwa als (natur-)gegeben hinnehmen. Jugendkulturen bieten hier einen konkreten Ansatzpunkt, da sie Bestandteil der ei- genen Lebenswelt sind. Hier lassen sich ideal Kulturvergleiche (z.B. von Musikstilen) herstellen, so dass sich die Jugendlichen auch als Experten in das Unterrichtsgesche- Integriertes Sprach- und Kulturlernen am Beispiel von Jugendsprache im DaF-Unterricht 17 hen einbinden lassen. Finnische Musikstile unterscheiden sich z.B. von deutschen darin, dass Heavy Metal und Soumipop (finnischer Pop) viel stärker etabliert sind. Eine interessante Frage ist auch, wie sich Musikstile, die in beiden Kulturen vorhan- den sind, jeweils kulturspezifisch ausprägen (z.B. Rap oder Hip Hop). 7 Didaktisierungsvorschläge Im Folgenden werde ich einige Aufgabentypen und Beispiele vorstellen, die ich selbst im DaF-Unterricht in Finnland erprobt habe. Daher möchte ich an dieser Stelle einige kurze Bemerkungen zur finnischen Lernkultur machen.6 Der Fremdsprachenunterricht in Finnland ist traditionell sehr stark durch die Grammatik-Übersetzungs-Methode (s. Huneke; Steinig 2005: 163-166) geprägt. Die Förderung des mündlichen Ausdrucks spielte lange Zeit eine sehr geringe Rolle und wurde erst in den letzten Jahren – zudem in Form von fakultativen Kursen – in das Schulcurriculum aufgenommen. Insofern ist die Beschäftigung mit Jugendsprache im DaF-Unterricht sowohl produktiv als auch rezeptiv eine Herausforderung, da Jugend- sprache primär ein Phänomen der gesprochenen Sprache ist.7 Insofern müssen diese Voraussetzungen auf Seiten der Schüler berücksichtigt werden, indem vorentlastet wird, und zwar z.B. durch Behandlung der Eigenschaften der gesprochenen Sprache. Um Spezifika der Zielsprachenkultur anhand von Beispielen herausarbeiten und interkulturelle Unterschiede beschreiben zu können, nehme ich die Perspektive der Herkunftskultur der Lerner, also die der finnischen Kultur, ein. Nun zu den Aufgabentypen im Einzelnen:  Nennen und Erkennen jugendsprachlicher Ausdrücke verbunden mit Techniken der Erschließung, Festigung und Erweiterung des Wortschat- zes sowie der Explikation von Bedeutungsunterschieden,  Analyse jugendsprachlicher Stilelemente, wie z.B. Stilbastelei (vgl. Neuland 2008: 149),  Fragen zum eigenen Sprachgebrauch und auch zu den Spracheinstellungen Jugendlicher (bezogen auf die eigene Muttersprache): z.B. Wann verwen- dest du selbst welche Ausdrücke? Wann ist der Ausdruck angemessen und warum?  Fragen zu den Funktionen von Jugendsprache: Warum gibt es überhaupt Jugendsprache? Warum brauchen Jugendliche ihre „eigene“ Sprache? Kann man überhaupt von einer eigenen Sprache sprechen? Was macht al- so eine Sprache aus? 6 Die finnische Perspektive dient an dieser Stelle exemplarisch als kulturelle Folie, auf der die deutschen Jugendkulturen wahrgenommen werden. Der Leser soll ausdrücklich dazu angeregt werden, die jeweilige kulturspezifische Perspektive zu ergänzen, die seinem Erfahrungsraum entspricht. 7 Auch die Beschäftigung mit Jugendsprache im Germanistikstudium ist voraussetzungsreich, da die fin- nische Germanistik stark systemlinguistisch ausgerichtet ist (vgl. Hyvärinen; Piitulainen 2010) und Phä- nomene oberhalb der syntaktischen Ebene des Satzes traditionell nicht im Fokus standen. Martin Wichmann 18  Produktion eigener Texte mit jugendsprachlichen Ausdrücken. Als mögli- che Textsorten kommen hierfür z.B. Kontaktanzeige oder Tagebuchein- trag in Frage.8 Das folgende Beispiel stammt aus einem Korpus an Schülertexten. Das Korpus habe ich selbst zusammengestellt. Es handelt sich hier um eine Kontaktanzeige. Der Schülertext setzt nicht nur die typischen Textsorteneigenschaften konsequent um, sondern enthält gleich mehrere Merkmale von Jugendsprache: Wörter für bestimmte semantische Bereiche wie Freizeit (abhotten, abfeiern) und Anglizismen (Superman). Ich habe den Text nicht zuletzt deshalb ausgewählt, da er einen idealen Ausgangs- punkt für verschiedenste Grammatikübungen bilden kann. Im Text wird gleich eine Vielzahl grammatischer Phänomene angesprochen: Adjektivdeklination (einschließlich Komparation), Substantivdeklination, Verbkonjugation (Verbformen, insbesondere trennbare Verben), Präpositionen (einschließlich Rektion), Konjunktionen, Recht- schreibung, Interpunktion und Wortstellung (insbesondere Verbendstellung im Ne- bensatz). Zum Abschluss möchte ich noch einmal etwas ausführlicher an einem Beispiel aus meinem Korpus aufzeigen, welche Möglichkeiten der gewählte Zugang für ein inte- griertes Sprach- und Kulturlernen bietet. Durch die Beschäftigung mit dem Unter- richtsgegenstand Jugendsprache lässt sich eine Vielzahl fremdkultureller Phänomene erschließen, die es didaktisch zu bearbeiten gilt. Eine wesentliche Eigenschaft des gewählten Zugangs liegt darin, nicht ein fertiges Kulturkonzept vorzugeben, sondern die fremdkulturellen Phänomene aus dem Material induktiv zu entwickeln. Jetzt wende ich mich dem Beispiel zu. Es stammt aus dem Dokumentarfilm „Prin- zessinnenbad“. In dieser Filmszene sind die beiden jugendlichen Hauptdarstellerinnen Tanutscha und Klara zusammen im Schwimmbad. Tanutscha äußert sich zur Zu- kunfts- und Lebensplanung der beiden Mädchen und kommt in diesem Zusammen- 8 Hierbei kann es sich jedoch nur um ein Ausprobieren handeln. Jugendsprache ist ein Phänomen der ge- sprochenen Sprache, so dass Diskurstypen wie Pausen- oder Peer-Group-Kommunikation zu bevorzu- gen sind. Zudem haben die Jugendlichen keine Jugendsprache in der Fremdsprache Deutsch. Gleichwohl ist Jugendsprache ein internationales Phänomen, was wiederum didaktisch genutzt werden kann. Dies trifft in besonderer Weise auf einen mehrsprachigen Kontext, wie er in Finnland gegeben ist, zu. Die Schüler lernen i.d.R. vier Sprachen: neben der Muttersprache Finnisch auch die Fremdsprachen Schwe- disch (als zweiter Landessprache) und Englisch. Dies trifft auch auf die von mir untersuchte Lerngruppe zu. Beispiel (4) „Aktiv Superman“ (sprachlich nicht korrigiert) Schüler, 13. Klasse, gymnasiale Oberstufe, Helsinki Ich bin ein einundzwanzig jährig Helsinger mit viele Hobbys. Ich bin sportlich, ganz herzlich und ein aktiv Superman mit große Muskeln der sucht schönen älten Frauen. Ich abhotten oft durch die Nachten und ich mage immer abfeiern. Bitte mich kontaktieren ob Sie sind interes- siert. Integriertes Sprach- und Kulturlernen am Beispiel von Jugendsprache im DaF-Unterricht 19 hang auf „Öko“ als alternativem jugendkulturellen Lebensstil zu sprechen (ab Zeile 38). Diesen bewertet sie eindeutig negativ („weil ich Öko scheiße finde“, Z. 40). Als Gruppensprache dient Jugendsprache der Abgrenzung und damit dem Aufbau einer eigenen Identität, was sich an diesem Sprachmaterial besonders gut veranschaulichen lässt. Die Abgrenzung wird sprachlich wiederum durch Lästern realisiert. Dabei ist das Objekt des Lästerns auf keine konkrete Person, sondern auf eine soziale Gruppe, die quasi in toto angesprochen wird, bezogen. Beispiel (5) Prinzessinnenbad Szene 6 „Weil ich Öko scheiße finde“, 26-46 Ta = Tanutscha, Kl = Klara 26 Ta Ich will so erst mal so erst mit 30 Kinder, wenn überhaupt. Ich 27 Ta will so frei leben, Partys machen. Ich will schon so meinen Job 28 Ta haben, mein Geld verdienen, so in Urlaub fahren, eine richtig geile 29 Ta Wohnung haben, auch mal Partys machen gehen einen saufen. 30 Ta Sie wird zu mir kommen, bei mir Kaffee trinken, ich zu ihr. 31 Ta Wir werden trotzdem noch irgendwie mit unseren Kumpels 32 Ta rumhängen, weil ich glaube, mit denen, die wir jetzt kennen, 33 Ta weil sie will nich aus-/ da wegziehen, wo ich wohne/ wo wir 34 Ta wohnen/ ich nich. Wir haben den gleichen Freundeskreis, der 35 Ta wird da auch nich wegziehen. Von daher wird’s immer durch die 36 Ta schon allein so bleiben. 37 Kl Ja. 38 Ta Und ich werd mir nix vom Ökoladen kaufen. 39 Kl Ich auch nich. ((o--lacht--o)) 40 Ta Weil ich Öko scheiße finde. 41 Ta Ne? 42 Kl Ja. 43 Ta Spießer! 44 Kl Ja! 45 Ta Hässlich und fett. 46 Kl Keinen Spaß verstehen und geizig. 47 Ta Ja. Das Handlungsmuster setzt sich aus zahlreichen negativen Bewertungen des Lästerob- jekts zusammen: „weil ich Öko scheiße finde“ (Z. 40), „Spießer!“ (Z. 43), „hässlich und fett“ (Z. 45), „keinen Spaß verstehen“ und „geizig“ (Z. 46). Auch die gegenseitige Bestätigung wird auf der sprachlichen Ebene besonders deutlich. Sie lässt sich in der sequenziellen Abfolge der Äußerungen sehr gut beschreiben (Z. 38-47). Die negativen Bewertungen verstärken sich. Negative Bewertung und Zustimmung folgen als adjacen- cy pairs (Levinson 1983: 303f.) jeweils direkt aufeinander. Dies wird z.B. explizit mar- kiert durch „Ja“ (Z. 42, 44, 47). Teilweise wird die Zustimmung auch verstärkt: zum Martin Wichmann 20 einen durch intonatorische Hervorhebung („Spießer!“ Z. 42) und zum anderen se- mantisch durch die Nennung weiterer Negativzuschreibungen (z.B. „keinen Spaß verstehen und geizig“, Z. 47). Auch wird die Zustimmung explizit eingefordert, so z.B. von Tanutscha in Zeile 41 durch das Rückversicherungssignal (Fiehler 2005: 1236) „ne?“. Die Rückversicherung soll die soziale Beziehung der beiden Mädchen und die Qualität ihrer Freundschaft, die ganz wesentlich auf geteilten Lebenseinstellungen basiert, stärken. Aus dem Beispiel lässt sich eine ganze Reihe von Themen und Aspekten herausar- beiten, die jeweils kulturspezifisch ausgeprägt sind. Dabei möchte ich neben allgemei- nen Aspekten (Wünsche und Bedürfnisse oder Freundschaft) im Folgenden vor allem diese kulturspezifischen Aspekte thematisieren. Zukunfts- und Lebensplanung: Aus finnischer Sicht ist es zunächst überraschend, dass „30“ eine relativ signifikante Altersmarke darstellt und dass der Kinderwunsch mit anderen Wünschen nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist. Dies widerspricht der eigenen kulturellen Wahrnehmung, nach der der Arbeitsmarkt durchlässiger orga- nisiert ist, das Alter eine geringere Rolle spielt und eine flächendeckende Kinderbe- treuung (z.T. mit 24-Stunden-Kitas) eine Selbstverständlichkeit darstellt. Insofern mag es doch schon merkwürdig anmuten, dass selbst in Berlin der Kinderwunsch mit an- deren Wünschen und Bedürfnissen (zumindest in der Wahrnehmung der Menschen) konfligiert. „Öko“ als alternativer jugendkultureller Lebensstil: Da in Finnland ein entspre- chender Lebensstil nur sehr rudimentär und vor allem nicht als Massenphänomen wie in Deutschland existiert, stellt sich zunächst die Frage, was unter diesem zu verstehen ist, wie er sich manifestiert und welche kulturellen Wurzeln er hat. In Bezug auf Ener- giegewinnung reibt man sich in Finnland verwundert darüber die Augen, dass Deutschland ohne Atomenergie auskommen will. „Spießer“ als „Feindbild“: Der Begriff ‚Spießer‘ ist kulturgeschichtlich höchst vo- raussetzungsreich und muss entsprechend kontextualisiert werden. Woher stammt der Ausdruck und wie wird er heute verwendet? Hier wäre die Gesellschaftskritik der 1968er zu thematisieren und auch der Aktualitätsbezug herzustellen, wie er sich in Begriffen wie „Neobiedermeier“ (Dückers 2011) oder „Bionade Biedermeier“ (Suße- bach 2007) manifestiert. Auch die Thematisierung von sozialen (Vor-)Urteilen und Stereotypen (hässlich, fett, humorlos, geizig) ist Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts, da sie auch Na- tionenbilder betreffen. Und so werden die genannten Beispiele nicht nur aus finni- scher Sicht in Bezug auf Deutsche verwendet. Dem DaF-Unterricht kommt dabei die Aufgabe zu, nationale Stereotype, die in der interkulturellen Kommunikation verwen- det werden, aufzugreifen und zu thematisieren (vgl. Heringer 2010, 2013). An diesem Beispiel habe ich zu zeigen versucht, dass authentische Materialien sehr voraussetzungsreich und kulturell aufgeladen sind. Die Analyse dieses Beispiels von mittlerer Länge zeigt, dass sich gleich eine ganze Reihe kulturkontrastiver Aspekte herausarbeiten lässt. Für die Vermittlung im DaF-Unterricht müssen diese didaktisch Integriertes Sprach- und Kulturlernen am Beispiel von Jugendsprache im DaF-Unterricht 21 aufbereitet werden, da sie sonst vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Folie der Fremdsprachenlerner unverständlich bleiben und in ihrem Bedeutungsgehalt nicht annähernd erschlossen werden können. 8 Fazit Die didaktische Umsetzung von Jugendsprache im DaF-Unterricht – und insbesonde- re in Lehrwerken – ist nach wie vor wenig zufriedenstellend. Dieses Desiderat ein Stück weit zu beseitigen, ist das Ziel des vorgestellten Projekts JiMFI (Jugendsprache in Musik, Film und Interaktion). Wesentliche Prinzipien sind dabei die Verwendung au- thentischer und möglichst aktueller Sprachdaten sowie eine linguistisch angemessene Umsetzung der didaktisch reduzierten Inhalte. Im weiteren Verlauf des Projekts sollen die Didaktisierungsvorschläge – etwa in Form einer Unterrichtseinheit – konkretisiert und erweitert werden. Wie können sprachliche und jugendkulturelle Aspekte dabei miteinander verbunden werden? Wie muss die didaktische Umsetzung an die jeweilige Lernkultur angepasst werden? Und welche didaktischen und methodischen Arrange- ments sollten jeweils ausgewählt werden? Diesen didaktischen Fragestellungen nach- zugehen, scheint mir eine höchst spannende und lohnenswerte Aufgabe für das Fach Deutsch als Fremdsprache zu sein, die ich gern weiter bearbeiten möchte. Literatur ABCD-Thesen (1990): In: IDV-Rundbrief 45, 5-18. Androutsopoulos, Jannis (2005): … und jetzt gehe ich chillen. Jugend- und Szenespra- chen als lexikalische Erneuerungsquellen des Standards. In: Eichinger, Ludwig M.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Berlin; New York: De Gruyter, 171-206. Baurmann, Jürgen (2003): Jugendsprachen im Schulbuch. In: Neuland, Eva (Hrsg.) (2003a), 485-497. Berger, Maria Christina; Martini, Maddalena (2005): Generation E. Deutschsprachige Lan- deskunde im europäischen Kontext. Stuttgart: Klett. Buttjes, Dieter (1995): Landeskunde-Didaktik und landeskundliches Curriculum. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3., überarb. und erw. Aufl. Tübingen; Basel: Francke, 142-149. Dückers, Tanja (2011): Schwarz-Grün hat längst begonnen. Schwarz-grüne Koalitio- nen wird es künftig öfter geben. Sie vereinen das Bedürfnis nach Moral und Ge- mütlichkeit. Davon profitieren werden die Konservativen. In: Die ZEIT vom 12.07.2011. Farin, Klaus (2006): Jugendkulturen in Deutschland 1990-2005. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Martin Wichmann 22 Fiehler, Reinhard (2005): Gesprochene Sprache. In: Dudenredaktion (Hrsg.): Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim u.a.: Duden, 1175-1256. Helbig, Gerhard; Götze, Lutz; Henrici, Gert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Bd. 19.1-2. Berlin; New York: De Gruyter. Henne, Helmut (1986): Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. Berlin; New York: De Gruyter. Heringer, Hans-Jürgen (2010): Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. 3. Aufl. Tübingen; Basel: Francke. Heringer, Hans-Jürgen (2013): Wie können Stereotype witzig sein? In: Der Deutschun- terricht 65 (4), 28-35. Huneke, Hans-Werner; Steinig, Wolfgang (2005): Deutsch als Fremdsprache. 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Frankfurt a.M.: Cornelsen Scriptor, 167-176. Spiekermann, Helmut (2010): Variation in der deutschen Sprache. In: Krumm, Hans- Jürgen et al. (Hrsg.) (2010), 343-359. Sußebach, Henning (2007): Bionade-Biedermeier. Der Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ist das Experimentierfeld des neuen Deutschlands. Doch wer nicht ins Ras- ter passt, hat es schwer im Biotop der Schönen und Kreativen. In: Die ZEIT vom 7.11.2007. Wichmann, Martin (2013): Wie lässt sich Jugendsprache in Lehrwerken ohne linguisti- sche Bedenken vermitteln? Die Beziehungen zwischen Jugendsprache, Alter und Generation und ihre didaktischen Implikationen. In: Der Deutschunterricht 65 (2), 90-93. Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen: Arbeit an diskontinuierlichen Darstellungsformen Magdalena Michalak (Erlangen/Nürnberg, Deutschland) & Beatrice Müller (Köln, Deutschland) 1 Einleitung Diagramme, Tabellen und andere diskontinuierliche Darstellungsformen sind so- wohl im Kontext des Deutschen als Fremd- als auch Zweitsprache präsent: Ihre Entschlüsselung und Interpretation fokussieren gängige Prüfungen im Bereich DaF und DaZ. In Integrationskursen gelten sie meistens als Sprech- oder Schreibanlass. In Orientierungskursen dienen sie der Vermittlung von landeskund- lichen Inhalten. Im Regelunterricht dagegen, an dem SchülerInnen mit DaZ teil- nehmen, werden Schaubilder als Lernmedium in beinahe jedem Fachunterricht eingesetzt. Da jedoch solche Repräsentationsformen sehr komplex und zugleich domänenspezifisch sind, darf nicht vorausgesetzt werden, dass der Umgang mit ihnen den Lernenden bekannt ist. Die Herausforderung besteht unter anderem darin, dass nach der Rezeption der nichtlinearen Darstellungsformen die Informa- tionen in einen kontinuierlichen Text zu transformieren und zu interpretieren sind. Magdalena Michalak & Beatrice Müller 26 Solcher Umgang mit Schaubildern erfordert gezielte Arbeit auf der sprachlichen und fachlichen Ebene. Vor diesem Hintergrund entsteht die Frage, wie man das sprachliche und fachliche Lernen mit diskontinuierlichen Repräsentationsformen in dem für DaF und DaZ relevanten Bereich der Landeskunde (Politik, Geschich- te, Geografie, Sozialwissenschaften) effektiv unterstützen kann. Wie können dabei die kulturspezifischen Lernerfahrungen der Lernenden berücksichtigt werden? In dem Beitrag wird das didaktisch-methodische Konzept der Sprach-Fach- Netze vorgestellt, das an Concept Mapping von Coffey et al. (2003) und Novak; Cañas (2006) anknüpft und in einem Projekt an der Universität zu Köln entwickelt und erprobt wird. Ausgehend von einer Analyse der Struktur und Funktion von Diagrammen wird gezeigt, welche fachlichen und sprachlichen Hürden der Um- gang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen an DaF- und DaZ-Lernende stellt. Im nächsten Schritt formulieren wir die daraus folgenden didaktischen Kon- sequenzen. Es wird erläutert, wie die Sprach-Fach-Netze zur Wissensorganisation und zur Textproduktion genutzt werden können, um zugleich die sprachlichen Ressourcen der Lernenden gezielt zu entfalten. Dabei werden die Potenziale und Herausforderungen der Vorgehensweise diskutiert. 2 Diskontinuierliche Darstellungsformen Texte sind die Grundlage für sprachliches und fachliches Lernen. Dabei werden die Inhalte anhand verschiedener Textformen (Erörterung, Exkursionsberichte, Textaufgaben, politische Reden, Gesetzestexte usw.) vermittelt und wiedergegeben, die je nach Fach variieren können. In den Texten werden nicht nur verschiedene, domänenspezifische sprachliche Mittel gebraucht, sondern auch die Aussagekraft der Texte muss kritisch betrachtet werden (z.B. in historischen Kontexten politi- sche Reden vs. private Briefe). Diese Spezifik wird bei der Textarbeit berücksich- tigt. Der Umgang mit solchen rein verbalen Formaten und die Vermittlung von geeigneten Strategien gehören zu explizit betrachteten Themen im Kontext DaF/DaZ. Nicht alle Texte, die als Lernmedium gelten oder den RezipientInnen im Alltag begegnen, sind jedoch in fortlaufender Form verfasst. Zu einem großen Anteil werden Informationen über visuelle Darstellungsformen transportiert (vgl. Moline 2012: 9). Solche Repräsentationsformen wie Schaubilder, Grafiken, Diagramme, Tabellen, Formulare, Bilder oder Karten spielen sogar eine wesentlich größere Rolle im alltäglichen Unterrichtsgeschehen. Mosenthal; Kirsch (1991: 147) weisen darauf hin, dass Erwachsene mehr Lebenszeit damit verbringen, diese sog. nichtli- nearen oder diskontinuierlichen Darstellungsformen zu rezipieren als andere Mate- rialien. Da sie allgegenwärtig sind, hängt der Berufserfolg somit nicht selten von der Fähigkeit zum Lesen von solchen Dokumenten ab. Diese Kompetenz umfasst das Rezipieren sowohl von Speisekarten und Netzplänen, als auch von Klimadar- stellungen, Bevölkerungspyramiden, Karikaturen oder Luftbildern (vgl. Huber; Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 27 Stallhofer 2010: 225). Die Lernenden sollen daher mit Informationen in verschie- denen Formaten umgehen können: Die sprachlichen AnfängerInnen müssen u.a. üben, eine Straßenkarte zu lesen, um im Alltag kommunizieren zu können; die fortgeschrittenen Lernenden sollen aber auch komplexe Grafiken erschließen und interpretieren können, um auf diese Weise Fachinhalte zu erwerben. Der Umgang mit solchen Repräsentationsformaten ist daher für Lernende auf jedem sprachli- chen Niveau sowohl im Fremdsprachenunterricht als auch im regulären Fachun- terricht relevant. 2.1 Begriffsbestimmung Nichtlineare Darstellungsformen sind „Bilder, die − etwa im Unterschied zur Kunst, zu Werbebildern, ausschließlich zum Zweck des Wissenserwerbs konstru- iert wurden“ (Weidenmann 1990: 143). Sie beinhalten sowohl textuelle als auch bildliche und grafische Elemente, die aufeinander verweisen oder sich ergänzen. Die Informationen werden also nicht primär sprachlich, sondern ikonisch u.a. durch Symbole oder Formen präsentiert. Meist sind sie in Texte eingebunden, können jedoch auch ohne Textanteil stehen (vgl. Lischeid 2012: 8). Die einzelnen Elemente sind räumlich möglichst sinnvoll angeordnet und werden häufig durch Legenden oder Signaturen ergänzt. Die Textanteile sind durch kürzere Einheiten, oft in Form von Stichworten oder elliptischen Sätzen gekennzeichnet (vgl. Haible 2011: 5). Die Kombination aus Text und Bild und die unterschiedliche Gewichtung der beiden Elemente führen dazu, dass es in der Literatur keine einheitliche Bezeich- nung für die verschiedenen Darstellungsformen gibt. So verwendet Merz-Grötsch (2006: 33) beispielsweise den Begriff des Schaubildes als Oberbegriff für alle visuali- sierenden, schematischen Darstellungen. Becker-Mrotzek; Kusch; Wehnert (2006: 27) fassen dagegen alle Diagramme und Abbildungen unter der Oberkategorie Grafik zusammen. In Abgrenzung zu realistischen Bildern wie Fotos werden Dia- gramme als logische (vgl. Schnotz 2002: 1994) oder abstrakte Bilder (vgl. Weidenmann 1990: 143) gesehen, aber auch als Texte mit textspezifischen Eigenschaften (vgl. Baumert et al. 2001). Die Bezeichnungen variieren somit je nach Schwerpunktset- zung bei ihrer Betrachtung. Schnotz (2002: 66f.) beschreibt visuelle Darstellungen von Zusammenhängen zwischen qualitativen und quantitativen Merkmalen eines Sachverhalts als eine abstraktere Form ikonischer Zeichen im Vergleich zu Bildern. Damit betont er den visuellen Anteil dieser Repräsentationsform. Der Zusammenhang zwischen der Darstellung und dem Sachverhalt basiert nicht auf Ähnlichkeiten, sondern auf Analogien und wird demzufolge ikonisch angewendet (vgl. Schnotz; Dutke 2004: 72). Im Gegensatz zu realen Bildern ist das Verhältnis von Bild und Sachverhalt bei logischen Bildern also nicht abbildhaft, sondern logisch-strukturell. Die Struk- tureigenschaften des Sachverhaltes werden grafisch umgesetzt, sodass beispielswei- Magdalena Michalak & Beatrice Müller 28 se eine zeitliche Entwicklung durch die Verbindung von Punkten, die für einzelne Ereignisse stehen, durch ein Liniendiagramm abgebildet werden kann (vgl. Becker- Mrotzek; Kusch 2007: 32f.). Diese Bildzeichen ähneln zwar dem dargestellten Sachverhalt nicht in ihrer konkreten Erschei- nungsform […], jedoch [sind sie] mit ihm auf einer abstrakteren Ebene durch gemeinsame Strukturmerkmale verbunden. (Schnotz 2002: 65) Demzufolge kann der Betrachter bei dem Versuch, eine visuelle Darstellung zu verstehen, nicht auf kognitive Schemata zurückgreifen, die der täglichen Wahr- nehmung entsprechen. Beim Textlesen ist die Leserichtung vorgegeben. Beim Anschauen eines Bildes hingegen sind weder die Abfolge noch der zentrale Startpunkt der Betrachtung festgelegt. Bilder erfordern somit eine „primär holistische Zugangsweise“ (Ehlich 2005: 59), d.h. einen ganzheitlichen Zugang. Das Bild als Einzelnes sei ein syn- chrones Objekt, seine Wahrnehmung wird jedoch in vielen Einzeleindrücken in beliebiger Reihenfolge und Synthese konstruiert (Ehlich 2005: 56). Mosenthal; Kirsch (1998: 646) stellen den verbalen Anteil visueller Darstel- lungsformen in Vordergrund. Sie fokussieren die listenartige Grundstruktur, auf die alle Diagrammarten zurückzuführen sind. Daher gebrauchen die Autoren in Abgrenzung zu linearen/kontinuierlichen Texten, die fortlaufend geschrieben und in Absätze aufgeteilt sind, den Begriff diskontinuierliche Texte. Dieses Konzept wurde auch in PISA-Studien aufgegriffen, in denen diskontinuierliche Darstellungsformen als Teil der Textkompetenz behandelt und als Bestandteil der naturwissenschaftli- chen Kompetenz deklariert werden (vgl. Baumert et al. 2001). Dies begründet sich aus der Charakteristik von diskontinuierlichen Darstellungsformen. Da die Bezeichnung der diskontinuierlichen Texte darauf hindeutet, dass es sich dabei um bestimmte Textsorten handelt, wird sie seitens der Textlinguisten kritisiert (vgl. Becker-Mrotzek; Kusch 2007: 32f.). Lineare Texte kennzeichnen sich durch Überschriften und andere Formatierungsmerkmale. Sie sind mithilfe be- stimmter sprachlicher Mittel gegliedert; durch syntaktische Verknüpfungen werden die Elemente in Bezug gesetzt. Solche Kohäsionselemente sind in diskontinuierli- chen Texten nicht vorhanden. Die textuellen Merkmale werden im Gegensatz zu kontinuierlichen Darstellungsformen nicht allein durch textuelle, sondern durch bildliche und grafische Mittel, wie Pfeile, Kreise oder Ähnliches geschaffen. So wird darauf hingewiesen, dass visuelle Darstellungsformen keine eigenständige Textsorte seien, sondern „Formen mit je eigenen Rezeptionsmodi“ (Becker- Mrotzek; Kusch 2007: 32f.). Die einzelnen Elemente, d.h. Bild, Text und Dia- gramm, sind dabei alle für sich zwar bedeutungskonstituierend. Da sie aber die Interpretation der weiteren Elemente beeinflussen, sind sie zugleich Teile eines Sachtextes (vgl. Becker-Mrotzek; Kusch 2007: 32f.). Das Konzept der visuellen Darstellungsformen als Texte im Sinne von Mo- senthal; Kirsch (1998) hat zwar für die Didaktik einen hohen Mehrwert, weil es Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 29 durch die Offenlegung der listenartigen Grundstruktur deren Analysierbarkeit erhöht. Durch die Betonung der listenförmigen Organisationsmuster wird der Blick auf deren textliche Tiefenstruktur gelenkt, was auch für die Rezeption be- wusst gemacht werden kann (vgl. Lischeid 2012: 314-320). Dennoch wird durch die Hervorhebung der textuellen Elemente der bildliche Anteil – auch im Sinne der Entfaltung von visual literacy beim Fremd-/Zweitsprachenerwerb – damit ver- nachlässigt. Demzufolge wird in dem Beitrag die Bezeichnung diskontinuierliche Darstellungsformen bevorzugt, die den Bild- wie auch den Textanteil in Grafiken und Diagrammen vereint: Das Adjektiv diskontinuierlich weist auf den unterschiedlichen Rezeptionsmodus in Abgrenzung zu linearen Texten hin; mit dem Substantiv Dar- stellungsform wird gleichzeitig die Visualität des Phänomens aufgegriffen. Die Be- zeichnung ist ferner ein Oberbegriff, der die verschiedenen Darstellungstypen zusammenfasst und somit dem Phänomen einen Namen innerhalb der Didaktik verleiht. 2.2 Ihre Funktion Diskontinuierliche Darstellungsformen fassen komplexe Sachverhalte kurz und prägnant zusammen und zugleich präsentieren sie abstrakte Zusammenhänge an- schaulich. Die Visualisierung spielt für die Rezeption eine wesentliche Rolle: So wurde festgestellt, dass bei visuellen Darstellungsformen das Organisationsmuster in Erinnerung behalten wird, welches bei einem Fließtext nicht zum Vorschein kommt. Die Organisationsstruktur hilft daher vielen SchülerInnen, die Informatio- nen abzuspeichern (vgl. Moline 2012: 10f.). Durch die visualisierte Darstellung wird die Vergleichbarkeit der Daten erhöht. Die Visualisierung trägt ebenfalls dazu bei, dass Informationen schneller fassbar und somit leichter überprüfbar erschei- nen. Diskontinuierliche Darstellungsformen ermöglichen die Konzentration von vielen Informationen auf einem relativ geringen Raum bzw. mit relativ wenig Zei- chen (vgl. Lachmayer 2008: 6, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Lan- des Nordrhein-Westfalen 2011). Diese Inhalte können in komprimierter Form entsprechend ihres inhaltlichen Kontextes genutzt, gesammelt, sortiert, interpre- tiert und weiterverwendet werden (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2011). Aus diesem Grund wird eine „lernförder- liche Wirkung“ impliziert (vgl. Lachmayer 2008: 6, Cox 1999). Des Weiteren über- nehmen sie auch die motivationale Funktion, denn durch ihren Einsatz wird die Monotonie einer rein verbalen Repräsentationsform durchbrochen. Die komprimierte Darstellungsweise kann auch zu einem Nachteil werden: Dadurch können bestimmte Aspekte verloren gehen oder an Deutlichkeit verlieren bzw. gewinnen. In einem Säulendiagramm werden beispielsweise bestimmte Kate- gorien abgegrenzt und damit auch betont, die so im Fließtext nicht benannt wer- den, obgleich hier derselbe Inhalt dargestellt wird. Die in den visualisierten Darstel- lungen enthaltenen Informationen unterscheiden sich häufig zu denen im beglei- Magdalena Michalak & Beatrice Müller 30 tenden Text. Es können mehr oder andere Informationen sein und ihre Wirkung ist meist neutraler. Dessen ungeachtet sind die Elemente der diskontinuierlichen Darstellungsformen leicht manipulierbar. Sie können auch dazu verwendet werden, den Eindruck wissenschaftlicher Fundierung zu vermitteln, der durch die zahlen- basierte Darstellung erweckt wird (vgl. Weidenmann 1988). Daher muss das kriti- sche Lesen solcher Formen im Unterricht thematisiert werden (vgl. Haible 2011: 4f., Becker-Mrotzek et al. 2006: 27). 2.3 Herausforderungen für die RezipientInnen Die Potenziale der Bild-Text-Kombination können nur unter der Prämisse genutzt werden, dass die RezipientInnen über die Fähigkeit verfügen, beide Darstellungs- formen entschlüsseln zu können. Während die Kernaussagen eines linearen Textes mithilfe verbaler Mittel explizit hervorgehoben werden, müssen diese bei nichtline- aren Repräsentationsformaten aus der Darstellungsform abgeleitet werden (vgl. Weidenmann 2004: 247f.). Eine visuelle Darstellungsform enthält zahlreiche „pik- torale Codes“ (Weidenmann 2004: 247f.), die von den HerstellerInnen des Dia- gramms oder der Grafik bewusst eingesetzt werden, um Informationen besonders komprimiert und effektiv präsentieren zu können. Die BildbetrachterInnen werden vor die Herausforderung gestellt, all diese Bildzeichen zu dekodieren, um zu einem „indikatorischen Bildverstehen“ (Weidenmann 2004: 247f.) zu gelangen, d.h. zu einem Verstehen, das über das Wahrnehmen der zu erkennenden Objekte hinaus- geht. Nicht immer sind piktorale Codes universell eindeutig, was oftmals zu einem zusätzlichen Erschweren des Verständnisses beiträgt. Die Herausforderungen, die sich aus den zentralen Merkmalen diskontinuierlicher Darstellungsformen ableiten lassen, sind demnach in erster Linie kognitiv. Es geht darum, sich das abstrahiert dargestellte Wissen konkret vorstellen zu können und die Komprimiertheit der Informationen gedanklich auszuweiten. Die BetrachterInnen eines Bildes identifi- zieren zunächst einzelne Informationen durch automatisierte visuelle Routinen und organisieren diese anschließend in übergeordnete Strukturen (vgl. Ulrich et al. 2012: 13). Diese visuelle Wahrnehmung bedeutet erst die Entstehung einer menta- len Repräsentation. „Echtes Verstehen erfordert semantische Verarbeitungspro- zesse, welche die wahrnehmungsnahe Repräsentation in ein mentales Modell über- führen“ (Ulrich et al. 2012: 13). Hierfür ist in erster Linie die Bildkompetenz (visu- al literacy) notwendig, aber auch die Fähigkeit, die Informationen der textuellen und bildlichen Elemente miteinander zu verknüpfen (vgl. Pettersson 1994, Moore; Dwyer 1994 nach Schnotz 2002: 80). Die Kombination von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Darstellungsformen kann besonders bei geringerem Vorwissen hilfreich für einen höheren Lernerfolg sein (vgl. Schnotz 2002: 80). Als nächste erforderliche Komponente sind die sprachlichen Fähigkeiten der LernerInnen zu erwähnen. Die visuell-räumlichen Relationen werden auf semanti- sche Relationen übertragen. Dabei wird auf Schemata aus dem Langzeitgedächtnis Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 31 zurückgegriffen, sodass das entstandene mentale Modell mehr Informationen um- fassen kann als die ersten Sinneseindrücke (Ulrich et al. 2012: 13). Für Fremd-/ Zweitsprachenlernende kann gerade die Verbalisierung eigener Wahrnehmung zu einer Hürde werden. Die Besprechung der diskontinuierlichen Darstellungsformen oder die eigene Textproduktion, während dessen die erschlossenen Informationen beschrieben und zu einer Interpretation in kohärenten Sätzen miteinander ver- knüpft werden müssen, um Zusammenhänge und potenzielle Folgen zu formulie- ren, können wegen nicht ausreichender Sprachkompetenzen für diese RezipientIn- nengruppe eine Herausforderung darstellen (vgl. Oleschko 2012). Die kognitiven und sprachlichen Herausforderungen von diskontinuierlichen Darstellungsformen sind eng an fachliches Wissen gekoppelt, das als eine weitere entscheidende Voraussetzung zu beachten ist, um die Inhalte in Bezug zum gesam- ten gesellschaftlichen, historischen oder politischen Kontext zu setzen. Dieses Wissen bildet die Basis, um die Zusammenhänge zu erkennen. Die neu gewonnen Informationen werden in das bereits vorhandene landeskundliche Wissen eingebet- tet. Das notwendige Vorwissen betrifft nicht nur den dargestellten Sachverhalt, sondern auch den Aufbau des Diagramms (vgl. Wagener-Mühleck 2011: 34, Be- cker-Mrotzek; Kusch 2007: 33). Hierfür ist insbesondere das mathematische Wis- sen unabdingbar. In Diagrammen werden beispielsweise statistische Werte grafisch dargestellt, die in ein kartesisches Koordinatensystem eingetragen werden. Die Zahlenangaben und Größenbeziehungen werden durch unterschiedliche Längen- und Breitenausdehnung der geometrischen Formen umgesetzt. Die LeserInnen müssen zwischen absoluten und relativen Zahlen unterscheiden sowie die Varia- blen bestimmten Elementen zuordnen können (vgl. Huber; Stallhofer 2010: 227- 232). Die Verarbeitung von visuellen Inhalten wird durch die individuelle Verarbei- tungskapazität, die bisherigen Erfahrungen mit diskontinuierlichen Darstellungs- formen und das Vorwissen der RezipientInnen beeinflusst. Entspricht die betrach- tete Darstellungsform den bisher kennengelernten Diagrammen, wird weniger Zeit für ihre Erfassung benötigt. Je umfangreicher das Vorwissen der RezipientInnen und die Vielfalt an bereits kennengelernten nichtlinearen Darstellungsformen sind, desto eher sind sie in der Lage, auch komplexe Diagramme zu interpretieren (vgl. Schnotz; Dutke 2004: 92). Diagramme werden also umso besser verstanden, je eher die LeserInnen ein geeignetes kognitives Schema abrufen können. Liegen aber solche kognitiven Schemata nicht vor, besteht die Gefahr eines zu oberflächlichen Analysierens und eines fehlerhaften Verstehens. Eine systematische Schulung be- stimmter Ableseprozesse an visuellen Darstellungsformen fördert somit eine tiefe- re Verarbeitung diskontinuierlicher Formate (vgl. Schnotz; Dutke 2004: 95). Magdalena Michalak & Beatrice Müller 32 3 Lernen mit diskontinuierlichen Darstellungsformen Diskontinuierliche Darstellungsformen prägen den Lern-Lehr-Prozess in vielerlei Hinsicht. Rosebrock; Nix (2011) sprechen von dem heute verbreiteten „Doppelsei- ten-Prinzip“, nach dem Doppelseiten in Lehrbüchern als eine Zusammenstellung von kleinen Textblöcken und grafischen sowie bildlichen Elementen fungieren. Diskontinuierliche Darstellungsformen treten in Kombination oder als Ergänzung zu kontinuierlichen Texten auf. Das Erscheinungsbild von Lehrbüchern hat sich radikal verändert, da es lange Zeit viel stärker von kontinuierlichen Texten beein- flusst wurde. Durch die Multimodalität sind die Anforderungen der vielfältigen Darstellungsformen gestiegen, gleichzeitig bringen sie an vielen Stellen jedoch auch neue Möglichkeiten (vgl. Rosebrock; Nix 2011: 89f.). Die Verknüpfung von konti- nuierlichen und diskontinuierlichen Darstellungsformen soll das Erfassen von Informationen erleichtern; die verschiedenen Formate sollen sich gegenseitig durch eine andere Visualisierung stützen (vgl. Haible 2011: 4, Prechtl 2014: 95). Wirft man einen Blick in ein zeitgemäßes Lehrwerk für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache, lässt die Flut von Abbildungen, Diagrammen und Karten vermuten, dass sich der Umgang mit Bildern und damit die Vermittlung von Bildverstehens- kompetenz (visual literacy) als zentrale Fähigkeit (nicht nur) beim Spracherwerb herauskristallisiert hat. In der Tat sehen die gängigen Sprachprüfungen im Bereich DaF/DaZ den Umgang mit Bildern als eine Schlüsselkompetenz vor. Im TestDaF gehören beispielsweise im Prüfungsteil „schriftlicher Ausdruck“ das Beschreiben von Diagrammen und Tabellen sowie deren Vergleiche zu den Prüfungszielen (vgl. Grotjahn; Kleppin 2000). In Prüfungsformaten für Zuwanderer werden diskonti- nuierliche Darstellungsformen im Handlungsfeld Mediennutzung berücksichtigt. Die PrüfungskandidatInnen sollen in der Lage sein, „kurzen Berichten in Zeitun- gen oder im Internet, die stark auf Namen, Zahlen, Überschriften und Bildern aufbauen, wichtige Informationen [zu] entnehmen“ (Perlmann-Balme et al. 2009: 33). Dabei gibt es keine thematischen Einschränkungen. Allerdings zeigt die Praxis, dass die Themenbereiche hauptsächlich landeskundliche Fragestellungen betreffen. Bilder, Diagramme oder Tabellen werden beim Sprachenlernen oft als Sprech- oder Schreibanlass genutzt. So wird in dem mündlichen Prüfungsteil auf B1- Niveau eine Grafik als Grundlage für eine Kommunikationssituation verwendet, damit die PrüfungskandidatInnen Meinungen zu dem jeweiligen Thema austau- schen und auf die Vorschläge der GesprächspartnerInnen eingehen können (vgl. Dittrich; Frey 2000: 49). Die Erkenntnisse der Grafik sollen insofern genutzt wer- den, als dass z.B. ein überraschender Aspekt der Abbildung herausgenommen und gemeinsam diskutiert wird oder ein interkultureller Bezug zum Heimatland erstellt wird (vgl. Dittrich; Frey 2000: 49). Die Fähigkeit, die Informationen den Grafiken oder Diagrammen gezielt zu entnehmen, diese zu strukturieren und argumentativ zu nutzen, wird dagegen bei der Vorbereitung auf TestDaF geschult (vgl. Grot- jahn; Kleppin 2000). Die Kompetenz, diskontinuierliche Darstellungsformen zu erschließen, steht hier zwar im Mittelpunkt; die fachlichen Inhalte bzw. ihre wis- Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 33 sensbasierte Interpretation und Kritik spielen aber in dem Zusammenhang eine geringere Rolle. Im Kontext des fachlichen Lernens gewinnt dagegen die fachliche Dimension an Bedeutung. Diskontinuierliche Darstellungsformen werden dabei in beinahe allen Unterrichtsfächern für Wissensvermittlung und -erwerb genutzt. Die Be- schreibung und Erläuterung von diskontinuierlichen Darstellungsformen meist in Form von Diagrammen werden in allen Bildungsstandards bzw. Kernlehrplänen gefordert. Im Fach Geografie ist beispielsweise der Umgang mit nichtlinearen Formaten im Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung und Methoden verankert. Die SchülerInnen sollen damit lernen, dass sich geografische Informationen in zahlreichen Quellen finden und in diversen Informationsformen/Medien (Karten, Fotos, Luft- und Satellitenbildern, Diagrammen, Statistiken, grafischen Darstellun- gen, Texten etc.) vorkommen. Dabei spielt die Karte als das spezifische Medium der Geografie eine herausragende Rolle (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geografie 2012). Die Lernenden sollen demnach geografisch relevante Mitteilungen in unter- schiedlicher Form (Text, Bild oder Grafik) einordnen und angemessen versprachli- chen können. Zugleich wird betont, dass sie die Richtigkeit der dargestellten Aus- sagen überprüfen können sollten, um auch Verzerrungen aufzudecken. Insbeson- dere das Interpretieren von Diagrammen gilt als Kulturtechnik, durch die Schüle- rInnen befähigt werden sollen „im gegenwärtigen und zukünftigen Leben Informa- tionen aus Massenmedien und aus amtlichen Berichten von Behörden und Ver- bänden zu entnehmen“ (Rinschede 2003: 342). Beim fachlichen Lernen übernehmen diskontinuierliche Darstellungsformen daher drei Funktionen. In erster Linie dienen sie der Erkenntnisgewinnung. Sie werden als Quelle genutzt, die die Lernenden erschließen müssen. Mit ihrer Hilfe werden Daten präsentiert und ausgewertet. Als Quellenmaterial liefern sie bei- spielsweise im Geografieunterricht Informationen über Lagebedingungen, die phy- sische und anthropogene Ausstattung, die räumliche Vernetzung, raumrelevante Aktivitäten der BewohnerInnen, wie auch deren Selbst- und Fremdwahrnehmung (vgl. Haubrich 2001: 4f.). Zudem dienen sie als Belege verbaler Behauptungen, die von den Lernenden in ihren argumentativen Texten genutzt werden können (vgl. Pohl 2004: 192). Die in den visuellen Darstellungen enthaltenen Informationen müssen verknüpft und auch in andere Darstellungsformen überführt werden kön- nen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geografie e.V. (DGfG) 2012: 19-22). Daher werden nichtlineare Repräsentationsformen als Zwischenschritt zu einem kontinu- ierlichen Text angewendet, der auf den erschlossenen Inhalten basieren sollte. Schließlich werden sie als Produkt nach der Lektüre und nach der Verarbeitung von Informationen gefordert. In den drei Fällen ist ein Transfer der Inhalte von einer diskontinuierlichen in eine kontinuierliche Darstellungsform oder umgekehrt erforderlich. Magdalena Michalak & Beatrice Müller 34 4 Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die diskontinuierliche Darstellungs- formen an RezipientInnen in schulischen Lernsituationen stellen, interessiert die Frage, wie sie mit solchen Formaten fachlich-methodisch und sprachlich umgehen. Ausgehend von der Annahme, dass das Verstehen von Diagrammen erst durch die Übertragung in semantische Relationen erfolgt (vgl. Ulrich et al. 2012: 13), wurden verschriftlichte Beschreibungen eines Balkendiagramms untersucht. Hierfür wur- den in einer explorativ-qualitativen Pilotstudie insgesamt 285 Texte von Siebtkläss- lerInnen der Haupt- und Realschulen im Raum Köln erhoben (n=95). 47 Proban- tInnen lernen Deutsch als Zweitsprache, 48 SchülerInnen benutzen Deutsch als Erstsprache. Durch das Alter der Lernenden soll gewährleistet werden, dass ihnen diskontinuierliche Darstellungsformen aus dem schulischen Kontext schon be- kannt sind. Zusätzlich wurden die allgemeinen sprachlichen Kompetenzen aller SchülerInnen mithilfe eines standardisierten C-Tests erhoben. Die Ergebnisse des C-Tests reichen von 18 als der niedrigste erreichte Wert, bis hin zu 100 erreichten Punkten, was die höchstmögliche Punktzahl beim C-Test darstellt. Der Mittelwert bei Jungen mit DaM liegt bei 87 Punkten, bei Jungen mit DaZ bei 75 Punkten. Die Mädchen mit DaM erreichten im Durchschnitt 91 Punkte, bei Mädchen mit DaZ beträgt dagegen der Mittelwert 74 Punkte. Die Unterschiede im C-Test bei Schüle- rInnen mit DaZ und DaM erweisen sich als signifikant (p=0,000). Jeder Lernende verschriftlichte jeweils drei Texte, in denen – je nach Aufga- benstellung – unterschiedliche AdressatInnen (ohne Verweis auf den Adressaten, ein Lehrer sowie ein Schüler als Empfänger, die die Statistik nicht kennen) berück- sichtigt werden sollten. Als Grundlage für die Beschreibung diente das Diagramm zum Thema Freizeitgestaltung von NeuntklässlerInnen, das dem Lehrwerk Prima (Niveau B1) entnommen wurde (s. Abb. 1). Damit wurde eine Darstellung gewählt, die sprachlich keine große Herausforderung im Regelunterricht sein sollte und zugleich kein spezifisches fachliches Wissen erfordert. Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 35 Abb. 1: Freizeitgestaltung von NeuntklässlerInnen (Jin; Michalak; Rohrmann 2012: 89) Bei der Analyse der Schülertexte wurde betrachtet, welche fachlich-methodischen Aspekte mithilfe von welchen sprachlichen Mitteln die SchülerInnen auf vier Ebe- nen berücksichtigen. Die vier fokussierten Phasen wurden dabei von den curricula- ren Anforderungen beim Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen im Kontext des fachlichen Lernens abgeleitet: Erste Orientierung: Wie werden die Rahmendaten wie beispielsweise Titel, Quelle, Ort und Zeit der Erhebung aus dem Diagramm wiedergegeben? 1. Beschreibung: Welche Informationen werden genannt? Inwiefern wer- den alle Variablen und Zahlen berücksichtigt? 2. Erklärung: Inwiefern wird auf Gründe, Ursachen und Folgen der dar- gestellten Informationen eingegangen? Wie werden zusätzliche Kon- textsituationen genutzt? 3. Beurteilung und Bewertung: Mit welchen Mitteln werden das Dia- gramm selbst sowie die dargestellten Inhalte bewertet? Die Untersuchung hat Hürden bei der Beschreibung des Diagramms auf allen Ebenen aufgezeigt (s. exemplarisch Abb. 2). Bei methodisch-fachlichen Aspekten konnten kaum Unterschiede zwischen SchülerInnen mit DaZ und DaM festgestellt werden. Die erste Phase wird nur in 10% der Texte berücksichtigt. In den meisten Verschriftlichungen wird lediglich das Thema des Diagramms genannt. Die Infor- mationsquelle oder die Diagrammform sowie nähere Angaben zu der Erhebung (Ort, Zeit und Einheiten) treten in keinem der Texte auf. In den Texten, in denen die erste Phase beachtet wurde, wurden allerdings mehrere der genannten Elemen- Magdalena Michalak & Beatrice Müller 36 te mit einbezogen. In allen Texten überwiegt die Ebene der Beschreibung. Dabei orientieren sich die SchülerInnen sehr stark an dem Diagramm. Sie beschreiben alle Balken in derselben Reihenfolge, in der sie in dem Diagramm erscheinen. Die Inhalte werden kaum abstrahierend dargestellt. Regelhaftigkeiten oder Gemein- samkeiten werden nicht erwähnt; es werden keine Auffälligkeiten aufgedeckt. Die Angaben werden insgesamt nicht in Beziehung gesetzt. Nur in einzelnen Texten kommen Hinweise auf Maxima und Minima vor. In einigen Texten wird die Be- schreibung als eine Zusammenfassung in kurzen Sätzen angeboten. Die dritte Ebene kommt in den Schülertexten sehr selten vor. Falls auf diese Phase eingegan- gen wird, wird die Erklärung ersatzweise für die Beschreibung des Diagramms vorgenommen. Hier tritt eine fachliche Schwierigkeit auf: Die Erklärung des Dia- gramms erfolgt assoziativ, wobei sich die SchülerInnen ausschließlich auf eigene Erfahrungen beziehen. Es werden eigene Meinungen ohne Belege aufgeführt. Abb. 2: Ein beispielhafter Schülertext Die fachlich-methodischen Schwierigkeiten hängen mit den sprachlichen Hürden eng zusammen. Auch bei den sprachlichen Ausformulierungen orientieren sich die Lernenden stark an dem Diagramm und übernehmen überwiegend direkt Ausdrü- cke, die in der Darstellung vorkommen. Diese Bezeichnungen werden in nominali- sierter Form angewendet (z.B. ‚Bücher lesen tun‘, s. Abb. 2). Die Ebene der Be- schreibung kennzeichnet sich durch häufige Wiederholungen und kaum Variatio- nen bei der Anwendung sprachlicher Mittel aus. Die SchülerInnen greifen auf kon- zeptionell mündlich geprägte Formulierungen zurück (z.B. gucken) und verwenden häufig Passepartout-Wörter (‚machen‘, ‚haben‘, ‚sein‘). Besonderheiten und ein Vergleich mit dazugehörigen Konjunktionen sind in den Texten nicht zu finden. Es überwiegen parataktische Satzverbindungen; als Kohäsionsmittel wird die Kon- junktion ‚und‘ eingesetzt. Die Gegenüberstellung der Ergebnisse bei Mädchen und Jungen wird vorwiegend mit dem Adverb ‚dagegen‘ betont. Die ungesteuerte Be- trachtungsweise ist auch hier sichtbar: Die einfachen Satzkonstruktionen werden ebenfalls durch das Diagramm geleitet. Die lineare Bearbeitung der Aufgaben im Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 37 Sinne einer starken Orientierung an der Reihenfolge in der visuellen Darstellung, ähnelt daher der Vorgehensweise bei kontinuierlichen Texten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich fachlich-methodische und sprachliche Aspekte gegenseitig bedingen. Zudem ergibt die Untersuchung, dass die hier beschriebenen Schwierigkeiten der SchülerInnen in beiden Dimensionen unabhängig von ihrer allgemeinen Sprachkompetenz vorkommen. Obwohl die C-Test-Werte beim Ver- gleich zwischen Lernenden mit DaZ und DaM signifikante Unterschiede aufwei- sen, haben diese keinen bedeutsamen Einfluss auf die Qualität der Texte. Für die didaktische Umsetzung folgt daraus, dass alle SchülerInnen an das Re- zipieren von Diagrammen herangeführt werden müssen. Eine Analysehilfe für diskontinuierliche Darstellungsformen bedarf dabei sprachlicher und fachlich- methodischer Elemente. Es ist darauf zu achten, dass die verschiedenen Formate die Anwendung unterschiedlicher Strategien erfordert. Das bedeutet, dass durch die andersartige Struktur der linearen und diskontinuierlichen Darstellungsfor- men die LeserIn unterschiedlich vorgehen muss. Die üblichen Lesestrategien können daher nicht einfach auf diskontinuierliche Darstellungsformen übertra- gen werden (vgl. auch OECD 2001: 44f.). 5 Didaktischer Ansatz: Sprach-Fach-Netze Die Förderung des Umgangs mit diskontinuierlichen Darstellungsformen ist in erster Linie im Rahmen der Förderung der visual literacy von großem Belang. Bis zu einem gewissen Grad entwickelt sich die Bildverstehenskompetenz durch den alltäglichen Umgang mit visuellen Darstellungen. Um mit komplexen visuellen Darstellungsformen gekonnt umzugehen, müssen diese Fähigkeiten bewusst trai- niert werden. Weidenmann (2004: 7) bemängelt, dass dies im Unterricht nicht der Fall sei: Bilder seien „anfällig“ für den „flüchtigen Blick“ (Weidenmann 2004: 7). Daher werden visuelle Darstellungsformen allgemein nur nebenbei und flüchtig behandelt, was dazu beiträgt, dass sich SchülerInnen selten bis nie intensiv mit dem Bildmaterial auseinandersetzen und nicht lernen, es zu verstehen. Des Weiteren spielt der Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen für die gesamte Lesekompetenz eine wesentliche Rolle, da die Kompetenzerwar- tungen für die allgemeine Lesekompetenz das „Verstehen von multiplen Darstel- lungen in schriftlichen Dokumenten, die Texte, Bilder, Diagramme, Tabellen oder andere Arten externer Repräsentationen enthalten können“ (Schnotz et al. 2001: 63) mit einbeziehen. Interessanterweise zeigt sich in der PISA-Studie 2009, dass in den Staaten, in denen die Lesekompetenz allgemein hoch ausgeprägt ist, die Schü- lerInnen meist über eine (noch) höher ausgeprägte Lesekompetenz im Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen verfügen. Anders sehen die Erkenntnisse in Ländern mit niedriger durchschnittlicher Lesekompetenz aus: Hier ist die Lese- kompetenz beim Umgang mit kontinuierlichen Texten höher ausgeprägt (vgl. Naumann et al. 2010: 41). Magdalena Michalak & Beatrice Müller 38 Für das fachliche Lernen unter Berücksichtigung der Spezifik der Fachsprachen benötigen die SchülerInnen ebenfalls eine gezielte Unterstützung bei der Arbeit mit diskontinuierlichen Repräsentationsformen. Hierbei benötigen sie ausreichen- des Vorwissen über den dargestellten Sachverhalt als auch über den Aufbau der Diagramme (vgl. Wagener-Mühleck 2011: 34, Becker-Mrotzek; Kusch 2007: 33). Ferner ist die Sprachebene von Relevanz. Auch bei ausreichendem Vorwissen zu Aufbau und Thematik durch den bis dahin erfolgten Unterricht kann der Ein- satz von Diagrammen oder anderen diskontinuierlichen Darstellungsformen schei- tern, wenn den SchülerInnen die entsprechenden sprachlichen Mittel fehlen, um die Erkenntnisse angemessen versprachlichen zu können. Ohne ausreichende Sprachkompetenz ist insbesondere die schriftliche Auswertung der Diagramme nicht möglich (vgl. Oleschko 2012: 12). Praktische Ansätze für den Umgang mit Grafiken sind insbesondere im Kon- text DaF/DaZ in den Lehrwerken zu finden. In denen werden sprachliche Mittel zusammengestellt, die hauptsächlich die zusammenfassende Beschreibung eines Diagramms unterstützen. Diese schließen jedoch das tiefergehende fachlich orien- tierte Verständnis von diskontinuierlichen Darstellungsformen nicht ein. Auch eine empirische Überprüfung der angebotenen Modelle fehlt gänzlich. Im Kontext des sprachbewussten Unterrichts sind einige Vorschläge zu finden, die jedoch auch aus der Praxis kommen (vgl. Niederhaus 2011, Oleschko 2012); trotzdem bleibt die empirisch fundierte Förderung des Umgangs mit diskontinuierlichen Darstellungs- formen ein Forschungsdesiderat. 5.1 Theoretische Grundlagen der Sprach-Fach-Netze Für die didaktische Umsetzung bedeutet der oben skizzierte Rahmen, dass die Lernenden eine Unterstützung benötigen, die zu einer gesteuerten Betrachtungs- weise, zur Einbettung in vorhandene Wissensbestände und damit zum Verständnis des in einem Diagramm dargestellten Phänomens beiträgt. Die Erkenntnisse unse- rer Studie belegen, dass den Lernenden mögliche Transferhilfen von einer diskon- tinuierlichen zu einer kontinuierlichen Darstellungsform geliefert werden müssen. Zugleich sollen den SchülerInnen sprachliche Hilfen für eine treppenförmige Ana- lysehilfe angeboten werden. Basierend auf dem Ansatz der Concept-Maps (vgl. Cañas et al. 2005, Novak; Cañas 2006, Haugwitz; Sandmann 2009, Freimann; Schlieker 2009), die insbeson- dere in naturwissenschaftlichen Fächern für die Entschlüsselung von linearen Tex- ten eingesetzt werden, wird das Konzept der Sprach-Fach-Netze für den Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen entwickelt. Die Concept-Map dient während des Erstellungsprozesses der Organisation von Wissen oder Phänomenen und veranschaulicht Elemente, Beziehungen und Hierarchien des Dargestellten. Innerhalb einer Concept-Map können verschiedene Systeme und intersystemische Beziehungen auf verschiedenen Ebenen visualisiert werden. Dabei wird das Prin- Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 39 zip der Verarbeitung von neu aufgenommenem Wissen im Gehirn genutzt: Es wird an bereits Bekanntes gekoppelt, dadurch strukturiert und organisiert. Die Methode hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, wenn es darum geht, komplexe Inhalte ins Langzeitgedächtnis zu verlagern (vgl. Novak; Cañas 2006: 2). Das Kon- zept der Sprach-Fach-Netze knüpft auch an Ansätze aus der Sprachdidaktik zur Visualisierung von Inhalten u.a. von Rico (1984), Hallet (2008) oder Berkemeier (2009) an. Die Annahme ist, dass ein stark strukturierter Zwischenschritt nach der Rezep- tion einer diskontinuierlichen Darstellungsform die anschließende Produktion von Texten erleichtert. Als dieser Zwischenschritt gelten die Sprach-Fach-Netze, d.h. eine selbst erarbeitete Visualisierung aller Diagramminhalte in ihrer Komplexität auf einen Blick und die Darstellung der Relationen untereinander mithilfe von Linien und Pfeilen. Überdies können durch die Darstellung Hierarchien und Ab- hängigkeiten der Elemente zueinander visualisiert und sprachlich vorformuliert werden. Denn in einem Sprach-Fach-Netz wird die fachlich-methodische Map durch sprachliche Hilfen unterstützt. Je nach Erarbeitung kann der kommunikative Aspekt in die Formulierung von sprachlichen Hilfen einfließen und die Analyse verbessern. Durch die Fokussierung und das Verständnis für die Struktur und den Aufbau der grafischen Darstellung wird der Vorgang der Informationsentnahme verein- facht. Relevante Informationen können aufgrund der Fülle an komprimierten In- formationen und nicht vorhandenen Instruktionen leicht übersehen werden. Als erster Schritt ist es demzufolge notwendig, LernerInnen über zentrale Symbole und Darstellungsformen, die Relevantes von Unwesentlichem unterscheiden, aufzuklä- ren. Durch die Betrachtung der Formen in grafischen Abbildungen wie Hervorhe- bungen, Pfeile und Symbole können die RezipientInnen schnell wesentliche In- formationen selektieren (vgl. Berkemeier 2009: 159). Weidenmann (2004) schlägt vor, die Betrachtungsweise der visuellen Darstel- lungsformen mit „instruktiven Lesehilfen“ (Weidenmann 2004: 249) zu unterstüt- zen. Dies betrifft besonders die Gestaltung des Bildes durch Hervorhebung der informativen Bildelemente, das Anzeigen der Reihenfolge der Bildrezeption oder die Markierung der Hauptaussagen im Bild. Da Diagramme selbst in den seltensten Fällen solche Lesehilfen aufweisen, ist es erforderlich, LernerInnen konkrete Ar- beitsanweisungen im Umgang mit Grafiken anzubieten. Auf diese Weise wird ihnen Hilfe geboten, diese Elemente nachträglich und selbstständig in den Verar- beitungsprozess einzugliedern. Konkret wäre dies zu realisieren, indem man den RezipientInnen gezielte Instruktionen erteilt, z.B. in Form von Fragen zum Dia- gramm, um den Wahrnehmungsvorgang gezielt zu steuern. So wird den Rezipien- tInnen eine Diagrammanalysehilfe zur Verfügung gestellt, die den Prozess der Grafikbeschreibung in vier Schritte gliedert und zu jedem Analyseschritt konkrete Leitfragen sowie Formulierungshilfen für Antworten bereitstellt (s. Abb. 3). Das sprachliche Material in Form von Satzanfängen erlaubt eine Musterorientierung, Magdalena Michalak & Beatrice Müller 40 von der insbesondere sprachlich schwächere Lernende profitieren (vgl. Michalak 2013). Anschließend werden diese schriftlichen Ergebnisse in einem Sprach-Fach- Netz festgehalten. Die Phasen der Diagramm-Analyse stellen dabei die Haupt- zweige der Concept-Maps dar. Abb. 3: Analysegerüst für Diagramme 5.2 Arbeit mit Sprach-Fach-Netzen Die Arbeit an diskontinuierlichen Darstellungsformen erfolgt in diesem Modell in drei Schritten: 1. Analyse mithilfe von Leitfragen, 2. Erstellung eines Sprach-Fach-Netzes, 3. Mündliche oder schriftliche Zusammenstellung der Ergebnisse. In einem ersten Schritt wird das Diagramm auf vier Ebenen analysiert (s. Abb. 3). Das Analysegerüst beinhaltet Leitfragen (hell unterlegt), die sowohl an die jeweilige Darstellungsform als auch an das sprachliche und fachliche Wissen der Lernenden anzupassen sind. Das Modell umfasst nicht nur die standardisierten Fragen, die anhand der in den fachlichen Bildungsstandards formulierten Kompetenzerwar- tungen entwickelt wurden, sondern bietet auch sprachliche Unterstützungen (dun- kel unterlegt) an. Die erste Ebene gilt der allgemeinen Orientierung, um die Rah- mendaten des Diagramms zu dokumentieren. Fokussiert werden die Thematik, die Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 41 Quelle der Darstellungsform, die Legende sowie die Informationen zum Erhe- bungsort und -zeitpunkt. Auch die Grundform des Diagramms und die verwende- ten Einheiten stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, um den Zusammenhang der Strukturen wahrzunehmen. In der anschließenden Phase der Beschreibung werden die in dem Diagramm enthaltenen Informationen genauer betrachtet. Hierbei wer- den die maximalen und minimalen Werte sowie (Un-)Regelmäßigkeiten beschrie- ben. Dabei handelt es sich um reine Wiedergabe der Inhalte und nicht um deren Interpretation. Auf der folgenden Ebene der Erklärung werden mögliche Gründe, Ursachen und Folgen der dargestellten Sachverhalte erläutert. Für die Erklärung der dargestellten Daten sind Informationen heranzuziehen, die über die im Dia- gramm abgebildeten Informationen hinausgehen. So ist eine Einbettung in ein breiteres Vorwissen erforderlich. Die Phasen der Beschreibung und der Erklärung sind eng miteinander verknüpft und stellen an die Lernenden höhere sprachliche und fachliche Anforderungen als die Ebene der ersten Orientierung. In der Phase der Beurteilung und Bewertung wird zum einen das Diagramm kritisch betrachtet. Zum anderen sollen hier die dargestellten Informationen bewertet werden. Diese letzte Phase, die besonders anspruchsvoll ist, kann nur mithilfe der vorangegangen Phasen bewältigt werden. Eine Bewertung bzw. Beurteilung der Quelle fußt be- sonders auf den in der 1. Phase gewonnen Angaben sowie auf fachlichem Wissen der RezipientInnen. Die Beurteilung und Bewertung der Inhalte des Diagramms ist dagegen ausschließlich nach genauer Beschreibung (2. Phase) und ihrer Analyse (3. Phase) durchzuführen. Eine detaillierte Analyse des Diagramms fordert neben der Bearbeitung der verschiedenen Phasen eine Verknüpfung der Phasen untereinan- der. Besonders anschaulich wird es in den Verbindungen zwischen der 2. und der 3. Phase. Die Erstellung eines Sprach-Fach-Netzes soll dabei in einem aktiven Austausch münden. Daher bietet sich an, hierbei in Partner- oder Gruppenarbeit die Aufgabe zu bewältigen, um auf diese Weise auf Argumente des GesprächspartnerInnen eingehen und durch gegenseitige Erläuterungen das Thema besser durchdringen zu können. Das Sprach-Fach-Netz dient anschließend einer Präsentation der eigenen Erschließung der Inhalte sowie als Grundlage für die Verschriftlichung eigener Ergebnisse. 6 Erprobung der Sprach-Fach-Netze Im Folgenden wird am Beispiel eines Balkendiagramms gezeigt, welche Herausfor- derungen die Darstellungsform an die Lernenden stellt. Exemplarisch wird hierbei ein Sprach-Fach-Netz präsentiert. Anschließend werden die Ergebnisse der bishe- rigen Erprobung des Modells diskutiert. Magdalena Michalak & Beatrice Müller 42 6.1 Herausforderungen bei der Diagrammanalyse Das Balkendiagramm mit dem Titel „Einschulungen in allgemeinbildende Schu- len“ stellt die Verteilung der Einschulung für die Schuljahre 2012/13 und 2013/14 auf Grundschulen, Integrierte Gesamtschulen, Freie Waldorfschulen und Förder- schulen dar (s. Abb. 4). Die zugrunde liegenden Daten stammen vom statistischen Bundesamt aus dem Jahre 2014. Die Herausforderungen bei der Rezeption der Grafik werden entsprechend der methodischen, fachlichen und sprachlichen Di- mension ausgeführt. Abb. 4: Beispieldiagramm zu Einschulungen in allgemeinbildenden Schulen Die beiden Balken der Schuljahre geben keine Aussage über die Gesamtanzahl der Einschulungen. Dies umfassen nur die Zahlen vor den Balken. So fanden im Schuljahr 2013/14 689.684 Einschulungen in allen allgemeinbildenden Schulen statt. Die Balken beginnen nicht bei null, weshalb zu den Einschulungen in eine Grundschule 630.000 SchülerInnen zu der abgebildeten Zahl dazugerechnet wer- den müssen. Demzufolge wurden im Schuljahr 2013/14 ca. 650.250 SchülerInnen in eine Grundschule eingeschult, während in eine Förderschule ca. 20.250 Schüle- rInnen aufgenommen wurden. Die Schwierigkeit bei der Rezeption besteht darin, dass die Balkenabschnitte für Grundschule und Förderschule ungefähr gleich lang sind, jedoch unterschiedliche Anfangswerte für die jeweilige Schulform angeben, was im Fuß des Diagramms markiert ist. Die Zuordnung der unterschiedlichen Farbschattierung zu den Balkenabschnit- ten und damit zu den absoluten Zahlen ist sonst unproblematisch und wird durch die gleiche Reihenfolge in der Legende unterstützt. Die Datenbeschriftung ist für die Anzahl der Einschulungen in Diagrammkopf und -fuß geteilt und muss zu- sammengeführt werden. Die Beschriftung des Schuljahres wird durch die Gesamt- anzahl grafisch unterbrochen und muss übergreifend gelesen werden. Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 43 Fachlich verlangt die Grafik Wissen über das deutsche Schulsystem und die ver- schiedenen Schulformen. Die Schwierigkeit des Balkenabschnittes der Grundschu- len kann durch das Fachwissen, dass Grundschulen die häufigste gewählte Schul- form sind, abgefedert werden. Insgesamt sind ähnliche Gesamtanzahlen für Ein- schulungen beider Schuljahre zu erkennen und abgesehen von der Integrierten Gesamtschule gibt es in der Verteilung der Einschulung kaum Unterschiede in den verschiedenen Schulformen. Während im Schuljahr 2012/13 rund 655.000 Schüle- rInnen in die Grundschule kamen, waren es 2013/14 ca. 652.000. Die zweithäu- figste Schulform ist in beiden Schuljahren die Förderschule mit ca. 20.000 Schüle- rInnen pro Schuljahr. Die Freie Waldorfschule wurde mit ca. 5.000 Einschulungen im Schuljahr 2012/13 genauso häufig wie die Integrierte Gesamtschule gewählt, wohingegen diese im folgenden Schuljahr einen leichten Zuwachs auf ca. 80.000 Einschulungen zum überwiegenden Nachteil von Grundschulen zu verzeichnen hat. Eine Veränderung der Einschulungs- und Verteilungszahlen ist sehr gering und lässt keine schlussfolgernden Prognosen allein mit dem Wissen aus der Grafik zu. Hierfür ist das Wissen über den demografischen Wandel ausschlaggebend. Berücksichtigt man die Geburtenentwicklung in den Jahren 2006-2009 und die Entwicklung der Anzahl der Frauen im geburtsfähigen Alter für diesen und fol- genden Zeitraum, ist es möglich, die Daten genauer auszuwerten. Dieses fachliche bzw. geografische Wissen ermöglicht Aussagen über die gleichbleibende Einschu- lungsanzahl der beiden Schuljahre, aber auch die Prognose für eine Verminderung der gesamten Einschulungsanzahlen aufgrund der geringer werdenden Anzahl der Frauen im geburtsfähigen Alter für folgende Jahre. Zur Erläuterung der Verteilung auf die verschiedenen Schulformen ist ebenfalls das Wissen über die soziodemo- grafische Entwicklung und deren Einfluss auf die Wahl der Schulformen von Be- deutung. Die Diagrammauswertung über die Beschreibung der Schuljahre 2012/13 und 2013/14 hinaus ist somit nur mit fachlichem Wissen, das nicht im Diagramm enthalten ist, möglich. Sprachlich stellt die Rezeption des Diagramms keine besonderen Herausforde- rungen dar. Die Begriffsklärung der verschiedenen Schulformen und des Begriffs allgemeinbildende Schulformen kann dem fachlichen Wissen zugeordnet werden. Es bestehen keine syntaktischen oder textuellen Herausforderungen. Die Schwie- rigkeiten der sprachlichen Dimensionen werden vor allem beim Verknüpfen der Information in der Beschreibung und Auswertung des Diagrammes auftreten. Die vergleichende Beschreibung der unterschiedlichen Balkenabschnitte besonders des Balkenabschnitts der Grundschule im Vergleich zu den anderen Schulformen stellt eine sprachliche Herausforderung auf der Beschreibungsebene dar. Das Verbinden der Informationen aus dem Diagramm (methodische Dimension) mit zusätzlichem geografischem Wissen (fachliche Dimension) bildet eine besondere sprachliche Herausforderung. Aus diesem Grund verlangt eine umfassende Beschreibung und Analyse des Diagramms zwangsläufig methodische, fachliche und sprachliche As- pekte. Ein mehrdimensionaler Ansatz zur Unterstützung der Beschreibung und Magdalena Michalak & Beatrice Müller 44 Auswertung von Diagrammen wie das Sprach-Fach-Netz ist also wesentlich für eine erfolgreiche Analyse. Exemplarisches Sprach-Fach-Netz Betrachtet man das exemplarische Sprach-Fach-Netz (s. Abb. 5), ist eine genaue Strukturierung der Analyse erkennbar. Neben den vier Phasen des oben beschrie- benen Analysegerüsts mit sprachlichen Hilfen wurde eine Verbindung zwischen den verschiedenen Phasen eingetragen. Diese grafische Besonderheit unterstützt die zusammenhängende Analyse des Diagramms. Das Beispiel zeigt eine Verknüp- fung der 2. und 4. Phase bezüglich der Zahlenangaben und der Relation zwischen den einzelnen Schulen. Auch durch die individuelle visuelle Aufbereitung der Ana- lyseergebnisse werden der Vorteil des Sprach-Fach-Netzes im Vergleich zur einfa- chen Beantwortung der Fragen sowie die Notwendigkeit von sprachlichen Aspek- ten als wesentlicher Bestandteil eines Sprach-Fach-Netzes sichtbar. Die sprachli- chen Hilfen werden insbesondere im letzten Schritt der Arbeit mit diesem didakti- schen Modell, d.h. bei der Erfassung von Ergebnissen, genutzt. Abb. 5: Exemplarisches Sprach-Fach-Netz Das Beispiel (s. Abb. 5) zeigt, dass insbesondere die erste, zweite und die vierte Phase von den RezipientInnen ausführlich erarbeitet wurden. Es scheint, dass die Lernenden (hier: im Fach Deutsch) insbesondere an der Schnittstelle, wo das fach- Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 45 liche Wissen eine ausschlaggebende Rolle spielt (Phase der Erklärung), mehr Un- terstützung benötigen. Hierfür zeigt sich, dass die formulierten Fragen stark auf das jeweilige Diagramm zuzuschneiden sind, um den RezipientInnen eine ange- messene Hilfestellung anzubieten und damit breitere Verknüpfungen mit fachli- chem Wissen zu ermöglichen. 6.2 Diskussion bisheriger Erkenntnisse Die bisherige Erprobung des Modells erfolgte unter Deutsch- sowie Geografiestu- dentInnen in der LehrerInnenausbildung an der Universität zu Köln sowie in DaZ-Integrationskursen für Jugendliche, die sich auf die DTZ-Prüfung vorberei- ten. Um den Ansatz weiterzuentwickeln, beurteilten die drei Probandengruppen den Umgang mit dem Modell der Sprach-Fach-Netze anhand verschiedener Dia- gramme. Es zeichnet sich eine unterstützende Wirkung des Analysegerüsts in der fachlichen bzw. methodischen Dimension für alle Diagramme ab. Besonders für die Analyse von komplexen Diagrammen erweist sich das Sprach-Fach-Netz den bloßen Fragen auf den vier genannten Ebenen überlegen. Die Fragen werden von den RezipientInnen als eine Matrix betrachtet, die das Aufschreiben von Stich- punkten lenken und den roten Faden der Betrachtung einer Grafik vorgeben. Die Beziehungen der einzelnen Aspekte über die Beschreibung hinaus werden aber erst in den Sprach-Fach-Netzen als auch in den nachfolgenden Texten durch die indi- viduelle Visualisierung erkennbar. Die sprachlichen Unterstützungen zeigen be- sonders in der kommunikativen Ausarbeitung beim Erstellen des Sprach-Fach- Netzes Erfolge, die sich positiv auf die Analysetiefe des Textes auswirken. So wird der Austausch in Gruppenarbeit bei der Bewältigung dieser Aufgabe von allen Probanden als sehr effektiv eingeschätzt. Bei der Auseinandersetzung mit den Sprach-Fach-Netzen erweist sich jedoch als schwierig, allgemeingültige Fragen zusammenzustellen, die für alle diskontinu- ierlichen Darstellungsformen sowie alle Zielgruppen gültig wären. Dies ist zum einen dadurch beeinträchtigt, dass es durch eine große Vielfalt an Diagrammen und ihren Mischformen, die auch inhaltlich sehr stark variieren, beinahe unmöglich ist, einen allgemeingültigen Fragenkatalog zu entwickeln. Zum anderen spielen hier die sprachlichen Fähigkeiten sowie die zu erzielenden fachlichen Kompetenzen eine Rolle beim Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen. So ist es beispielsweise notwendig, in der Arbeit mit Lernenden mit geringeren Deutsch- kenntnissen den Fragekatalog an ihr sprachliches Vorwissen anzugleichen. Da in Sprachkursen die Einbettung in fachliche Kontexte eine geringere Rolle spielt, ist auch hier erforderlich, den fachlichen Aspekt an die zu erreichenden Kompe- tenzerwartungen anzupassen. Bei den DaZ-Lernenden als Probandengruppe, die sich auf die DTZ-Prüfung vorbereiteten, erfolgte eine Orientierung an den Anfor- Magdalena Michalak & Beatrice Müller 46 derungen der genannten Prüfung.1 So wurden die Lernenden z.B. auf der Ebene der Erklärung dazu aufgefordert, einen kulturellen Vergleich (Bezug zum Heimat- land) zu berücksichtigen. Auch die letzte Phase musste reduziert werden, indem die kritische Beurteilung der RezipientInnen auf überraschende, im Diagramm enthaltene Informationen eingeschränkt war. Auch die Fragen und die sprachli- chen Hilfen mussten hier eindeutiger und konkreter formuliert werden. Sie sind an die Form und die Inhalte des Diagramms anzupassen. Weder fachsprachliche Formulierungen (z.B. Welche Variablen werden angezeigt?/Welche Gesetzmäßig- keiten gibt es?) noch allgemeine, auch zu abstrakte Formulierungen (z.B. Was ist der höchste Wert?) sind für DaZ-Lernende mit geringeren Sprachkenntnissen ge- eignet. Auf dem Niveau B1 mussten diese Fragen durch konkrete Formulierungen ersetzt werden, die sich auf das betrachtete Diagramm bezogen (z.B. Aus welchen Ländern kommen die meisten Personen?). Die möglichen Antworten müssen dementsprechend vorgegeben sein. Des Weiteren erweisen sich die sprachlichen Bausteine bei Personen mit geringeren Deutschkenntnissen als sehr hilfreich. Eini- ge sprachlich versierte Lernende empfinden die vorgegebenen sprachlichen Mittel als eine Einengung und bevorzugen die Analyse ausschließlich mit den Leitfragen. 7 Ausblick Mit diskontinuierlichen Darstellungsformen werden Lernende des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache in allen Alters- und Niveaustufen konfrontiert. Für die Rezeption solcher Formate ist jedoch breites fachlich-methodisches und sprachli- ches Wissen notwendig. Die Kompetenz, mit solchen Repräsentationsformen angemessen umzugehen, darf daher nicht vorausgesetzt werden, sondern muss geschult und gefördert werden. Dabei ist zu beachten, dass diskontinuierliche Dar- stellungsformen in Bezug auf die Form und die Inhalte domänenspezifisch und komplex sein können. Ihre Bearbeitung kann sich daher nicht auf ein einheitliches Werkzeug beschränken, sondern erfordert eine viel flexiblere Vorgehensweise. Hinzu kommt, dass diskontinuierliche Darstellungsformen aufgrund ihrer bildhaf- ten Elemente ein Bildverstehen voraussetzen, das ebenfalls kulturell und individu- ell verschieden sein kann. Diese Aspekte erfordern einen fachlichen und sprachli- chen Umgang mit diskontinuierlichen Darstellungsformen sowie die Notwendig- keit, dabei verschiedene Lernkulturen zu berücksichtigen. Mit dem Ansatz der Sprach-Fach-Netze wird ein Versuch unternommen, diese Aspekte zu vereinen. Das Modell, das noch weiterentwickelt und empirisch er- probt wird, soll eine Binnendifferenzierung in verschiedener Hinsicht ermöglichen. Individuelle sowie kulturelle Aspekte können durch differenzierte Hilfestellungen inhaltlich und sprachlich berücksichtigt werden. Es soll jedoch überprüft werden, 1 Die Erprobung des Modells in einem Integrationskurs erfolgte mithilfe des Diagramms „Kollege Ausländer“, das dem Lehrwerk Pluspunkt Deutsch A2 entnommen wurde. Sprach- und Kulturlernen mit Sprach-Fach-Netzen 47 inwiefern Sprach-Fach-Netze tatsächlich den Lernenden bei der Analyse von dis- kontinuierlichen Darstellungsformen helfen und ob diese Hilfen sowohl sprachlich als auch fachlich greifen, sowie, ob ein Sprach-Fach-Netz die Produktion eines linearen Textes unterstützt. Erste Ergebnisse der Erprobung von Sprach-Fach-Netzen zeigen deutlich die Tendenz ihrer positiven Wirkung. Die empirischen Befunde sind jedoch bisher unzureichend, weshalb im weiteren Verlauf Aspekte der fachlichen und sprachli- chen Hilfen auf ihre Differenzierungsmöglichkeit in verschieden Fachbereichen im Kontext DaF und DaZ untersucht werden sollten. Literatur Aprea, Carmela; Ebner, Hermann (2003): Generierung von Diagrammen als Lern- handlung: Effekte eines Kurzzeitframings zur Förderung der Text-Grafik- Transformation. In: Achtenhagen, Frank; John, Ernst G. (Hrsg.): Meilensteine der beruflichen Bildung. Bielefeld: Bertelsmann, 117-138. Baumert, Jürgen; Klieme, Eckhard; Neubrand, Michael; Prenzel, Manfred; Schiefe- le, Ulrich; Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra; Tillmann, Klaus-Jürgen; Weiß, Manfred (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schü- lern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske & Budrich. Becker-Mrotzek, Michael; Kusch, Erhard (2007): Sachtexte lesen und verstehen. In: Der Deutschunterricht 59 (1), 31-38. 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Zum einen befinden sich die DaF-Lernenden im Land der Zielsprache stärker als in anderen Unterrichtskonstellationen durchgängig in dem Spannungsverhältnis, das zwischen ihren kulturell geprägten Lerngewohnheiten einerseits und dem neu von ihnen erwarteten Lernverhalten andererseits besteht. Darüber hinaus erhält der hiesige DaF-Unterricht mit der für ihn typischen Begegnung von Lernern mit un- terschiedlichen Lernerfahrungen eine zusätzliche „interkulturelle“ Note dadurch, dass der Unterrichtende selbst eine eigene, möglicherweise mit seinen Lernern nicht ohne Weiteres kompatible Lehrkultur in den Unterricht einbringt. Evelyne Raupach 54 Das Unterrichtshandeln in der beschriebenen Situation wird somit von z.T. deut- lich divergierenden Vorerfahrungen und Erwartungen aller Beteiligten hinsichtlich des Lehr- und Lernverhaltens mitgestaltet. Dies verlangt von einem um Integration bemühten Lehrenden eine Reihe von Vorüberlegungen und Entscheidungen, von denen ich im Folgenden lediglich zwei thematisieren möchte. Mit Blick auf die Lernenden: In welchem Maße sollen und können sie ihre „mitgebrachte“ Lernkultur verändern und den Lerngewohnheiten im Zielspra- chenland anpassen? Mit Blick auf den Lehrenden: Wie kann er den heterogenen Erwartungshaltungen seiner Lerner Rechnung tragen? Meine Überlegungen und Anregungen resultieren weitgehend aus meinen Lehr- erfahrungen, die ich mit chinesischen Deutschlernern am Sprachenzentrum der Universität Kassel (DSH-Kurse) und chinesischen Studierenden, die sich gegen- wärtig im Masterstudiengang DaFZ an der Universität Kassel befinden, gesammelt habe. Sie stützen sich auf Unterrichtsbeobachtungen, Fragebögen und Interviews. 2 Lern- und Lehrkulturen Eßer (2006) gibt eine nach Kontext und Schwerpunktsetzung differenzierte Über- sicht über Definitionen des Kulturbegriffs, aus denen sie eine Kerndefinition „her- auskristallisiert“, die mit Bezug auf den DaF-Unterricht wichtige Aspekte umfasst: „Kultur“ ist ein abstrakter Begriff für die ganz spezifische Art und Wei- se, wie die Menschen (hier: einer deutschsprachigen Zielkultur und die der Ausgangskultur der Lernenden) leben, d.h. wie sie ihre Lebenswelt organisieren. Und das heißt auch: wie sie jeweils kommunizieren und wie sie Wissen vermitteln und sich aneignen, also: wie sie jeweils spre- chen und wie sie lehren und lernen. (Eßer 2006: 5) Natürlich ist eine solche recht allgemein gehaltene Kerndefinition „noch mehrfach zu spezifizieren und zu relativieren“ (Eßer 2006: 3), sie müsste von vornherein aber mit dem Gedanken verknüpft werden, dass im Bereich der Lehr- und Lern- gewohnheiten kulturelle Prägungen nicht verabsolutiert und kulturelle Unterschie- de nicht deterministisch-dichotomisch konstruiert werden sollten (Boeckmann 2007: 74). Für eine angemessene Beschreibung bietet sich vielmehr das Konstrukt der „Interkultur“ an, wie es etwa Bolten (2003: 18) im Rahmen der „Interkulturel- len Kompetenz“ vorschlägt und wie es in vergleichbaren Kontexten konzipiert ist: Interkultur als ein Prozess begriffen, „der im Sinne eines ‚Dritten‘, einer Zwi- schenwelt C, die weder der Lebenswelt A noch der Lebenswelt B vollkommen entspricht“ permanent neu erzeugt wird. Integration chinesischer Lernkulturen im fremdsprachlichen Deutschunterricht 55 2.1 Lernkulturen Zur Diskussion von Lernkulturen muss der Begriff der Lerngewohnheiten hinzu- genommen werden. Sie sollen hier verstanden werden als erworbene Verhaltens- weisen, die sich – in Übereinstimmung mit Definitionen aus der Pädagogischen Psychologie – von Begriffen wie Lernfertigkeiten oder Lernerfahrungen durch den Grad der Automatisierung bei der Anwendung, also durch die habituelle Kompo- nente unterscheiden und quasi zum Standardrepertoire an Lernaktivitäten eines Lerners gehören (so bei Mitschian 1991: 23ff.). Für den Lehrenden offenbaren sie sich am ehesten in der Art und Weise, in der sich die Lernenden am Unterrichtsge- schehen beteiligen und auf den Unterricht vorbereiten, sowie an der Art ihres Um- gangs mit den Unterrichtenden und mit den Kommilitonen, auch außerhalb der Veranstaltungen. Beobachtet er dabei, dass Lerngruppen mit gleichem Kulturhin- tergrund vergleichbare Verhaltensweisen zeigen, liegt für ihn natürlich die Vermu- tung nahe, dass es sich jeweils um kulturspezifisches, durch die Sozialisation der Lernenden geprägtes Lernverhalten handelt. Dies belegen jedenfalls die zahlrei- chen Erfahrungsberichte von DaF-Lehrern. Ein erstes Erklärungspotential dürften damit soziokulturelle Modelle liefern, die das Zusammenspiel von Faktoren beschreiben, welche die Sozialisation und die damit einhergehenden Ausprägungen von Lernkultur beeinflussen. Dies geschieht häufig in Form von hierarchisch angeordneten Einflussebenen, wie in dem hier stellvertretend genannten Modell von Mitschian (1991: 4): Auf der Gesellschaftsebene werden Entscheidungen getroffen, die die Organisation auf Institutionsebene (Schule, Hochschule usw.) bestimmen. Dort werden strukturelle und curriculare Vorgaben umgesetzt (Kursziele, Methoden usw.), die sich wiederum auf die Interaktionsebene auswirken (z.B. Verhältnis Lehrer-Schüler/Student). An der untersten Stelle der Hierarchie, der Individualebene, steht der einzelne Lerner, der in seiner Sozialisation, seinen Erwartungen und Gestaltungsmöglichkeiten – und damit letztlich auch in seinen Lerngewohnheiten – eingebunden ist in das Geflecht der genannten Struk- turebenen. Wie stark sich der Einfluss von Entscheidungen, die „auf höherer Ebe- ne“ getroffen werden, auf den Lehr- und Lernbetrieb bemerkbar macht, lässt sich gegenwärtig am Lernverhalten deutscher Studierender nach der Einführung der Bachelor-/Masterstudiengänge veranschaulichen. Stellt man dem soziokulturellen Ansatz allerdings Ergebnisse aus lerntheoreti- scher und speziell psycholinguistischer Betrachtungsweise gegenüber, gerät unmit- telbar der einzelne Lerner stärker in den Vordergrund mit seinen individuellen Lernstilen und Lernstrategien, seiner ihm eigenen Lernmotivation und seinen Ziel- setzungen. Diese beeinflussen ihn ebenfalls in dem Maße, in dem es das soziokul- turelle Umfeld erlaubt, seine Lerngewohnheiten – erst einmal und vor allem in seiner Heimatkultur, dann aber auch in der für ihn neuen Zielsprachenkultur. Hier gilt es für ihn also zunächst, die automatisierten, kulturell geprägten Lerngewohn- heiten zusammen mit dem individuell bevorzugten Lernverhalten im neuen Um- feld zu erproben. Dabei wird sich bald zeigen, wie stark die neue Alltagskultur, die Evelyne Raupach 56 sich natürlich auf alle Lebensbereiche, besonders spürbar auf das studentische Alltagsleben und die Studienbedingungen (s.o. die Interaktionsebene), erstreckt, die Lerngewohnheiten des Einzelnen beeinflusst. Dabei kann es nicht überraschen, wenn die ausländischen DaF-Lerner zunächst an den eingeübten Formen ihres Lernverhaltens festzuhalten versuchen, zumal dann, wenn ihnen alternative For- men wenig oder gar nicht bekannt sind. Aus diesem Grund fühlen sich DaF- Lehrende leicht in ihrem Urteil bestätigt, wenn sie bestimmte Verhaltensformen pauschal und mehr oder weniger stereotyp bestimmten Lerngruppen mit gleichem kulturellem Hintergrund zuordnen. Zeigt die Mehrzahl von Lernern, die aus dem- selben Kulturkreis stammen, anfangs in der Tat vergleichbare soziokulturell be- dingte Lerngewohnheiten, so können doch mit fortschreitender „Enkulturation“ die Persönlichkeitsmerkmale einzelner Lerner an Einfluss auf ihr Studier- und Lernverhalten gewinnen, so dass auch bei ihnen – ähnlich wie bei den einheimi- schen Studierenden – die Vielfalt individueller Lernverhaltensformen zutage treten kann. 2.2 Lehrkulturen „Der Fremdsprachenlehrer im Fokus“ – so lautet der Themenschwerpunkt eines der letzten FLuL-Hefte (Heft 1, Jg. 43 von 2014, koord. von Königs), mit der in der Fremdsprachendidaktik und der Sprachlehrforschung nach Jahrzehnten der Konzentration auf den „guten Lerner“ die zwischenzeitlich offenbar vernachlässig- te Erforschung der Lehrerrolle neu belebt werden soll. Dabei geht es im Wesentli- chen um eine stärkere Professionalisierung, möglicherweise in engerer Kooperati- on als bisher mit den Erziehungswissenschaften und der Schulpädagogik. Für die hier angesprochene „interkulturelle“ DaF-Situation ist es natürlich von Vorteil, wenn die Lehrerbiographie des Unterrichtenden neben den erwartbaren Formen und Inhalten der Lehrerausbildung bereits eine Vertrautheit im Umgang mit lernkulturell heterogenen Lerngruppen aufweist. Damit einhergehen sollte die Einsicht, dass auch die eigene Ausbildung im Kontext der Kulturspezifik zu sehen ist und in Abhängigkeiten eingebettet ist, wie sie in dem skizzierten soziokulturel- len Modell aufscheinen. Eine entsprechende Sensibilisierung dürfte auf der Interaktionsebene dazu bei- tragen, dass die Lehrenden trivialerweise nicht bei der Bevorzugung jener Metho- den stehenbleiben, mit denen sie selbst unterrichtet worden sind. Wenn man ihnen vielleicht nicht ohne Weiteres „eine forschende Haltung gegenüber ihrem Tun“ abverlangen kann, so dürfte die Teilnahme an entsprechend konzipierten Fort- und Weiterbildungsprogrammen wie etwa demjenigen vom Goethe-Institut („Deutsch Lehren Lernen“) nützlich sein (Schart 2014: 48). Bei ausgeprägtem be- ruflichem Lehrverständnis wird sich der DaF-Lehrer zudem ohnehin im Rahmen seiner Möglichkeiten über die Kulturspezifik seiner Lerngruppen informieren. Dies kann Missverständnisse verhindern helfen und wird den Lehrenden vielleicht dazu Integration chinesischer Lernkulturen im fremdsprachlichen Deutschunterricht 57 anhalten, in seinem Unterrichtshandeln den vorgefundenen Verhaltensweisen nicht von vornherein (ab)wertend gegenüber zu stehen und nicht von Beginn an die im deutschsprachigen Raum geschätzten Lernverhalten einzufordern, wie etwa rege Beteiligung an Diskussionen, kritisches Hinterfragen und das möglichst individuel- le und selbstständige Lösen von Aufgaben (s. Eßer 2006: 8). 3 Chinesische Lerner Die aus China stammenden Lerner bilden seit über 10 Jahren die mit Abstand größte Gruppe unter den ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten und Hochschulen: Sie machen mit fast 23.000 Studierenden annähernd 12% der „Bildungsausländer“ in Deutschland aus (Statistisches Bundesamt 2011) und so- wohl bei den Studienabsolventen als auch bei den Studienanfängern liegen sie im- mer noch deutlich an der Spitze. Dementsprechend sind chinesische Lerner und Lerngruppen vergleichsweise häufig Gegenstand von theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zum Lernverhalten (u.a. Yu 2004, Han 2008). Zu den gängigen Charakterisierungen, die sich in der Literatur zu den Lernge- wohnheiten chinesischer Lerner finden, gehören ihre Passivität im Unterricht – Han (2008) spricht von der „stummen Fremdsprache“ –, ihre mangelnde Bereit- schaft zur Kooperation und Diskussion, ihr Wunsch nach Lehrerzentriertheit und nach klarer Strukturierung des Unterrichts und der Unterrichtsmaterialien sowie ihre Vorliebe für grammatisches Lernen und ein hoher Perfektionsgrad.1 Diese Lerngewohnheiten werden – nicht nur von deutschen (z.B. Rössler 1984), sondern gelegentlich auch von chinesischen Fremdsprachendidaktikern – gern als „traditionelles“ Lernen interpretiert, das die Lerntraditionen der konfuzia- nische Methode (5. Jh. v. Chr.) und diejenigen des Beamtenprüfungssystems der letzten Kaiserdynastie Qing (1644-1912) im 19. Jh. sich fortzusetzen scheinen. Mit Mitschian (1991, 1997) und seinem oben skizzierten soziokulturellen Ansatz liegt es allerdings näher, statt eines statischen, monolithischen Chinabildes mit seinen Generalisierungen dem Einfluss der Veränderungen der letzten Jahre Rechnung zu tragen. Die Öffnung Chinas und seine wirtschaftliche Entwicklung hinterlassen ihre Spuren im Bildungssystem und im Studierverhalten. In unserem Zusammen- hang hat die Etablierung bilateraler Beziehungen zwischen Deutschland und China seit den 1980er-Jahren spürbar ihre Auswirkungen auf die Fremdsprachenfor- schung (Ni 1991) und auf die inhaltliche und fachdidaktische Gestaltung des Ger- manistikstudiums (Yuan 2009, Wei; Dong 2006). Vor diesem Hintergrund haben sich in jüngerer Zeit naturgemäß die Zielsetzungen und Motivation für das Lernen und das Studium der deutschen Sprache verändert (Qiaoqiao; Mitschian 2012; Thelen 2003), was einen allmählichen Wandel nicht zuletzt auch im Lern- und Studierverhalten erwarten lässt. 1 Zum Vergleich mit deutschen Studierenden s. etwa Wang 2005. Evelyne Raupach 58 Des Weiteren müssen die Ergebnisse, die aus empirischen Studien zum Lernver- halten chinesischer Deutschlernender abgeleitet werden, in ihrer Aussagekraft dif- ferenziert beurteilt werden: Viele, teilweise anekdotenhafte Einschätzungen stam- men von deutschen Lehrkräften (DAAD-Lektoren), deren Perspektive geprägt ist von ihrer eigenen Lernkultur und die nicht immer mit den Einschätzungen chine- sischer Lehrer übereinstimmen. Darüber hinaus sind die empirischen Daten, die von chinesischen Deutschlernern selbst stammen, häufig nur mittels Fragebögen erhoben worden, die z.T. vorformulierte suggestive Fragen enthalten. Interviews oder gar kontrollierte Unterrichtsbeobachtungen sind die Ausnahme.2 Um den erwähnten Pauschalisierungen zu entgehen, halte ich es für sinnvoll, die Lehrerfahrungen, die ich an der Universität Kassel mit chinesischen Lernern gemacht habe, differenziert nach ihren Lern- und Studienzielen darzustellen. 3.1 Chinesische Deutschlerner Es muss vorausgeschickt werden, dass die an den DSH-Kursen teilnehmenden chinesischen Deutschlerner z.T. spürbar unterschiedliche sprachliche Vorausset- zungen mitbringen – je nachdem, ob sie bereits in der Sekundarstufe ihrer Schule Deutsch als 1. oder 2. Fremdsprache gelernt haben, und an welcher Art von Sprachkursen sie in China an einer Hochschule oder einem Sprachenzentrum für den angestrebten Deutschlandaufenthalt vorbereitet worden sind. Die Studieren- den sind häufig darauf angewiesen, ihre DSH-Prüfung möglichst schnell, i.d.R. in einem Semester, zu absolvieren, um anschließend ein Fachstudium an einer deutschsprachigen Universität aufnehmen zu können. Ich unterrichte am Spra- chenzentrum der Universität Kassel seit sechs Jahren in prüfungsvorbereitenden DSH-Kursen mit durchschnittlich ca. 20 Studierenden aus unterschiedlichen Her- kunftsländern, von denen die chinesischen Lerner regelmäßig in der Überzahl sind. In meinen Sprachkursen hat sich an Reaktionen von chinesischen Lernern ge- zeigt, dass sie in der Tat mehrheitlich formbezogenes Lernen vorziehen und dem- zufolge einen expliziten Grammatikunterricht erwarten – worin sie im Übrigen mit vielen Studierenden aus anderen Herkunftsländern übereinstimmen. Außerdem beteiligen sich chinesische Lerner zunächst mehrheitlich ungern an Unterrichtsdis- kussionen, insbesondere wenn diese im Plenum stattfinden. So kommt es nicht selten zu Lerneräußerungen wie: „Wir müssen hier so viel sprechen, das kenne ich gar nicht.“ Es ist allerdings zu beobachten, dass sich einige Lerner recht schnell an ein für sie zunächst ungewohntes aktives Diskussionsverhalten „gewöhnen“ kön- nen, und dass sie den für sie neuen Unterrichtsformen offen gegenüberstehen. Dies vor allem dann, wenn diese für sie einsichtig begründet werden (s. Mitschian 1997). Nach meinen Erfahrungen ist es in vielen Fällen hilfreich, wenn Diskussio- nen zunächst in Partner- oder Gruppenarbeit angeregt werden und wenn dort 2 Einen Überblick über neuere Arbeiten gibt Chen 2012. Integration chinesischer Lernkulturen im fremdsprachlichen Deutschunterricht 59 auch, wo es erwünscht und angebracht ist, explizit auf grammatische Strukturen eingegangen wird. Allerdings ist nicht zu übersehen, wie stark sich das Kursziel auf die Bereit- schaft der Lerner auswirkt, sich auf neue Methoden einzulassen. Der Spielraum ist bei dem deutlich auf die DSH-Prüfung ausgerichteten Sprachenlernen relativ klein. Umso mehr gilt es zu versuchen, einige der bei den chinesischen Lernern ausge- prägten Kenntnisse und Lerngewohnheiten in den Unterricht zu integrieren. So können die zumeist sehr guten Grammatikkenntnisse der chinesischen Studieren- den in der Weise genutzt werden, dass sie die Gelegenheit erhalten, selber einzelne Grammatikthemen den übrigen Kommilitonen zu erklären und damit das eigene Selbstbewusstsein zu stärken. In manchen Lernbereichen kann außerdem die bei ihnen prominente Strategie des Auswendiglernens ausgesprochen nützlich sein, wenn es z.B. darum geht, wissenschaftliche Sprachstrukturen einzuüben, die ge- mäß den Prüfungsanforderungen schriftlich und mündlich beherrscht werden sollen. Dagegen gibt es andere Lernbereiche, in denen eine gezielte Vermittlung neuer Strategien nicht nur förderlich, sondern beinahe unerlässlich ist. Das Hörverstehen und die mündliche Kommunikation sind typische Beispiele, weil die chinesischen Lerner hier nachweislich Defizite aufweisen. Dabei hat sich herausgestellt, dass es nicht nur lernfördernd ist, die Strategien an Beispielen einzuüben, sondern dass eine Bewusstmachung vor dem Hintergrund des bereits vorhandenen Strategiein- ventars das Interesse daran wecken kann, grundsätzlich das eigene Lernverhalten in der neuen Umgebung zu überdenken. In den mündlichen DSH-Prüfungen ist mir in jüngster Zeit vermehrt aufgefal- len, dass sich speziell die chinesischen Studierenden als kreativ erweisen, wenn es darum geht, in den ersten Minuten des Prüfungsgesprächs Angaben zur eigenen Person zu machen. Äußerungen wie „Ich bin immer noch Single und auf der Su- che nach einer Freundin.“ oder „Ich habe ein bisschen zugenommen, weil ich schon länger keinen Sport mehr treibe.“ sind keine Seltenheit. Sie belegen einmal mehr, dass die individuellen Eigenheiten der Lerner nicht völlig von den kulturspe- zifischen Prägungen überlagert werden müssen, und dass zumindest einige der Lerner trotz aller Schwierigkeiten mit den neuen Lernformen ihren Spaß am Spra- chenlernen nicht verloren haben. Bei aller Konzentration auf die Prüfungsanforderungen habe ich – mit wech- selndem Erfolg – versucht, den Anspruch aufrecht zu erhalten, auch in diesen Sprachkursen nicht nur das Erlernen der Sprache zu fördern, sondern zugleich das Einüben bestimmter Verhaltensweisen und Sozialformen (s. dazu bereits Seel 1986), wobei zu erwähnen ist, dass sich die zurückhaltende, höfliche Art der meis- ten chinesischen Studierenden oft sehr wohltuend auf das Unterrichtsgeschehen auswirkt. Evelyne Raupach 60 3.2 Chinesische Masterstudierende Im Masterstudiengang DaFZ an der Universität Kassel, an dem deutsche und aus- ländische Bachelor-Absolventen teilnehmen, stammt derzeit der größte Teil der internationalen Studierenden ebenfalls aus China. Der Studiengang umfasst 4 Se- mester, so dass diese Studierenden i.d.R. zwei Jahre in Deutschland verbringen. Grundsätzlich wird von allen Studierenden ein hohes Maß an Selbstständigkeit gefordert, nicht nur bei der Zusammenstellung ihres Semesterplans, sondern auch bei der Art des wissenschaftlichen Arbeitens. Dieser hohe Grad an Autonomie ist den chinesischen Studierenden i.d.R. nicht vertraut, da sie an eine stärkere Vor- strukturierung des Studiums in ihrem Heimatland gewöhnt sind. So ist es nur ver- ständlich, dass es einigen von ihnen zunächst ausgesprochen schwer fällt, sich auf die Selbstorganisation einzulassen. Andere sehen es nach meinem Eindruck gera- dezu als wünschenswert an, die ihnen zugestandenen Freiheiten bei der Auswahl von Modulen nutzen zu können – hier sind individuelle Unterschiede ganz offen- kundig. Die aktive Teilnahme an der Kommunikation in den Seminaren ist, im Gegen- satz zu den deutschen Teilnehmern, für die chinesischen Studierenden wie auch für einen Teil der übrigen ausländischen Kommilitonen zu Beginn ihres Master- studiums neu. Dies gilt nicht nur für die Art der Diskussionsführung, sondern teilweise auch für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Viele Studierende agie- ren deshalb zunächst eher zurückhaltend, was z.T. auf die für sie ungewohnte Dis- kurssituation, auf eventuelle sprachliche Hemmungen (s. die Umfrageergebnisse von Han 2008), aber natürlich auch auf Persönlichkeitsfaktoren zurückzuführen ist. Aus der Perspektive der Dozenten ist es wichtig, das Verhalten auf diese Art zu erklären und nicht vorschnell als Desinteresse oder gar als Unvermögen zu inter- pretieren (s. Eßer 2006: 12). Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten werden im Fachgebiet interkulturelle Trainingskurse angeboten, in denen Aspekte wie Lernsti- le, Unterrichtsformate, Rollenerwartungen an Dozenten und Studierende sowie Kommunikation und Interaktion in den Lehrveranstaltungen thematisiert werden. In jedem Fall müssen den Studierenden hierfür ausreichend Zeit und Gelegenheit zum Eingewöhnen zugestanden werden. Auch mit der Art der Präsentationen in Form von freiem Sprechen sind die chinesischen Studierenden kaum vertraut. Sie sind vielmehr daran gewöhnt, ihre Referate einfach vorzulesen. Hier bedarf es einer expliziten Unterstützung in den Bereichen der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und der wissenschaftlichen Arbeits- techniken, damit die Studierenden schrittweise genügend Selbstvertrauen gewinnen und ihre oft beschworene Angst überwinden, sich öffentlich zu präsentieren. Ähn- liches gilt für die mündlichen Prüfungen, die es in dieser Form für einige Studie- rende in ihrem Heimatland gar nicht gibt. Nicht ungewöhnlich ist der mehr oder weniger deutlich artikulierte Vorwurf chinesischer Studierender im Anschluss an eine solche Prüfung: „Die Fragen stehen so aber gar nicht im Buch!“ Angesichts dieser enttäuschten Erwartungshaltung und der allgemeinen Unsicherheit der Stu- Integration chinesischer Lernkulturen im fremdsprachlichen Deutschunterricht 61 dierenden werden mittlerweile verstärkt vorbereitende Prüfungssimulationen durchgeführt. Aufmerksamkeit verdient das Modul „Unterrichtspraktikum“, in dem die Stu- dierenden nicht nur die Gelegenheit erhalten, in Sprachkursen an verschiedenen Institutionen zu hospitieren, sondern auch eigene Unterrichtssequenzen zu planen, durchzuführen und anhand einer Videoanalyse zu evaluieren. Die damit einherge- hende Selbstreflexion führt gerade in den interkulturell zusammengesetzten Grup- pen zu fruchtbaren Diskussionen über Lern- und Lehrkulturen und über die Er- wartungen, die die einzelnen Studierenden an die Lerngruppe stellen. Wie erwartet, zeigt sich hier bei den chinesischen Studierenden in besonderem Maße die Tendenz, ihre in China erworbenen Unterrichtserfahrungen, die über- wiegend durch Lehrerzentriertheit, die zentrale Stellung des Lehrbuchs, Prüfungs- orientierung und formbezogenen Frontalunterricht (s. Mitschian 1991) geprägt worden sind, übertragen zu wollen. Auch dass sie nach Ausweis der Videoauf- zeichnungen, die von ihren eigenen Unterrichtsstunden angefertigt worden sind, anfangs eher verhalten und leise sprechen, ist nicht verwunderlich. Sie selbst erklä- ren dieses Verhalten neben dem Hinweis auf ihren kulturellen Hintergrund mit den sprachlichen Schwierigkeiten, derer sie sich bewusst sind. Durch Rollenspiele in kleinen Gruppen konnten immerhin einige von ihnen an Selbstvertrauen hinzuge- winnen. Vergleicht man die chinesischen Studierenden, die sich noch am Anfang ihres Studiums befinden, mit jenen, die bereits in einem höheren Semester studieren, so fallen bei den Letzteren neben den sprachlichen Zuwächsen am ehesten Verände- rungen im Interaktionsverhalten und bei den Präsentationen im Seminar ins Auge, wobei natürlich individuelle Unterschiede nicht zu übersehen sind. In den multikulturell zusammengesetzten Gruppen des Masterstudiengangs hat seit einigen Jahren die Anzahl der deutschsprachigen Studierenden kontinuierlich zugenommen, was z.T. mit der zusätzlichen Spezialisierung des Fachgebiets auf den DaZ-Aspekt zusammenhängt. Nach Aussagen der internationalen Studieren- den lässt allerdings die Zusammenarbeit mit den deutschen Muttersprachlernern in den Seminaren gelegentlich etwas zu wünschen übrig. Offensichtlich bleiben einige von ihnen gerne unter sich, ein Verhalten, dass man ansonsten eher den ausländi- schen Studierenden zuschreibt. Der Grund dafür ist darin zu sehen – so die Ver- mutung von chinesischen Studierenden –, dass sie sich aufgrund ihrer überlegenen sprachlichen Kompetenz bessere Ergebnisse beispielsweise bei der Projektarbeit versprechen. Dies legt nahe, in den Seminaren die Integration dadurch zu fördern, dass unterrichtliche Aspekte der Interkulturalität noch stärker thematisiert werden, wovon nicht zuletzt die deutschsprachigen Studierenden für ihre zukünftige Lehrtätigkeit mit interkulturellen Gruppen profitieren können. Evelyne Raupach 62 4 Fazit Die Möglichkeiten, der Lernkultur chinesischer Lernender Rechnung zu tragen, stellen sich in den beiden hier angesprochenen Veranstaltungstypen nicht in glei- cher Weise dar. Die jeweiligen Inhalte und Lernziele – auf der einen Seite eine effektive Vorbereitung auf die DSH-Sprachprüfung, auf der anderen Seite die wis- senschaftliche Beschäftigung mit Themen und Methoden der DaF-Vermittlung − einschließlich der Abfassung einer Masterarbeit – sind zu unterschiedlich, als dass die Lernenden ihre Lerngewohnheiten in gleicher Weise einbringen könnten. Die entscheidende Rolle in der Berücksichtigung ihrer Lernerfahrungen fällt naturge- mäß dem Lehrenden zu. Idealerweise sollte er sich seiner eigenkulturellen Ausbil- dung bewusst sein und entsprechend verständnisvoll auf von ihm nicht erwartete Formen des Lernverhaltens eingehen. Es ist leicht, einen Katalog von wünschba- ren Eigenschaften des guten DaF-Lehrers zu erstellen, zu dem u.a. Vertrautheit mit Methodenvielfalt, interkulturelles Verständnis, Flexibilität und die Bereitschaft zur Diskussion über Lehrinhalte und Lehrverfahren usw. zählen, in der konkreten Unterrichtsgestaltung mit heterogenen Lerngruppen werden seine Lehrerpersön- lichkeit und sein Umgang mit den Lernern die entscheidenden Akzente setzen. Insgesamt sollte man nach meinen Erfahrungen die vermuteten kulturellen Un- terschiede nicht überbewerten und erst recht nicht verabsolutieren. Im Fall der chinesischen Lernenden wird man sich angesichts der gesellschaftlichen und wirt- schaftlichen Wandlungen, die in China zu beobachten sind, zunehmend auf verän- derte und individuell ausgeprägte Formen von Lernverhalten einstellen müssen. Damit verlieren die gelegentlich geäußerten Fragen, ob die von den Lernenden „mitgebrachte“ Lernkultur veränderbar ist, und inwieweit z.B. Strategien vermittelt werden dürften, die gegen die jeweilige Auslandskultur gerichtet sind (Schmenk 2009), an Brisanz. Mit Eßer halte ich es für erstrebenswert, einen Mittelweg zu finden „zwischen dem Eingehen auf die Bedürfnisse der LernerInnen und einem Beibehalten eigener Unterrichtstechniken und -inhalte“ (Eßer 2006: 9) und dabei Möglichkeiten auszuprobieren, die den oben genannten Prozess der „Interkultur“ befördern. Literatur Boeckmann, Klaus-Börge (2007): Kultureller Kontext, Forschung, Fremd- und Zweitsprachenunterricht. 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Der Fremdsprachenunterricht wird dementsprechend als ein geeignetes Instrument gesehen, sprachliche und soziokulturelle Kenntnisse und interkulturel- le Kompetenzen zu verbessern. Anders gesagt, die Fremdsprache – hier die deut- sche Sprache − kann nicht als ein Selbstzweck gesehen werden, sondern wird im Zusammenhang mit ihren kulturellen Komponenten vermittelt. Der Fremdspra- chenunterricht im Ausland bedeutet somit Konfrontation mit regionalen Lehr- und Mostafa Maleki 66 Lernkulturen. Diese Auffassung beeinflusst die Fremdsprachenpolitik unterschiedli- cher Lernkulturen. Der Begriff Lernkultur besitzt eine zentrale Bedeutung in einem fremdspra- chenpolitischen Lernkontext wie im Iran. Was die Lernkultur angeht, muss man zwischen zwei Bezugsbereichen unterscheiden: Zum einen wird Lernkultur im Vergleich zur „Belehrungskultur“ (vgl. Kretzenbacher 2004) thematisiert, also mit einer methodisch-didaktischen Bedeutung im Zeichen der unterschiedlichen Lern- formen. Zum anderen wird Lernkultur aus einer kulturellen und pädagogischen Perspektive gesehen (vgl. Wojtaszek 2011, Hill et al. 2008, McKeon 1994, Robin- son-Stuart et al. 1996). In der zuletzt angesprochenen Diskussion finden sich mit- unter gewisse Berührungsängste im Umgang mit der Fremdsprachenvermittlung in einem Kontext, wo das Lernen einer Fremdsprache in eine bestimmte Bildungs- und Erziehungspolitik eingebunden werden soll. Wie geht man damit um? Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, das Deutschangebot an iranischen Schulen zu thematisieren, und zwar aus der Perspektive der „Lernkultur“ und deren institutioneller Rahmenbedingungen. Dabei wird der Begriff Lernkultur aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen geht es um eine traditionelle Auffassung vom Fremdsprachenunterricht in Form eines klassischen Präsenzunterrichts, der unter der Regie einer lehrenden Person stattfindet. Die Bedeutung der Lernkultur aus der Sicht der Kulturvermittlung im Fremdsprachenunterricht stellt zum ande- ren eine Herausforderung für den iranischen Kulturkontext dar. Im Anschluss an diese Diskussion wird die Konzeption der regionalen Lehr- werke kurz thematisiert und die Frage gestellt, ob und wie diese als eine Lösung zum Ausbau der Vermittlung der deutschen Sprache und der Optimierung der bestehenden Unterrichtsangebote an iranischen Schulen gelten kann. 2 Fremdsprachenunterricht als (inter-)kulturelle Bildungsentscheidung Die Entscheidung, ob und welche Fremdsprache als ein Schulfach oder eine aka- demische Disziplin in einem Land unterrichtet wird/werden soll, ist weniger eine rein akademische Frage als ein Aspekt der Regierungspolitik zur fremdsprachli- chen Unterrichtspraxis. Landeskundliche Berücksichtigungen in der Bildungs- und Erziehungspolitik, besonders aus einer altersbezogenen Perspektive in der Schule, gelten z.B. als eine der großen Herausforderungen für das Deutschangebot in den Ländern, in denen die Alltagskultur eine mehr oder weniger große Differenz zur Zielgesellschaft aufweist. Die Präsenz der Fremdsprachen in einem Land wird deshalb von verschiedenen Seiten unterschiedlich bewertet. In Europa besteht z.B. Konsens darüber, dass das Lernen von Fremdsprachen heutzutage einen großen Beitrag zum Erfolg von Bildung und Forschung leisten soll: Die Entwicklung institutionsspezifischer Sprachenpolitik, die Einführung der Themen wie „Mehr- sprachigkeit“ in der Bildungspolitik und die Förderung der Sprachenzentren in- Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 67 nerhalb der Hochschule gehören zu den fremdsprachenfördernden Maßnahmen, die eine strategische Positionierung des Bildungsstandorts des jeweiligen Landes in einer Wettbewerbsdynamik sichern sollen (vgl. Ehlich 2009, Cooper 1989). Wenn wir die Situation des Fremdsprachenunterrichts im Iran betrachten, können wir ein Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Kultur feststel- len (vgl. Haghani 2009). Aufgrund der seit Jahrzehnten bestehenden Kontakte zwischen Deutschen und Iranern besitzt die deutsche Sprache eine historische und bildungsrelevante Bedeutung im Iran. Deutsch wird – erst nach der Schule – in fünf Universitäten im Iran mit unterschiedlichen Schwerpunkten als Studiengang angeboten, und zwar in Bachelor-, Master-, und PhD-Programmen. Außerhalb des Universitätsbereiches wird die deutsche Sprache in zahlreichen Sprachinstituten vermittelt. Allein im DSIT1 (Deutsches Sprachinstitut Teheran) wurden im Jahr 2013 etwa 6.000 Einschreibungen registriert. Obwohl dem Deutschangebot im Iran auf der Hochschulebene, also für Er- wachsene, außer den allgemeinen fremdsprachenpolitischen Bedingungen keine weiteren großen kulturpolitischen Bedenken im Weg stehen, wird die Vermittlung der Fremdsprache für Kinder, wenn überhaupt, nur eingeschränkt angeboten.2 Das Lernen der deutschen Sprache bedeutet für Kinder die Begegnung mit vielen fremden Kulturkomponenten, die die Entwicklung der Identität in einem kriti- schen Alter in der Schule mit beeinflussen können. Ausgehend von dieser Auffas- sung war das Thema „Fremdsprache in der Schule“ im iranischen Kontext im Laufe der Zeit von unterschiedlichen Einstellungs- und Meinungsprägungen ge- kennzeichnet (vgl. Haghani 2009). Will man den DaF-Unterricht in iranischen Schulen thematisieren, kommt dem Thema vor allem eine besondere (inter-)kul- turelle Bedeutung zu. Die zentral gesteuerte Bildungspolitik in der Schule er- schwert aber generell oft den Einsatz einer interkulturell ausgerichteten Fremd- sprachendidaktik. Entscheidungsträger für die Fremdsprachenangebote in iranischen Schulen ist der sogenannte „Hohe Rat für Bildung und Erziehung“, der die allgemeinen Richtlinien aufstellt und das nationale Bildungskonzept untersucht. Dabei werden vor allem auch Grundlagen einer islamischen Bildung und Erziehung beachtet. Die Grundprinzipien befolgen eigentlich ein „islamisch-iranisches Modell für den Fortschritt“, das vom „Hohen Rat der Kulturrevolution“ betreut wird. Der Hohe Rat für Bildung und Erziehung hat insgesamt neben Arabisch auch die Vermitt- lung der sechs wichtigsten Fremdsprachen, Englisch, Deutsch, Französisch, Rus- sisch, Spanisch und Italienisch, verabschiedet und bewilligt. Generell sind es aber Englisch, aufgrund des internationalen Status, und Arabisch, als Sprache der Reli- gion, die in iranischen Schulen als Pflichtfächer vertreten sind. Deutsch, Franzö- sisch und auch Italienisch werden in ein paar staatlichen Schulen in Teheran als fakultative Fächer angeboten. Die Schüler können freiwillig am Unterricht teil- 1 http://www.dsit.org.ir. 2 Mehr dazu in den folgenden Kapiteln. Mostafa Maleki 68 nehmen. Für diese Sprachen gibt es Lehrbücher. Viele Schüler wählen die engli- sche Sprache als Fremdsprache in der Schule. Sollte an einer Schule das Interesse bestehen und sollten genug Schüler eine andere Fremdsprache wie Deutsch wäh- len, kann die Schule Lehrkräfte dafür einsetzen, und so kann der Deutschunter- richt stattfinden (vgl. Interview mit Bahram Mohamadian im Dez. 2013). Mit der Zusammenarbeit mit dem „Iran Language Institut“3 werden dann die Lehrkräfte bereitgestellt. Die Lehrbücher werden vom Ministerium für Bildung und Erzie- hung angeboten. Auch Deutsch wird in einigen wenigen Privatschulen angeboten. Das Angebot besteht jedoch nur in Großstädten wie Teheran und Isfahan. 3 Lernkultur als eine Herausforderung Die Fremdsprachenpolitik aus der Sicht der Lernkultur wurde wenig als Diskussi- onsgegenstand in wissenschaftlich fundierten Kontexten betrachtet. Wie auch in der Einleitung erwähnt, lässt sich Lernkultur in zweierlei Hinsicht thematisieren, wenn man das Deutschangebot im iranischen schulischen Kontext aufgreifen will. Der Begriff umfasst nicht nur Schwerpunkte wie Zielkultur und Landeskunde im Zeichen der „interkulturellen Kompetenz“ (Inhalt), sondern auch didaktisch- methodische Überlegungen wie den „kommunikativen Konstruktivismus“ im Vergleich zu einer Belehrungskultur (Form). Die inhaltliche Dimension dieses Themas mag genauso wichtig sein wie seine didaktisch-methodische. Die Kultur- vermittlung hat allerdings oft verhindert, dass das Deutschangebot in den irani- schen Schulen entsprechend in den bildungspolitischen Diskurs eingeführt wird. Lernkultur als Form: Im aktuellen didaktischen Diskurs wird derzeit auf den kommunikativen Fremdsprachenunterricht hingewiesen und außerdem der Einsatz neuer Medien verstärkt über die folgenden Themen diskutiert und geforscht: „Autono- mes Fremdsprachenlernen und selbstgesteuertes Lernen“ (vgl. Rampillon 2003, Schmelter 2004), „Frühes Fremdsprachenlernen“, „E-Learning und Blended Learning“ (vgl. Reinmann-Rothmeier 2003), „Forschendes Lernen“ (vgl. Boeck- mann; Feigel-Bogenreiter 2010) und die Fähigkeit zur „eigenständigen Regulation von Lernprozessen und retrospektive Darstellung des Lernweges“ (vgl. z.B. Knowles 1975, Weinert 1982), Gruppen- und Projektunterricht (Minuth 2012). Sie sind eine Reihe von Lernformen, die sich im Laufe der Zeit im und für den Be- reich Fremdsprachenlernen entwickelt und neue Lernkulturen mit sich gebracht haben. Hier stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Lernformen im iranischen Lern- kontext entwickelt haben? Obwohl in den letzten Jahren Initiativen für den Ein- satz der kommunikativen Ansätze ergriffen worden sind, verzögert das seit Jahren inputgesteuerte Bildungssystem den Weg zur lernerorientierten Lernkultur. 3 Mehr zum „Iran Language Institute“ unter: http://ili.ir/Default.aspx?tabid=113. Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 69 Lernkultur als Inhalt: Landeskundliche Berücksichtigungen in der Bildungs- und Erziehungspolitik gelten als eine große Herausforderung für das Deutschangebot in den Ländern, in denen der Alltag und die Kultur eine große Differenz zur Ziel- gesellschaft aufweisen. Diese kulturelle Sensibilität wird gestärkt, wenn das Lehren und Lernen einer neuen Kultur bzw. die Begegnung mit einem neuen Kulturange- bot bei einer Altersgruppe stattfindet, die (fremde) Dinge in ihrem Umfeld schnell kennenlernen und auch übernehmen kann. Das Thema Fremdsprachenlernen und die damit verbundene Kulturvermittlung werden deswegen oft in einem pädagogi- schen Diskurs aufgefasst. Kulturspezifische Inputs, die durch den Deutschunterricht vermittelt werden können, sorgen dafür, dass das Deutschangebot im schulischen Kontext seitens der (gesteuerten) Pädagogik und der Institution mit Einschrän- kungen verbunden ist/sein soll. Hierzu lassen sich zwei Ansichten unterscheiden: Zum einen ist es kaum be- streitbar, dass eine Fremdsprache weniger ein Selbstzweck ist, sondern vielmehr ein Werkzeug, das dabei weiterhilft, einen (oder unterschiedliche) Zweck/e zu verfolgen. Zum anderen fordert der Deutschunterricht für ausländische Schüler im einheimischen Lernkontext eine spezielle Lernkultur, die möglichst viele Teil- aspekte der aktuellen Methodologie im Fremdsprachenunterricht abdeckt und die landeskundlichen Inhalte vermittelt, zugleich aber auch die einheimischen Anfor- derungen in Sachen Kulturvermittlung, kulturspezifische Themen usw. berück- sichtigt. Auf den Iran bezogen scheint dieser Umstand daher einerseits sicherzustellen, dass es sich nicht um ein traditionelles Unterrichtsgeschehen handelt, in dem die deutsche Sprache ausschließlich als Unterrichtsgegenstand fungiert, sondern es soll eine Lernsituation hergestellt werden, in der der Unterricht handlungsorien- tiert, kommunikativ und interkulturell ausgerichtet verläuft. Das auf die Lernkultur zurückführbare generelle Problem der Kulturdifferen- zen gilt für alle „westlichen“ Fremdsprachen im Iran. Für alle weiteren Fremd- sprachen außer dem Englischen und dem Arabischen stellt sich zusätzlich die grundlegende Frage des „Warum?“. Gibt es genug Motive und Gründe für das Deutschangebot in iranischen Schulen? Das Thema Motivation für DaF im irani- schen Kontext ist fast nicht behandelt worden, und es fehlen empirische For- schungen diesbezüglich. Die Auf- und Abwertung des Deutschangebots im Iran – und hier im Schulkontext – benötigt eine zuverlässige Beschreibung der Motivati- onsfaktoren. Es ist insofern wichtig, diese Forschungslücke zu schließen. Außer- dem stellt sich ebenso die Frage, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um diese Motivation überhaupt zu bewirken. Genau diese Fragestellung führt zur Überlegung, ob und wie die regionalen Lehrwerke zu dieser Motivationsbildung beitragen können. Jegliche Überlegungen setzen aber immer voraus, dass der Fremdsprachenunterricht und dessen Relevanz für die persönliche Entwicklung und berufliche Zukunft der Schüler von der Bildungspolitik anerkannt und unter- stützt wird. Dies scheint aber bei der iranischen Lernkultur und Bildungspolitik Mostafa Maleki 70 nicht genügend der Fall zu sein. Die Gründe dafür werden im Folgenden genauer erläutert. Was den Zweck des Deutschlernens angeht, muss man hier anmerken, dass im Iran Deutsch i.d.R. erst nach der Schule gelernt wird und damit immer einen wis- senschaftlichen Bezug hat. Insofern scheint die iranische Politik hier auch kohä- rent zu sein. Aber die Sprache dient selten dazu, nur Fachbücher zu lesen. Sprache soll ermöglichen, sich selbst auszudrücken und andere zu verstehen. Diese Er- kenntnis zusammen mit der Forderung, die interkulturelle Komponente in Sprach- lehrwerken zu berücksichtigen, würde bezogen auf den Iran bedeuten, dass die behandelten Themen sowohl den Iran als auch Deutschland abdecken sollten. In Sprachlehrbüchern sollte die Sprache anhand von Alltagsgeschichten Jugendlicher erlernt werden, indem man z.B. erzählt, welche Hobbies (Sport, Musik, Lesen) ein deutscher Jugendlicher hat und welchen Aktivitäten er tagsüber folgt. Damit soll den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, auch Deutsch zu sprechen und zwar über die Dinge, über die sie sprechen wollen. Die zuletzt erwähnte Problematik führt zu folgender Überlegung: Ob und wie kann ein regionales Lehrwerk dabei helfen, dass einerseits die Skepsis bzw. der Widerstand seitens der Politik überwunden wird, und es anderseits den Anforde- rungen einer interkulturell ausgerichteten Fremdsprachendidaktik gerecht wird. Fraglich sind in diesem Zusammenhang sicherlich zwei Aspekte:  Lässt sich ein regionales DaF- Lehrwerk im Iran entwickeln, und wenn ja, wie?  Wie kann dabei eine Trennung der sprachlichen und kulturellen Kom- ponenten erzielt werden? 4 Regionale Lehrwerke für eine regionale Lernkultur – die Situation im Iran Das Thema Deutschunterricht in der Schule taucht oft im Zusammenhang mit der Arbeit mit den passenden Lehrwerken im Iran auf (vgl. Dousteh Zadeh 2006: 176). Nach der islamischen Revolution im Jahr 1979 und der anschließenden „Kulturrevolution“ wurde im Iran ein Überprüfungsverfahren in zahlreichen Be- reichen, unter anderem im Hochschulsektor, eingeleitet. Infolgedessen kamen grundlegende Bildungsreformen zustande. Die Bearbeitung von Lehrbüchern war von diesem Prozess nicht ausgeschlossen. Zuständig für das Schulfach Deutsch ist das Ministerium für Bildung und Erziehung, welches auch die Konzeption fremd- sprachlicher Bildung in der Schule und die Entwicklung von Curricula dafür durchführt. In diesem Reformprozess mussten die Deutschbücher nach Prinzipien der neuen Hochschulpolitik bearbeitet und weiterentwickelt werden. Drei Grund- prinzipien dabei waren (vgl. Dousteh Zadeh 2005: 176): Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 71 1. Erwerb der deutschen Sprache für das Kennenlernen einer neuen Welt. 2. Erkunden einer neuen Welt bzgl. der Wissenschaft, Technik, Politik etc. 3. Das Kennenlernen neuer Tendenzen für den Fortschritt in der Wis- senschaft, besonders das Gewinnen von Einsichten in den Technik- und Wissenschaftsbetrieb durch die deutsche Sprache. „Das Kennenlernen einer neuen Welt“ stand im Mittelpunkt der Zielsetzung. Wie aber dies genau durch das Lernen der Fremdsprache zu erreichen ist, wurde kaum ausdiskutiert. Hier stellt sich daher die Frage, inwieweit die getroffenen bildungs- politischen Entscheidungen heutzutage auf fachdidaktischen Erkenntnissen beru- hen. Wie kann „das Kennenlernen einer neuen Welt“ mit der Befürchtung in Ein- klang stehen, dass die kulturellen Handlungs- und Deutungsmuster der Schüler beim Fremdsprachenlernen beeinflusst werden? Diese Verhältnisse rücken außer- dem die Frage ins Blickfeld, ob und wie die mit der Fremdsprachenvermittlung einhergehende „Kulturvermittlung“ missverstanden wird, und wie die eventuellen Missverständnisse beseitigt werden können. Zuständig für die Erstellung der Lehrbücher im Iran ist die „Organisation for Educational Research and Planning (OERP)“, welche dem iranischen Ministerium für Bildung und Erziehung angeschlossen ist. Jahrelang herrschte im iranischen Schulkontext ein grammatisch-didaktisch orientierter Fremdsprachenunterricht. Sehr wenige Schüler können sich daher nach der Schulzeit und vor der Aufnahme an der Universität in der englischen Sprache ausdrücken. Das zwingt viele Studen- ten, sich an privaten Sprachschulen anzumelden, um die nötigen Sprachkenntnisse für das Studium im Iran oder im Ausland zu erwerben. Nach 27 Jahren habe man 2013 Änderungen für den Fremdsprachenunterricht vorgenommen: Es geht um ein „Learning Package for Foreign Languages“, bei dem der „Self-believing, Active, Value-based Communicative Approach“ (Anani Sarab 2013) angestrebt wird. Man verfolge eine audiolinguale und auch kommuni- kative Methode und hat dem Lehrbuch zusätzliche Materialien wie CDs, Arbeits- bücher usw. hinzugefügt. Aktive Teilnahme der Schüler am Unterricht, Gruppen- arbeit und die Rolle des Lehrers als der Leiter sollten im Mittelpunkt des neuen Ansatzes stehen. Mit dem „Self-believing“ sei das Erlangen eines Selbstwertge- fühls gemeint, das den Lernenden ermutigt, sich auszudrücken und zu kommuni- zieren. Dabei sollte auch eine Selbstschätzung im Hinblick auf Identität und nati- onale, soziale und religiöse Wertvorstellungen erreicht werden (vgl. Anani Sarab 2013). In staatlichen Schulen Für die Schüler ab dem siebten Schuljahr wurde das Lehrwerk „Wir lernen Deutsch“ erstellt. Die Siebtklässler fangen meist bei null an, Deutsch zu lernen. Mostafa Maleki 72 Das Lehrwerk besteht aus drei Lehrbüchern für das siebte, achte und neunte Schuljahr. Die drei Lehrbücher sollen die Schüler nutzen, um bis „zu einem be- stimmten Niveau“ Deutsch zu lernen. Die Schüler sollen lernen, später in der jeweiligen Fremdsprachen über allgemeine Sachen im Alltag zu kommunizieren (vgl. Anani Sarab 2013). Ohne auf eine Analyse des Lehrwerkes eingehen zu wollen, wird im Folgenden der Aspekt „Landeskunde“ anhand einiger ausgewählter Beispiele aus diesem Buch kurz behandelt. Das Lehrwerk richtet sich an die iranischen Schüler ab der siebten Klasse, die sich zwischen den drei angebotenen Fremdsprachen Englisch, Deutsch und Französisch für die deutsche Sprache entschieden haben. Das Kurs- buch enthält Textpassagen, die zumeist recht lang sind und so den Kompetenzen der Sprachlernanfänger nicht gerecht werden. Die abgebildeten Personen sind meist zugleich die Hauptpersonen in dem gesamten Lehrwerk. Es scheinen hier Veränderungen in der Methodik vorgenommen worden zu sein. Man sieht mehr Bilder, mehr Themen und Kommunikation im Lehrbuch. Inhaltlich kann man aber auf den ersten Blick feststellen, dass das Lehrbuch eine stark ausgangsorien- tierte Landeskunde beinhaltet. Abb. 1: Wir lernen Deutsch 34 Abb. 2: Wir lernen Deutsch 3, S. 28 Bei einem Dialog tauschen sich Sara und Farsaneh über ihre Hobbies aus und dar- über, wie sie ihre Zeit am Wochenende verbringen werden. Man hat im Iran am Donnerstag und besonders am Freitag das Wochenende. Ein iranischer Schüler im Deutschunterricht würde sich aber eher dafür interessieren, wann das Wochenen- de in Deutschland ist und welchen Hobbies ein deutscher Jugendlicher am Wo- chenende nachgeht. Er/Sie würde auch ein paar deutsche Namen/Vornamen kennenlernen wollen. Hier sieht man aber den Dialog zwischen zwei iranischen Figuren mit iranischen Namen. 4 Die im Artikel verwendeten Abbildungen haben im Original dieselbe geringe Druckqualität. Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 73 Abb. 3: Wir lernen Deutsch 1, S. 64 In der Abb. 3 wurde zwar ein deutscher Familienname gewählt, das Foto von Frau Schneider scheint jedoch nicht zu passen. Außerdem kann das Aufräumen des Hauses von der Mutter wegen der Besprechung des Vaters am Abend durchaus negativ interpretiert werden, indem die Rolle der Frau in der iranischen Gesell- schaft herabgesetzt würde. Man hätte deswegen ein anderes Motiv wählen können. Es stellt sich auch die Frage, ob das Thema ein modernes und das Foto ein realis- tisches sind. Abb. 4: Wir lernen Deutsch 3, Beispiel Obwohl „Omelett“ auch international als ein Gericht mehr oder weniger bekannt ist, bezeichnet das Wort „Omelett“ in dieser Ausgabe ein iranisches Essen, das aus Eiern und Tomaten gemacht wird und oft als eine einfache, aufwandslose Mahl- zeit gilt. Erstens hätte man hier die Deutschlernenden mehr mit der deutschen Küche vertraut machen können. Zweitens hätte man hier ein besseres Beispiel wählen sollen. Das Gericht „Omelett“ wird in der Alltagssprache oft als ein sehr einfaches Essen erwähnt, das ohne Aufwand anzurichten ist und die iranische Küche kaum repräsentiert. Abb. 5: Wir lernen Deutsch 1, S. 55 Mostafa Maleki 74 Abb. 6: Wir lernen Deutsch 2, S. 35 In diesem Dialog und auch bei der Iran-Landkarte geht es um die iranischen Städ- te. Die iranischen Schüler haben bereits mindestens beim Geographie-Unterricht in der Schule etwas über die iranischen Städte erfahren und diese kennengelernt. Die Wiederholung im Deutschunterricht mag da etwas langweilig sein. Obwohl man in diesem Lehrbuch auch Dialoge über oder Landkarten aus Deutschland sieht, scheint aber die Landeskunde der Ausgangssprache und -kultur dominant zu sein. Wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, scheinen die oben erwähnten Prin- zipien keine Entsprechung in der Realität aufzuweisen: Es gibt in staatlichen Schu- len nur in geringem Maß ein Deutschangebot, und wenn überhaupt, scheint dies didaktisch-methodisch nicht genügend reflektiert zu sein. Laut der wissenschaftli- chen Diskurse wird aber Landeskunde oft als integrierter Bestandteil des Fremd- sprachenunterrichts gesehen. Die landeskundlichen Gegenstände aus der Zielkul- tur könnten zur interkulturellen Kompetenz der Schüler beitragen. Mit dem Fremdsprachenlernen sucht man den Zugang zu einer anderen Kultur, und der Unterricht in einer Fremdsprache ist daher notwendig interkulturell (vgl. Krumm 1994: 28). Obwohl das Lehrbuch in vielerlei Hinsicht kritikwürdig ist, wurde hier bei diesen sehr einfachen Beispielen auf kulturspezifische Gesichtspunkte hinzu- weisen versucht. Allerdings muss man sich hier die Frage stellen, ob das Lehrwerk die grundsätzlichen Ziele des Fremdsprachenlernens für die Vermittlung der vier Fertigkeiten berücksichtigt hat. Darf/kann man das Lehrbuch „Wir lernen Deutsch“ als ein regionales Lehrbuch bezeichnen? Die Antwort lautet „Nein“. Was macht aber ein regionales Lehrwerk aus? In der Literatur findet man unterschiedliche Definitionen (vgl. Nestvogel 1991). Anfangs, vor allem in den 1960er-Jahren, wurden im Zuge des Kolonialis- mus zwar die „einheimische Lehr- und Lerntraditionen“ stark verdrängt, um durch den Transfer der Lehrwerke bestimmte Bildungsziele zu erreichen. In den darauffolgenden Jahrzehnten und beim Eintritt der kommunikativen und an- schließend interkulturellen Ansätze im Fremdsprachendidaktik kamen aber neue Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 75 Ansichten hinzu (vgl. Breitung; Lattaro 2001). Osterloh (1978: 191f.) vertritt z.B. in den 1990er-Jahren die Meinung, dass die Fremdsprache „primär ein Instrument zur Bewältigung der eigenen Situation und Fortbildung der eigenen Identität“ sei. Dabei hat sich die Diskussion über die Regionalisierung der Lehrmethoden und Materialien im Fremdsprachenunterricht erweitert. Die neuen Perspektiven richte- ten sich an die regionale Spezifik des Lernens und Lehrens. Dadurch entstand die kritische Haltung gegenüber einem „Export“ der Deutschlehrwerke in andere Lehr- und Lerntraditionen, und das Thema „regionale Lehrwerke“, die Entwick- lung eigenständiger Curricula, die sich an den Zielen und Traditionen des jeweili- gen nationalen Bildungssystems orientierten, gewannen an Bedeutung. Während die Regionalisierung zunächst als „herablassende Anpassung“ an lokale Bedingungen missverstanden wurde, brachten neue interkulturelle Gesichtspunkte im Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) die „Partnerschaften“ als die Voraussetzung für einen gelungenen Fremdsprachenunterricht ins Spiel. Bei der Lehrwerkentwick- lung wurde immer mehr auf kulturspezifische Themen und sogar einheimische Wertvorstellungen geachtet (mehr dazu Breitung; Lattaro 2001). Zu den Ansatz- punkten für die Kritik an den globalen Lehrwerken sei die Tatsache genannt, dass diese Lehrbücher sich nicht an „bildungspolitischen und gesellschaftlichen Orien- tierungen der Einsatzländer“ orientieren. Sie berücksichtigen weder den allgemei- nen Bedarf, noch die Interessen und Wünsche der Lernenden. Ein weiterer Kri- tikpunkt gegenüber den universalistischen Lehrwerken ist, dass sie die einheimi- schen Lehrer mit anderen didaktischen Erfahrungen aufgrund anderer Lerntraditi- onen außer Acht lassen. Vor allem mit dem Einsatz des interkulturellen Ansatzes im Fremdsprachenunterricht kamen andere Kritikpunkte gegenüber den globalen bzw. „universalistischen“ Lehrbüchern auf: wie die Präsentation anderer Traditio- nen und Wertvorstellungen als die für das Einsatzland geeigneten, die fehlende Berücksichtigung der Unterrichtsziele, -inhalte und -methoden sowie die Missach- tung der morphologischen, syntaktischen und semantischen Differenzen und die Gemeinsamkeiten mit der Ausgangssprache (vgl. Krumm 2001, Breitung; Lattaro 2001). Unter diesen Bedingungen muss der Deutschunterricht in den iranischen Schulen den Aufbau bzw. die Weiterentwicklung zielgrupppenspezifischer und regional konzipierter Lehrwerke fordern, sich den hiesigen Normen und kulturel- len Inhaltsaspekten und einheimischen Lehr- und Lerntraditionen anpassen. Das Lehrwerk sollte aber mit allen entscheidenden Faktoren des Unterrichtsprozesses vernetzt sein (vgl. Krumm 1999: 119). Rein sprachpraktisch kommt hinzu, dass regionale Lehrwerke den Vorteil haben, dass sie die Fallstricke der Grammatik so erklären, wie es der lokale Sprachlerner empfindet. Ein DaF-Buch aus Deutsch- land ist für Deutschlerner aus aller Welt konzipiert und würde nicht individuell auf die Bedürfnisse iranischer Deutschlernender eingehen. Hinzu kommt, dass man beim Zuschnitt auf eine Sprachlernergruppe auch den Lernfortschritt verbessern Mostafa Maleki 76 kann. Das spart nicht nur Zeit beim Sprachenlernen, sondern erhöht auch die Motivation, weil man einen Fortschritt sieht. Das Thema Landeskunde und die Kulturvermittlung sind ein Teil eines großen komplexen Funktionsgefüges, das bei der Erarbeitung eines Lehrwerkes berück- sichtigt werden muss. Auf den Iran bezogen wäre es gut, wenn ein Lehrwerk ei- nerseits den iranischen Alltag auf Deutsch beschreibt, also durchaus auch im Sinne der iranischen Bildungspolitik. Die Kinder müssen auch darüber reden können, wie ein Moscheebesuch vor sich geht oder welche Feste sie feiern. Andererseits muss das Buch aber zeigen, womit sich deutsche Jugendliche beschäftigen, z.B., dass man die Oma besuchen muss, weil sie meist nicht im selben Haus wohnt, dass man Sport treibt, sich für Rap-Musik interessiert etc. Wenn Sprache mit in- terkultureller Kompetenz Hand in Hand gehen soll, müssen das Vokabular und die Sprachkompetenz erlauben, sowohl über die Lebenswirklichkeit im Iran als auch über die Lebenswirklichkeit in Deutschland zu sprechen. In solch einem Konzept könnte die Sprache ihre Funktion als Brücke zwischen den Kulturen erfüllen. In einigen privaten Schulen Zusammenfassend kann man feststellen, dass es die Bereitschaft und das Interesse im Iran gibt, Deutsch an iranischen Schulen anzubieten. Dieser Prozess war je- doch hauptsächlich in den privaten Schulen im Iran möglich. Sie sind zwar an das Bildungsministerium gebunden, erlauben sich aber mehr Freiräume in Sachen Lehrpläne oder Curriculum. In staatlichen Schulen wäre dies nicht möglich, solan- ge die jetzige Haltung gegenüber dem Fremdsprachenunterricht in der Schule vorherrscht. Eine Lösung dafür wäre die Entwicklung von regionalen Lehrwerken, deren Verwirklichung eine Partnerschaft mit den deutschen Deutschanbietern – wie dem Goethe-Institut – oder deutschen Schulen voraussetzt. Man suchte nach einer Offenheit und wurde in manchen privaten Schulen fündig: Die „Partner- schaft“ für den Deutschunterricht wurde bisher mit fünf privaten Schulen umge- setzt. Das DSIT (Deutsches Sprachinstitut Teheran) ist im Moment in diesen Schulen aktiv und organisiert Deutschkurse mit, bietet diese an und bildet die Lehrkräfte aus. Das Konzept von Partnerschulen im Rahmen der Initiative „PASCH-SCHULEN“5 gilt noch als „eine wichtige Lösung“, um im Iran Deutsch an den Schulen zu fördern. Dies hätte bedeutet, dass man ein Abkommen oder zumindest MoU (Memorandum of understanding) mit dem Ministerium für Bil- dung und Erziehung verhandelt und unterzeichnet hätte. Die politischen Rah- menbedingungen erlaubten dies aber nicht. Also bat man um eine Ausnahmerege- lung in der Art, dass das DSIT aus dem Iran noch PASCH-Schulen nach dem eigentlichen Enddatum nachmelden dürfte. Dann sprachen die Kulturabteilung der deutschen Botschaft und das DSIT in Teheran mehrfach mit geeigneten irani- 5 Mehr zu den Paschschulen auf Wikipedia unter der Initiative „Schulen: Partner der Zukunft“. Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 77 schen Schulen und fanden heraus, dass es auch eine einfachere Lösung gibt: Irani- sche Gymnasien bekommen, wie z.B. in Deutschland, ihr Curriculum vom irani- schen Ministerium für Bildung und Erziehung vorgegeben. Das können sie nicht nach eigenem Gusto abändern. Im Iran gibt es jedoch eine Besonderheit: das Zu- satzcurriculum, das die Schulen selbst nach bestimmten Vorgaben füllen dürfen. Sprachausbildung ist im Rahmen des Zusatzcurriculums möglich. So haben mitt- lerweile fünf Schulen Deutsch im Angebot und sind PASCH-Schulen. Der Status als PASCH-Schule ist insofern interessant, als Lehrerfortbildungen genauso be- zahlt werden können, wie die Teilnahme von Schülern an Veranstaltungen des Schüleraustausches. Das Programm trägt auch seine ersten Früchte. Im Jahr 2014 nahm erstmals eine Schülerin einer PASCH-Schule an der Deutsch-Olympiade teil und gewann als einzige iranische Teilnehmerin auf Anhieb den dritten Preis.6 Zwei weitere Punkte Die Fremdsprache wird im Iran i.d.R. ab der siebten Klasse angeboten. Das zu- nehmende Bewusstsein von Eltern in Bezug auf frühes Lernen bewegt sie, ihre Kinder bereits ab dem dritten oder vierten Lebensjahr an private Sprachschulen zu schicken. Die Methodik in diesen Sprachinstituten sieht zum Teil anders aus. Sie wenden in den Zielländern erstellte Lehrwerke an, orientieren sich mehr oder weniger an der Zielkultur und setzen neuere Unterrichtsmethoden ein. Erst im 13. Lebensjahr fängt der Englischunterricht an der Institution „Schule“ an. Dies führt dazu, dass viele Schüler, besonders in Großstädten, sich mit einer neuen Unter- richtsmethodik und vor allem neuen Inhalten im Fremdsprachenunterricht kon- frontiert sehen. Des Weiteren muss man darauf achten, dass die iranischen Lernenden der deutschen Sprache kein homogenes Publikum darstellen und aus kulturell und sozial unterschiedlich geprägten Familien kommen, die sich in zahlreichen Grup- pen mit unterschiedlichen Zielen, Bedürfnissen und Interessen aufteilen. Eine Umfrage bei den bereits bestehenden Deutschanbietern in den iranischen Schulen könnte uns die Antwort auf die Frage geben, ob die Lernkultur in erster Linie ein Produkt lokaler Bedingungen ist oder ein Ausdruck von gesellschaftlichen Traditi- onen, die bei den Schülern bestehen. Die Durchführung und Auswertung einer solchen Umfrage stellt die Basis für alle weiteren Überlegungen diesbezüglich. Partnerschaften mit deutschen Organisationen wie dem Goethe-Institut einer- seits und die Erforschung der Motivation der iranischen Deutschlernenden ande- rerseits scheinen die wichtigsten Baustellen in diesem Bereich zu sein. Dabei sollte das große Potenzial von an iranischen Universitäten ausgebildeten Deutschlehrern und DaF-Doktoranden erkannt und ausgeschöpft werden. 6 Otto Graf (Leiter der Kulturabteilung der deutschen Botschaft in Teheran): mündliche Mitteilung vom 20.10.2014. Mostafa Maleki 78 5 Schlussbetrachtung In diesem Beitrag geht es um den Lernkulturdiskurs innerhalb des (fremdspra- chenpolitischen) Lernkontextes im Iran. Will man den DaF-Unterricht in den iranischen Schulen thematisieren, kommt dem Thema eine besondere (in- ter)kulturelle Bedeutung zu, und zwar aus einer thematischen und didaktischen Sicht. Der Beitrag zeigt, dass das Thema „Lernkultur“ einen besonderen Platz bei den bildungspolitischen Entscheidungen im Iran einnimmt. In einem ersten Schritt bei der systematischen Auseinandersetzung mit solch einer Fremdsprachenpolitik im Umgang mit der Vermittlung der deutschen Sprache im Iran gilt es deswegen, das Deutschangebot einer lernkulturspezifischen Analyse zu unterziehen. Mit Blick auf das große Interesse für das Deutschlernen im Allgemeinen und die Situation des Deutschangebots in iranischen Schulen lässt sich feststellen, dass hier mehr Unterstützung seitens der Politik gefordert wird. Es wurde in diesem Beitrag auch kurz die Frage behandelt, ob und wie eine Regionalisierung der Lehrwerke unter Einbeziehung sämtlicher Potenziale eine Diversifizierung des Deutschangebots bewirken kann. Hier wird aber nochmal versucht, konkrete Ideen und kreative Vorschläge für diese Entwicklung zu liefern. Auf einer politischen Ebene werden zwar Initiativen gestartet, diese bringen aber meist nicht die gewünschten Ergebnisse. Die Initiativen sollten von wissenschaft- lich fundierten Diskussionen begleitet werden, die die Vorzüge und Schwierigkei- ten der Vermittlung der deutschen Sprache im Iran unter die Lupe nehmen und den Politikern Optimierungsvorschläge dafür unterbreiten können. Dadurch könnten eine fachdidaktische Legitimierungsgrundlage und Rahmenbedingungen für die Vermittlung der deutschen Sprache in der Schule festgelegt werden. Dafür kann im Rahmen einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit das vorhandene Po- tential der iranischen DaF-Anbieter an iranischen Hochschulen (wie an der Uni- versität Teheran7) genutzt werden. Aus einer linguistisch sprachwissenschaftlichen Sicht könnten z.B. in einem Sprachvergleich auf gemeinsame indogermanische Ursprünge und die nicht wenigen Gemeinsamkeiten in der Wortbildung, Lautlehre und auch im Wortschatz eingegangen werden. Genauso wichtig sind wissenschaft- liche Argumente, die das Lernen einer Fremdsprache – hier das Deutschlernen – als eine Chance für den Anschluss an die in der Welt gängigen mehrsprachigen Bildungen und das Kennenlernen der Fremdperspektive sehen. Interkulturalität und Mehrsprachigkeit in der schulischen Praxis sollen gemeinsam thematisiert und diskutiert werden. Hervorgehoben werden muss auch die Bedeutung der deut- schen Sprache als eine Bildungs- und Wissenschaftssprache. Das Unterrichtskonzept soll auf einer institutionellen Ebene der aus dem Kon- struktivismus folgenden Idee des lernerorientierten Unterrichts folgen und die 7 Im Rahmen einer vom DAAD-geförderten germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) mit dem Germanistik-Institut der Universität Potsdam bietet die deutsche Abteilung der Universität Teheran seit 2005 den Promotionsstudiengang DaF an. Lernkultur im Deutschunterricht im iranischen Schulkontext 79 interkulturellen Bedürfnisse der Schüler mit kulturspezifischen Bedenken der In- stitution in Einklang bringen. Um dies zu schaffen, müssen sich die beteiligten Akteure und Experten in der Lehrplanentwicklung zusammenzusetzen und im Rahmen eines Dialogforums den Legitimitätsrahmen, die Chancen und Arbeits- schritte diskutieren. Die Behandlung des Themas auf dieser Ebene zeigt, dass das Deutschangebot in der Schule im Iran die Hindernisse seiner Entwicklung gerade in der fehlenden Diskussion über die Erstellung eines gemeinsamen Konzepts dafür findet. Zweifelsohne folgt das Curriculum in Inhalt und Gestalt der Richtli- nie einer umfassenden Bildungspolitik, welche eine kulturbedingte Überarbeitung eines Lehrwerkes für den Schulunterricht im Iran verlangt. Kaum bestreitbar ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass eine reine Sprachbildung nicht mehr möglich ist und dass der Deutschunterricht in seiner jetzigen Form kaum die erforderliche Anpassung an die Anforderungen der Wirklichkeit erzielen kann. Es scheint, dass im iranischen Schulkontext „Regionalisierung“ hinterfragt wird. Wie auch im letzten Kapitel ausgeführt, besteht die Voraussetzung für die Entwicklung eines regionalen Lehrwerkes in einer Partnerschaft zwischen den Institutionen in der Ausgangs- und Zielsprache. Dazu brauchen die Schulen im Iran auch deutsche Partner. Unabdingbar sind diese Schulpartnerschaften beson- ders deshalb, weil die Schüler im Iran kaum die Möglichkeit haben, im „kommu- nikativen Ernstfall“ ihr Deutsch zu üben. Bei der Regionalisierung ist es daher wichtig, dass auch eine „Internationalisierung“ mit ihr einhergeht. Die Erstellung regionaler Lehrwerke ist besonders auf einer didaktischen Ebene zu diskutieren. Das Deutschangebot in der Schule ist nicht allein auf die Vermittlung des sprachlichen Wissens beschränkt. Man kann überlegen, wie es sich regional gestalten lässt. Beim Deutschunterricht in der Schule müssen sowohl die Kom- munikationsfähigkeiten der Schüler als auch die Vermittlung interkultureller Kom- petenzen im Vordergrund stehen. Dabei kann eine Zusammenarbeit mit Didakti- kern aus dem Universitätsbereich und den Mittlerorganisationen wie dem Goethe- Institut in Betracht gezogen werden. Folgende Punkte dürfen nicht außer Acht gelassen werden: Ein regionales Lehrwerk, erstellt von dafür geeigneten und erfah- ren Didaktikern und Schulpraktikern, könnte den Unterricht Deutsch als Fremd- sprache an den Schulen effizienter und damit attraktiver gestalten und gleichzeitig den vom Gemeinwesen beabsichtigten Bildungsprozess zielorientierter verfolgen. Hier sollte man sich nach einer „interkulturellen Pädagogik“ ausrichten. Dabei werden interkulturelle Begriffe und Begriffsverknüpfungen (vgl. Grosch; Hany 2006) eingeführt und eine „interkulturelle Personalentwicklung“ (Bolten 2004) durch das Erlernen der deutschen Sprache angestrebt. Die sprachlichen und pho- netischen Bestandteile des Deutschunterrichts werden im Vergleich zur Mutter- sprache – hier Farsi – behandelt. Dabei kommt die thematische Gestaltung von Lehrmaterial auch den Interessen der iranischen Schüler entgegen, welche neben der Landeskunde und Kulturkomponente konkrete Fragen zum interkulturellen Kontakt behandeln. Mostafa Maleki 80 Kurzum, Hervorhebung der Gemeinsamkeiten, Beleuchtung der Kulturkompo- nente anhand interkultureller Vergleiche, gegenseitige kulturelle und sprachliche Bereicherung und bessere Verständigung zwischen beiden Kulturen gehören zu den Querschnittaufgaben der Institution. Haghani (2008) zufolge mangelt es aber insgesamt an „Kohärenz“ der beteiligten Personen und Institutionen beim Auf- und Ausbau des Deutschangebots im iranischen Lernkontext. Es fehlen außerdem empirische Forschungen, die das Konstrukt DaF und die Motivation dafür im Iran untersuchen. Literatur Altmayer, Claus (1997): Zum Kulturbegriff des Faches Deutsch als Fremdsprache. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 2 (2). 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Die Vermittlung schriftsprachlicher Kompetenzen rückt deshalb nicht nur in der Erwachsenenbil- dung, sondern auch für Lehrkräfte im Sekundarbereich und im Übergang Schule- Beruf in den Fokus des Interesses, wenn sie neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler, etwa im Rahmen von neu eingerichteten Internationalen Klassen, unter- richten. Am ersten Tag der Tagung wurden den Besuchern des Themenschwerpunkts zwei Beiträge von Tabea Becker zum Thema „Phonologische und morphologische Stra- tegien beim Schreiben in der Zweitsprache“ und Frauke Teepker und Susanne Krauß zum Thema „Berufsbezogene Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch“ angeboten. Am zweiten Tag trugen vier Beiträge zum Themenschwer- Koordinationsteam TSP 2 86 punkt bei. Ulrich Dronske diskutierte mit dem Thema „Kann denn Testen Sünde sein?“ Vor- und Nachteile des Einsatzes des DSH I in Lerngruppen für Seitenein- steiger aus dem Ausland ohne Deutschkenntnisse. Celia Sokolowsky stellte die Förderung von Digital Literacy in Integrationskursen mit Alphabetisierung durch den Einsatz des Online-Portals Ich-will-Deutsch-lernen.de in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Alexis Feldmeier stellte erste Ergebnisse eines Pilotprojektes in Ko- operation mit einem Bielefelder Berufskolleg vor, bei dem es um die empirisch basierte Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für den Unterricht Deutsch als Zweitsprache mit jugendlichen Flüchtlingen geht. Schließlich stellte Marianne Schöler die „Bedeutung bildungssprachlicher Kompetenzen am Übergang zwi- schen Schule und Beruf“ in den Fokus ihres Beitrags. Am dritten Tag trugen Ga- briele Kniffka und Eva Dammers zu einem erfolgreichen Abschluss des Themen- schwerpunkts im Rahmen der FaDaF-Tagung 2014 bei. Gabriele Kniffka trug das Thema „Integration von Fach und Sprache“ vor und diskutierte die Bedeutung von konzeptionell-schriftsprachlichen Kompetenzen im Fachunterricht. Abschlie- ßend befasste sich Eva Dammers in ihrem Beitrag mit dem Thema „Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie“. Trotz der hohen Qualität und Aktualität aller der in den drei Tagen geleisteten Beiträge wurden für den vorliegenden Band drei ausgewählt, die für neuere Ent- wicklungen stellvertretend stehen. Mit ihrem Beitrag verortet sich Marianne Schöler im Übergang zwischen Schule und Beruf und diskutiert die Bedeutung bildungssprachlicher Kompetenzen für Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache. Frauke Teepker und Susanne Krauß greifen mit ihrem Beitrag die Vermittlung schriftsprachlicher Kompetenzen bei Erwachsenen auf und legen ihr Augenmerk auf die berufsbezo- gene Alphabetisierung. Die Autorinnen stellen Ergebnisse eines Forschungspro- jekts vor und besprechen methodische Ansätze für das Erlernen eines berufsbezo- genen Wortschatzes, die sich auch für die Arbeit mit lernungewohnten Teilneh- menden eignen. Eva Dammers widmet sich in ihrem Beitrag ebenfalls der Erwach- senenbildung und stellt Ergebnisse eines Forschungsprojekts vor. Der Fokus ihrer Arbeit liegt dabei auf dem subjektiven Lehrerwissen und der Förderung von Leh- rerautonomie im Rahmen eines methodisch offenen Unterrichts (Wochenplan- und Stationenarbeit), in dem ein arbeitsplatzbezogenes Portfolio zum Einsatz kommt. Damit wird in dem Lernerautonomie fördernden Unterricht ein Akteur in den Blick genommen, der bis heute wenig Beachtung gefunden hat: die Lehrkraft. Eva Dammers geht der Frage nach, wie Lehrer- und Lernerautonomie miteinander zusammenhängen. Alexis Feldmeier für das Koordinationsteam Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung Marianne Schöler (Freiburg, Deutschland) 1 Einführung Für den erfolgreichen Übergang in eine Berufsausbildung und deren Bestehen ist das Beherrschen der deutschen Sprache von entscheiden- der Bedeutung. Dies gilt nicht nur für allgemeine Sprachkompetenzen, sondern auch für die Fähigkeit, die deutsche Sprache im beruflichen Kontext situationsgerecht und korrekt anzuwenden. (Denneborg 2012, Vorwort). Der Übergang von der Schule in den Beruf stellt einen besonderen Meilenstein in der Bildungsbiographie Jugendlicher dar, die mit dem Ende der Schulzeit in einen neuen Lebensabschnitt eintreten. Der Verlauf der Ausbildungsprozesse ist dabei von besonderer Relevanz, steht er „doch am vorläufigen Ende einer Reihe nach- einander durchlaufener Bildungsinstitutionen und ist gleichzeitig ‚Bindeglied‘ und zentrale Voraussetzung für eine berufliche Integration“ (Beicht; Granato 2009: 4). Die Bewältigung des Übergangs von der Schule in den Beruf zu sichern, zu stützen Marianne Schöler 88 und eine sprachliche Brücke zu bauen, die eine erfolgreiche Teilhabe an Berufs- ausbildung und nachfolgender Erwerbsarbeit ermöglicht, kann daher als Quer- schnittsaufgabe im Bedingungsgefüge von Bildung und Ausbildung betrachtet werden. Eine gelingende Einmündung in den dualen Bildungsgang scheint jedoch nicht in allen Bereichen durchgängig zu funktionieren, denn noch immer gibt es im Bil- dungs- und Ausbildungsbereich zu viele Jugendliche mit und ohne Migrationshin- tergrund, die nicht über eine erfolgreiche Schul-und Berufsbiographie verfügen. Besonders Jugendliche nicht-deutscher Herkunft aus bildungsdistanten Elternhäu- sern sind hier betroffen. Der Anteil heranwachsender Jugendlicher mit Migrations- hintergrund beläuft sich in westdeutschen Metropolen auf ca. 40-50%. Die Ausbil- dungssituation dieser Jugendlichen ist nach wie vor prekär, so münden beispiels- weise ca. ein Drittel in Übergangssysteme, ca. 22% lösen ihre Ausbildungsverträge vorzeitig auf. Dabei differiert die Auflösungsquote stark nach Schulabschlüssen; Auszubildende mit Hauptschulabschluss brechen ihre Ausbildung mehr als dop- pelt so häufig ab wie Schulabsolvent/-innen mit einer Hochschul- oder Fachhoch- schulberechtigung (vgl. Bildungsbericht 2014: 7). Mit Blick auf die gewählten Ausbildungsberufe lässt sich konstatieren, dass die- se Jugendlichen größtenteils in niederqualifizierten Ausbildungsberufen wie z.B. Friseurhandwerk oder Verkäufer/-in vertreten sind (vgl. Stürzer et al. 2012). Da- raus lässt sich schließen, dass sozial- und migrationsinduzierte Leistungsdifferen- zen bisher trotz aller Bemühungen um Bildungsgerechtigkeit nicht aufgehoben werden konnten und sich in der Ausbildungs- oder Erwerbsbiographie fortführen (vgl. Stürzer et al. 2012). Im Bildungsbericht 2014 wird zwar festgestellt, dass sich die Kompetenzen insbesondere 15-jähriger leistungsschwächerer Schüler/-innen verbessert haben. Dahingegen ist in der Grundschule – bei einem höheren Ausgangsniveau – kein Trend zum weiteren Anstieg des Leistungsniveaus beobachtbar. Zu ei- ner Verringerung der sozialen Unterschiede kam es bei der mathemati- schen Kompetenz im Grundschulbereich und bei der Lesekompetenz von 15-Jährigen. Keine Verbesserungen zeigen sich nach sozialer Her- kunft bei der Lesekompetenz der Grundschülerinnen und -schüler so- wie der mathematischen Kompetenz der 15-Jährigen. (Bildungsbericht 2014: 8) Gleichzeitig wird auf die mangelnde „Ausbildungsfähigkeit/-reife“ (Efing 2013a: 15) der Schulabsolvent/-innen hingewiesen, deren grundlegende Kompetenzen nach wie vor trotz aller Interventionen als defizitär bezeichnet werden. Befunde der PISA-Studien oder auch der ULME I – Studie (Untersuchung von Leistungen, Motivation und Einstellungen zu Beginn der Ausbildung) bestätigten die Wahrnehmung defizitärer Basiskompetenzen der potenziellen Bewerber/-in- Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 89 nen auf einen Ausbildungsplatz weitgehend (vgl. z.B. Baumert 2001, Klieme et al. 2010, Lehmann u.a. o.J., zit. n. Rexing; Keimes; Ziegler 2013: 42). Ohm; Kuhn; Funk (2007) begegnen diesem Sachverhalt mit dem Hinweis auf eine notwendige „relativ kurzfristige Förderung, die sich eng an den fachlichen Erfordernissen und den individuellen bzw. lerngruppenspezifischen Ausgangslagen orientiert“ (Ohm; Kuhn; Funk 2007: 131). Bojanowski; Koch; Ratschinski; Steuber (2013) fordern eine Disziplinen übergreifende Berufsförderpädagogik, die in einem ganzheitlichen Ansatz die Förderung benachteiligter Jugendlicher aufgreift. Auch hier wird einer integralen Sprachbildung eine besondere Bedeutung zugeschrieben (Bojanowski et al. 2013: 213). Efing hingegen favorisiert einen „ausbildungsorientierten Deutsch- unterricht“ in der Sekundarstufe I (Efing 2013b: 211ff.), während Roelcke eine Didaktik der Fachsprachen für die Haupt- und Werkrealschulen fordert (vgl. Roel- cke 2013: 319ff.). Allen Ansätzen gemeinsam ist der Blick auf die Notwendigkeit einer grundlegenden sprachlich-kommunikativen Kompetenz zur Erlangung der „Ausbildungsreife“ bzw. zur erfolgreichen Bewältigung von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit. Sprachliche Kompetenz stellt demnach einen wesentlichen Faktor dar für einen gelingenden Übergang von der Schule in die Berufsausbildung und scheint daher von besonderer Relevanz für die Einmündung in den Ausbildungsprozess und eine erfolgreiche Berufsbiographie. Sprachbildung kommt somit als integralem Be- standteil auch für diesen Übergang eine bedeutende Rolle zu. Denn fachliches und berufliches Lernen sind eng verknüpft mit sprachlichen Anforderungen, die weit über das alltagssprachliche Niveau hinausgehen. Zuwachs an fachlichem Wissen wiederum ist eng verbunden mit allgemeinsprachlicher und bildungssprachlicher oder fachsprachlicher Kompetenz. Mit fortschreitender Bildungsbiographie wer- den die Anforderungen komplexer, sowohl im Hinblick auf sprachliche wie auch auf fachliche Bildung. Die Erweiterung (fach-)sprachlicher Kompetenzen vollzieht sich dabei horizontal zwischen den verschiedenen Fächern oder Fachbereichen und vertikal durch die ansteigende Komplexität (fach-sprachlicher) Anforderungen sowohl in rezeptiver Hinsicht als auch in produktiver. Im Bildungs- und Ausbildungssystem stellt Sprachbildung daher eine Quer- schnittsaufgabe durch alle Bildungsstufen dar, von der elementaren bis hin zur beruflichen Bildung. Eine kontinuierliche Sprachbildung ist aus diesem Grund sowohl zwischen den Bildungssystemen als auch innerhalb der Lernbereiche not- wendig. Auf der Basis dieser Überlegungen ergeben sich folgende Fragen, denen in diesem Beitrag nachzugehen sein wird: 1. Welche Bedeutung hat eine durchgängige Sprachbildung für einen ge- lingenden Übergang von der Schule in den Beruf? 2. Welche didaktischen Herausforderungen ergeben sich daraus? Zur Diskussion dieser Fragen wird zunächst einmal zu klären sein, über welche sprachlichen Kompetenzen Schulabsolvent/-innen am Übergang von der Schule in Marianne Schöler 90 den Beruf verfügen sollten, damit sie als ausbildungsreif gelten. Ferner wird zum besseren Verständnis des Terminus Sprachkompetenz das mehrdimensionale Mo- dell Bachman; Palmer (1996) kurz vorgestellt, da dies wesentliche Aspekte der für einen erfolgreichen Bildungsprozess sprachlichen Teilkompetenzen aufgreift. Au- ßerdem wird betrachtet, inwieweit der Deutschunterricht weiterführender Schulen „ausbildungsorientiert“ (Efing 2013a: 22) ist und auf die notwendigen sprachlich- kommunikativen Fähigkeiten für einen gelingenden Wechsel von der Schule in die Berufsbildung vorbereitet. Dies geschieht auf der Basis von Vergleichen zwischen den Kompetenzformulierungen der Bildungsstandards für die Sekundarstufe I und für die Berufsschule sowie Lehrbuchtexten bzw. Prüfungsaufgaben. Überdies wer- den Schreibprodukte von Schüler/-innen der genannten Schulformen betrachtet, um aufzuzeigen, dass schon früh gebildete sprachpraktische Schwächen unter Um- ständen bestehen bleiben. Im Anschluss wird die Frage nach didaktischen Konse- quenzen im Hinblick auf eine passgenauere Vermittlung sprachlich-kommunikati- ven Wissens zu erörtern sein. In diesem Kontext wird das Modell des Scaffolding als eine mögliche Konzeption für einen (fach-)sprachenorientierten bzw. sprach- sensiblen Fachunterricht vorgestellt. Im Resümee wird dann zu klären sein, welche möglichen Konsequenzen in der Lehrerprofessionalisierung sich daraus ergeben. 2 Sprachkompetenz als grundlegende Voraussetzung für Teilhabe an Bildung und Ausbildung Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs werden sprachliche Kompetenzen als Dispositionen betrachtet, die im Verlauf von Bildungs- und Ausbildungsprozessen erworben werden und die Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben ermöglichen. Beck; Klieme gehen z.B. davon aus, dass Sprachkompetenz in zweifacher Hinsicht definiert werden kann, zum einen als Sprachkönnen, das dazu befähigt, eine be- stimmte Sprache zu verwenden; und zum anderen als Voraussetzung und Instru- mentarium zur Aneignung neuen Wissens (vgl. Beck; Klieme 2007: 13). Sie konsta- tieren: Theorien sprachlicher Kompetenz − seien sie linguistischer, neurolingu- istischer, sprach- oder entwicklungspsychologischer Art − zielen auf Prozesse, d.h. auf kognitive, letztlich neuronal bestimmte Prozesse der Sprachverarbeitung, auf Sprachhandlungsprozesse im kommunikativen Austausch oder auf ontogenetische Entwicklungs- und Lernprozesse. (Beck; Klieme 2007: 5) In linguistischer Sicht bedeutet Sprachkompetenz das Wissen um Morphologie, Syntax und Phonologie. Um den Begriff des Sprachkönnens und Sprachwissens er- weitert, wird sprachliche Kompetenz funktional definiert und als kognitive Dispo- sition betrachtet, d.h., Sprachkompetenz ist auch immer gleich Sprachhandlungs- kompetenz. Bachman; Palmer greifen diese Interdependenzen von Sprach- und Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 91 Sprachhandlungsfähigkeit auf und unterscheiden zwei Komponenten der Sprach- kompetenz, die „organizational competence“ und die „pragmatical competence“ (Bachman; Palmer 1996: 71; 116ff.). Die „organisatorische Kompetenz“ unterteilen sie in „grammatisches Wissen“ und „in Textwissen“ (vgl. Bachman; Palmer 1996: 71; 116ff.). Die „textuelle Kompe- tenz“ ist hier zu verstehen als diskursive Fähigkeit, „den Kontext eines Textes in kleineren linguistischen Einheiten zu erschließen“ (Linnemann 2009: 200). Die „grammatische Kompetenz“ ist zu verstehen als diejenige Fähigkeit, Regeln der Morphologie, Syntax und Semantik korrekt zu verwenden. Die „pragmatische Kompetenz“ hingegen unterteilen Bachman; Palmer in die „soziolinguistische“ und die „illokutionäre Kompetenz“. Die soziolinguistische Sprachfähigkeit bezieht sich auf die situative Angemessenheit einer Äußerung, die illokutionäre meint die funktionale Sprachfähigkeit, die zielorientiert Absichten zum Ausdruck bringt (vgl. Bachman; Palmer 1996: 71; 116ff.). Für Bachman; Palmer ist strategische Kompetenz neben dem Sprachwissen ein entscheidendes Element von Sprachfähigkeit. Strategische Kompetenz konstituiert letztendlich erst die Fähigkeit, Sprache zu verwenden. Sprachgebrauch heißt nach ihrem Verständnis, dass das individuelle sprachliche Wissen mit dem Inhaltswissen und den affektiven Schemata eines Individuums interagieren muss (vgl. Bachman; Palmer 1996: 71ff.; 116ff.). Eben dieser „kompetente“ Sprachgebrauch ist es, der eine erfolgreiche Einmündung in ein Ausbildungsverhältnis ermöglicht. Die nach- folgende Abbildung verdeutlicht diesen Zusammenhang, denn hier sind maßgebli- che sprachliche Teilkompetenzen aufgezeigt, die in Schule, Ausbildung und Beruf notwendig sind, um sowohl die kognitiven wie auch sprachlichen und pragmati- schen Anforderungen bewältigen zu können. Abb. 1: Übersicht über Teilbereiche sprachlicher Kompetenz nach Bachman; Palmer 1996 Erfolgreiche Wissensaneignung hängt demzufolge entscheidend von dem Ausmaß und der Diversifikation der Sprachkompetenz, dem bewussten Sprachgebrauch und Strategiewissen ab. Dazu gehört der kontextspezifische Gebrauch funktionaler Marianne Schöler 92 Sprachvarietäten ebenso wie der kompetente Einsatz der vier Fertigkeiten, so z.B. Lesekompetenz als Fertigkeit, Texte lesen und verstehen sowie die entnommenen Informationen nutzen zu können. Auch Schreibkompetenz hat einen maßgebli- chen Effekt darauf, Texte planen, in angemessener Sprache und adressatenorien- tiert formulieren, strukturieren und überarbeiten zu können. Hör-Sprach-Verständ- nis ist ebenfalls eine basale Kompetenz, um im Unterricht mündlich vermittelten Fach- und Sachinhalten folgen und sie verarbeiten zu können. Sprechfertigkeit ist überdies grundlegend, für die fachbezogene Wiedergabe berufsspezifischer Inhalte und die aktive Teilnahme an fachlichen Diskussionen im Unterricht und in der Schule sowie die angemessene Bewältigung mündlicher Situationen am Arbeits- platz. Werden diese grundlegenden Kompetenzen lediglich rudimentär erworben, so kumulieren Leistungsdefizite, die insbesondere auf mangelnde Sprachkompe- tenzen zurückzuführen sind und nicht auf mangelnde kognitive Begabung. 3 Sprachlich-kommunikative Anforderungen in Schule und Beruf Dass ohne ausreichende sprachliche Qualifikation keine erfolgreiche Qualifizierung für Berufsbildungsprozesse erfolgen kann, ist hinreichend belegt (vgl. z.B. Rexing; Keimes; Ziegler 2013). Der enge Zusammenhang zwischen Wissenserwerb und sprachlicher Kompetenz zeigt sich unter anderem bei der Fähigkeit, kontinuierli- che und diskontinuierliche Texte lesen und verstehen und ihnen hinreichende In- formationen entnehmen zu können, denn hierzu ist beispielsweise lexikalisches, morphosyntaktisches und pragmatisches Wissen ebenso notwendig wie die Fähig- keit zur Inferenz. Schulvergleichsstudien belegen immer wieder, dass Jugendliche am Übergang Schule-Beruf „nur unzureichend auf eine Ausbildungs- und Berufslaufbahn in der Wissensgesellschaft vorbereitet sind“ (Klieme et al. 2010: 7). Auch Nauman et al. sehen einen engen Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz und der erfolg- reichen Teilhabe an beruflicher Bildung (vgl. Naumann et al. 2010: 43). Diese Be- funde werden gestützt durch Analysen von (bildungs-)fachsprachlichen Kompe- tenzen, über die Jugendliche bei der Informationsentnahme berufsbezogener Texte verfügen (vgl. Niederhaus 2011). Efing konnte in seiner Untersuchung 2006 über- dies aufzeigen, dass Jugendliche im Berufsgrundbildungsjahr Probleme haben, einen kohärenten Text zu verfassen (vgl. Efing; Janich 2006). Zum erfolgreichen Verlauf einer Ausbildung bedarf es darüber hinaus weiteren sprachlichen Wissens, beispielsweise über die verschiedenen funktionalen Sprach- varietäten der „Sprachen in der Schule“ (vgl. Schleppegrell 2004). Diese sprachli- che Kompetenz ist Grundbedingung für eine erfolgreiche Absolvierung der Be- rufsausbildung und kann daher als Basiskompetenz angesehen werden, die schon während der Schulzeit erworben werden sollte. Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 93 Um die notwendige Verzahnung der abgebenden Institution Schule und der auf- nehmenden berufsschulischen sowie betrieblichen Einrichtungen zu verdeutlichen, werden schulische Anforderungen mit berufsschulischen Erwartungen verglichen. Wie sehr schulische und berufsfachliche Anforderungen miteinander verzahnt sind, zeigt allein schon die Verwendung solcher Sprachhandlungsoperatoren wie z.B. „erklären, beschreiben, berechnen, berichten, begründen, anwenden, erörtern, argumentieren“, die sowohl im schulischen als auch im Ausbildungskontext von Bedeutung sind, auch wenn sie jeweils spezifisch konnotiert sind. In beiden Bedin- gungsgefügen müssen Jugendliche die damit verbundenen Sprachhandlungsaufträ- ge verstehen und bewältigen können. Die Leistung, die bei der Umsetzung solcher Sprachhandlungen indizierenden Begriffe vorausgesetzt wird, ist sowohl eine kognitive als auch eine sprachliche. Handelt es sich in der Schule um die Erklärung eines Sachzusammenhangs, so wird in der Berufsschule oder in der betrieblichen Ausbildung Gleiches gefordert. So könnte z.B. eine Aufgabe im berufsorientierten Unterricht der Klasse 9 lauten: „Erklären Sie die Bergriffe: der primäre, der sekundäre und der tertiäre Bildungs- bereich“; in der Berufsschule könnte folgende Aufgabe zu lösen sein: „Erklären Sie anhand der Grafik „Wirtschaftsstruktur im Wandel“ die Begriffe „primärer, sekun- därer und tertiärer Sektor“. In beiden Fällen ist es unerlässlich, über die Kompe- tenz des Erklärens zu verfügen. Ebenso ist es notwendig zu wissen, welche Sprachhandlung mit dem Sprachhandlungsoperator „berichten“ verbunden ist. In der Schule beinhaltet „berichten“ ganz andere Textmerkmale als das Führen eines Berichtshefts während einer dualen Ausbildung. Die Fähigkeit zur Beschreibung von Vorgängen schon in der Primarstufe zu erwerben ist ebenfalls wichtig, da im Verlauf einer Berufsausbildung z.B. Produktionsabläufe oder die Funktion einer Maschine zu beschreiben sind. Um dies zu verdeutlichen werden hier exemplarisch einige Kompetenzerwar- tungen an Berufsschüler/-innen aus dem Bildungsplan für die Berufsschule in Baden-Württemberg u.a. für das Fach Deutsch zum Bereich „Sprache“ vorgestellt. So sollen sie beispielsweise im Bereich „Einstieg in den Beruf durch Sprache und Medien“ zum Thema „Sprachliche Übungen und berufsorientierte Kommunikati- on I“ über folgende Kompetenzen verfügen:  Informationen beschaffen und damit umgehen – Lesetechniken, Arbeit mit Informationsquellen (Lexika), Kernaussagen formulieren  Inhalte wiedergeben – mündliche und schriftliche Inhaltswiedergabe von Texten, Filmen, Gesprächen und Schaubildern  Beschreiben und berichten – Exemplarische Behandlung von im Ausbildungsberuf üblichen Textformen, z.B. Tätigkeitsbericht (Be- richtsheft), Produktbeschreibung, Telefonat, Gesprächsnotiz, Proto- koll. (Bildungsplan für die Berufsschule in Baden-Württemberg für Deutsch, Gemeinschaftskunde, Wirtschaftskunde, Ergänzungsband, 1999: 13) Marianne Schöler 94 Im Bereich „Sprachliches Handeln im Beruf und im privaten Bereich“ – „Sprachli- che Übungen und berufsorientierte Kommunikation II“ sollen die Schüler/-innen über weitergehende Kompetenzen verfügen:  Argumentieren: mündliche Stellungnahme, Diskussion, bewerten von Argumenten, Argumente entfalten  Beschreiben, anweisen und werben: Gegenstände aus der Berufs- welt, Arbeitsvorgänge, Bedienungsanleitung, Kundengespräche, z.B. Beratung und Reklamation  Formale Texte verfassen: Privater Geschäftsbrief, Vertragsformulare, Textbausteine anwenden und beurteilen  Textstrukturen wiedergeben: Strukturbilder von Texten, Begrün- dungszusammenhänge feststellen  Sachtexte analysieren und beurteilen: Informationsgehalt, Argu- mentationsstruktur, kommunikativer Kontext, sprachliche Mittel (Bildungsplan für die Berufsschule in Baden-Württemberg für Deutsch, Gemeinschaftskunde, Wirtschaftskunde, Ergänzungsband, 1999: 15) Vergleicht man diese Anforderungen mit den Bildungsstandards für das Fach Deutsch für den mittleren Schulabschluss, so ergibt sich folgendes Bild: In den verschiedenen Sprachhandlungsbereichen finden sich ähnliche Anforderungen an die sprachlich-kommunikative Kompetenz der Schüler/-innen, die hier exempla- risch genannt werden: komplexe Texte verstehen und ihnen gezielte Informationen ent- nehmen können; nicht-lineare Texte auswerten können; aus Sach- und Gebrauchstexten Schlussfolgerungen ziehen können; Sprachen in der Sprache kennen und ihre Funktion unterscheiden; Inhalte veranschaulichen und Wesentliches herausarbeiten können; eine Argumentationskette aufbauen können (vgl. Bildungsstandards für das Fach Deutsch für den mittleren Schulabschluss 2004: 14ff.) Wie sehr schulisches und berufliches Lernen miteinander verknüpft sind und wa- rum Sprachbildung als integraler Bestandteil von Ausbildungsgängen zu betrachten ist, zeigt auch ein Ausschnitt aus den Bildungsstandards für den Geographieunter- richt für den mittleren Schulabschluss, der mit einem Textexzerpt aus einem Fach- buchkundebuch für Gärtner abgeglichen wird. Im ersteren Ausschnitt ist zu lesen: Im Geographieunterricht lernen die Schülerinnen und Schüler eine sys- tematische Informationsauswertung, indem sie die Informationen strukturieren, die bedeutsamen Informationen herausarbeiten, mit anderen Informationen verknüpfen und in andere Informationsfor- men umsetzen. (Deutsche Gesellschaft für Geographie: DGfG 2007: 19, Hervorh. d. Verf.) Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 95 Schülerinnen und Schüler können problem-, sach- und zielgemäß In- formationen aus Karten, Texten, Bildern, Statistiken, Diagram- men usw. auswählen (Deutsche Gesellschaft für Geographie: DGfG 2007: 20, Hervorh. d. Verf.) Schülerinnen und Schüler können einfache Möglichkeiten der Über- prüfung von Hypothesen beschreiben […] und den Weg der Er- kenntnisgewinnung in einfacher Form beschreiben. (Deutsche Ge- sellschaft für Geographie: DGfG 2007: 21, Hervorh. d. Verf.) Schülerinnen und Schüler können geographisch relevante schriftli- che und mündliche Aussagen in Alltags- und Fachsprache verste- hen (Deutsche Gesellschaft für Geographie: DGfG 2007: 23 Hervorh. d. Verf.) Schülerinnen und Schüler können geographisch relevante Sachver- halte/Darstellungen (in Text, Bild, Grafik etc.) sachlogisch ge- ordnet und unter Verwendung von Fachsprache ausdrücken. (Deutsche Gesellschaft für Geographie: DGfG 2007: 23, Hervorh. d. Verf.) Vergleicht man diese Anforderungen mit nachfolgendem Textausschnitt aus einem Fachkundebuch für Gärtner, so wird deutlich, dass die in den Bildungsstandards für den Geographieunterricht formulierten Kompetenzen auch in der Berufsschule eine Rolle spielen und vorausgesetzt wird, dass eben diese sprachlichen Fähigkeiten vorhanden sind. Die Notwendigkeit einer passgenauen Abstimmung der sprach- lich-kommunikativen Anforderungen zwischen dem schulischen und dem dualen Ausbildungsgang wird hier noch einmal umso deutlicher. Wetter und Klima bestimmen die Entwicklung und Verbreitung der Pflanzenarten. Für ein erfolgreiches Gärtnern sind somit Kenntnis- se auf dem Gebiet der Wetter- und Klimakunde unerlässlich. Die Wissenschaft, die das Wettergeschehen in der Atmosphäre erforscht, ist die Meteorologie. Ein Teilgebiet der Meteorologie ist die Klimatolo- gie, die sich mit dem Klima auf der Erde beschäftigt. […] Die Erde ist eine an den Polen abgeplattete Kugel, die die Sonne auf einer elliptischen Bahn (Umfang 940.000.000 km) mit einer Ge- schwindigkeit von 29,8 km/s entgegen dem Uhrzeigersinn im Verlauf eines Jahres (365 Tage) einmal umkreist, wobei die Sonne nicht ganz im Mittelpunkt steht. (Seipel 2004: 289f., zit. n. Kniffka; Neuer 2008) Für das Verstehen dieses Textexzerpts wird sowohl eine allgemeine als auch eine fachsprachliche Kompetenz vorausgesetzt, die es ermöglicht, dem Text notwendi- ge Informationen zu entnehmen, sie sachlogisch zu ordnen und einen Zusammen- hang zu zuvor erworbenem Wissen herzustellen bzw. ihre Relevanz einzuschätzen. Marianne Schöler 96 Überdies ist es notwendig, typisch fachsprachliche Formulierungen sowie die Fachlexik zu beherrschen. Begriffe wie Klimatologie oder Meteorologie müssen bekannt sein, komplexe Attribute wie eine an den Polen abgeplattete Kugel müssen in den syntak- tischen Zusammenhang gesetzt werden, die Verwendung des Partizips abgeplattet als Adjektiv muss verstanden werden. Textbezüge müssen hergestellt werden, wie z.B. durch die Pronominaladverbien somit oder wobei. Auf morphologischer Ebene müssen Konversionen, wie z.B. Gärtnern, Komposita wie Klimakunde oder Wetterge- schehen, und Derivationen wie Kenntnisse, Entwicklungen oder Verbreitungen analysiert werden können. Letztlich handelt es sich hier um einen Fachtext, der die typischen Merkmale von Dekontextualität und Abstraktheit enthält, wie z.B. Verwendung von Profor- men wie „die Erde […], die […]“ oder „Wetter und Klima bestimmen die Ent- wicklung und Verbreitung der Pflanzenarten. […] sind somit Kenntnisse […].“ Um einen Bezug zwischen dem ersten und dem zweiten Satz erschließen zu können, ist es notwendig zu erkennen, dass sich somit auf einen Sachverhalt aus dem vorherge- henden Satz bezieht. Nicht nur die Fachlexik ist es, die eine grundlegende fach- sprachliche Kompetenz zum Verständnis des Textes voraussetzt, sondern vor allem auch die Komplexität des Ausdrucks, die sprachliches Wissen im Bereich der Morphologie und der Morphosyntax sowie der Textlinguistik erfordert. Ein weiteres Beispiel für die Passgenauigkeit sprachlicher Anforderungen am Übergang ist der Vergleich der sprachlichen und inhaltlichen Anforderungen an den Beruf der/des Medizinischen Fachangestellten mit Kompetenzbeschreibungen der Bildungsstandards für das Fach Biologie. So erwerben Schüler/-innen für das Fach Biologie in der Sekundarstufe „auf der Grundlage eines basalen und vernetz- ten Fachwissens […] Kenntnisse über Organisationsstrukturen und -prozesse le- bendiger Systeme, einschließlich der des eigenen Körpers“ (Bildungsstandards 2004: 12). Weitergehend erwerben sie Kompetenzen zur Erkenntnisgewinnung, zum Be- obachten sowie zur Nutzung und Anwendung von Arbeitstechniken (vgl. Bil- dungsstandards 2004: 7). Außerdem sollen sie Informationen sach- und fachbezo- gen erschließen und austauschen sowie biologische Sachverhalte in verschiedenen Kontexten erkennen und bewerten können (vgl. Bildungsstandards 2004: 16). Für den Beruf der/des Medizinischen Fachangestellten sind im Portal der Bundesagentur für Arbeit (berufenet.de) folgende Fähigkeiten und Fertigkeiten als Basiskompetenzen für dieses Berufsbild angegeben:  Beobachtungsgenauigkeit (z.B. Erkennen von Krankheitssymptomen)  Merkfähigkeit (z.B. Gedächtnis für Personen, Namen und Krankenge- schichten)  analytisch-methodisches Untersuchen von Blut-, Stuhl- oder Harnpro- ben im Labor  Verständnis für mündliche Äußerungen (z.B. Verstehen von z.T. ungenauen Äußerungen der Patienten) Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 97 Gleicht man diese Anforderungen an das Können der Auszubildenden mit den Bildungsstandards für das Fach Biologie ab und nimmt Formulierungen aus dem Rahmenlehrplan für Medizinische Fachangestellte/Medizinischer Fachangestellter (2005) hinzu, so wird deutlich, dass es auch hier Überschneidungen der schuli- schen und der berufsfachlichen sprachlich-kommunikativen Anforderungen gibt, wie Roelcke es formuliert: Neben dem richtigen Einsatz formaler und funktionaler Charakteristika von Fachsprache spielen drei weitere, einander überschneidende bzw. einschließende Kompetenzbereiche im Rahmen fachlicher Kommuni- kation eine entscheidende Rolle; es sind dies: 1) die pragmatische Kompetenz, von diesen Charakteristika situativ und medial angemessen Gebrauch zu machen, 2) die kognitive Kompetenz, sie symptom-, symbol- und appellfunktio- nal gezielt einzusetzen, 3) die ethische Kompetenz zu einem persönlich kooperativen und sozial verantwortungsvollen fachsprachlichen Handeln. (Roelcke 2013: 324) Roelcke entwickelt hier einen vielschichtigen Begriff fachsprachlicher Kompetenz, der vergleichbar ist mit dem multidimensionalen Konzept von Sprachkompetenz Bachmans; Palmers, die ebenfalls organisatorisches, pragmatisches und strategi- sches Wissen zur Grundbedingung für die Bewältigung sprachlich-kommunikativer Anforderungen propagieren. Eben diese Entwürfe von Sprach- und Fachspra- chenkompetenz sind es, die Eingang in didaktische Konzeptionen für allgemein- und berufsbildende Schule sowie die betriebliche Ausbildung finden sollten. Die Notwendigkeit einer Fachsprachendidaktik in den Schulen der Sekundar- stufe I, wie Roelcke sie fordert, scheint ebenso vonnöten wie ein ausbildungsorien- tierter Deutschunterricht, wie Efing (2013b) ihn konzipiert. Gleichzeitiges Lernen fachlicher und fachsprachlicher Inhalte und die Anwendung dementsprechender Konzepte, wie sie in der Sprachdidaktik entwickelt wurden und teilweise auch schon realisiert werden, sollten daher auch einen selbstverständlichen Eingang in den Unterrichtsalltag finden. Denn: Sprache ist im Fachunterricht nicht einfach da, sondern wächst gleich- zeitig mit dem Lernen der Fachinhalte. Insofern kann man Fach und Sprache nicht voneinander trennen, weder fachdidaktisch, noch sprach- didaktisch, noch lernpsychologisch. (Leisen 2009: 4) Marianne Schöler 98 4 Was zeichnet fachsprachliche Texte aus und macht sie so schwer zu verstehen oder zu produzieren? Fachliches und berufliches Lernen sind eng mit sprachlichen Anforderungen ver- knüpft, die weit über das alltagssprachliche Niveau hinausgehen. Fach- und schul- übergreifende Kompetenz, verstanden als Brücke zwischen alltags-, schul- und fachsprachlichen Anforderungen, stellt daher einen wichtigen Faktor für einen erfolgreichen Übergang von der Schule in die Berufsausbildung dar. Das Verfügen über dieses fächerübergreifende sprachliche Wissen entscheidet ganz erheblich über die Einmündung in eine Berufsausbildung und eine erfolgreiche Berufsbio- graphie mit. Was aber ist es, das einen erfolgreichen Erwerb eben dieser fächer- übergreifenden Sprachkompetenz erschwert? Zunächst einmal ist hier die Komplexität, die Textdichte von Fachtexten zu nennen. Relativ kurze Texte müssen sehr informativ und Aufgaben präzise und knapp formuliert sein. Verknüpfungs- und Verweisstrukturen stellen daher eine hohe Anforderung an das Sprachkönnen und das Sprachverständnis. Kennzeich- nend für fachsprachliche Texte sind komplexe Satzglieder wie z.B. komplexe No- minalphrasen, die durch Adjektiv- oder Genitiv- bzw. Präpositionalattribute erwei- tert und anstelle eines Nebensatzes verwendet werden. Funktionsverbgefüge als feste Verknüpfungen aus Verb und Substantiv, nominale Wortgruppen, Passivkon- struktionen gehören als weitere fachsprachliche Phänomene ebenfalls dazu wie spezifisches Fachvokabular (vgl. hierzu auch die Auflistung fachsprachlicher Cha- rakteristika in Niederhaus 2011: 48-60). Zur Ökonomisierung fachsprachlicher Texte gehört auch die Verwendung eines nominalen Stils (vgl. Roelcke 2010: 26; 87f.), der jedoch Fachtexte besonders schwer verständlich macht, insbesondere für Schüler/-innen nicht-deutscher Herkunft. Hinzu kommt, dass es im schulischen Kontext verschiedene funktionale Regis- ter gibt, die den Schulalltag mitgestalten, z.B. die Alltagssprache, die Schulsprache, die Fachsprache. Die fachbezogene Sprache ist von der Schulsprache insofern zu unterscheiden, als sie der präzisen und effizienten Verständigung im Fach dient. Sie ist gekennzeichnet durch komplexe, syntaktische Strukturen, ein spezielles Fachvokabular sowie fachspezifische Verwendungen alltagssprachlicher Lexeme wie z.B. sauer, basisch, plus, minus etc., was den Erwerb fachsprachlicher Kompe- tenz erschwert. Schulsprache hingegen dient didaktischen Zwecken der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen (vgl. u.a. Feilke 2013). Ein Diskurs im Fach Biologie in der 7. Klasse ist zwar fachsprachlich konnotiert, jedoch von der Anforderung an die sprachliche Komplexität nicht so anspruchsvoll wie der wissenschaftliche Dis- kurs international renommierter Wissenschaftler dieses Faches. Folgende Beispiele exemplifizieren die Besonderheit fachsprachlicher Wendungen und belegen die Erfordernis, eine disziplinenübergreifende Sprachfähigkeit zu erwerben: Auf einem landwirtschaftlichen Lehrgut soll erforscht werden, wie sich bei gegebener Bodenfläche und Bearbeitungsintensität die Verän- Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 99 derung der Düngermenge auf den mengenmäßigen Mehrertrag auswirkt. Aus diesem Grund wird auf 10 Äckern von jeweils gleicher Größe (1 Morgen gleich 2.5000 Quadratmeter) und Bodenqualität an- gebaut. Da die Ackerqualität und die Bodenqualität als konstant an- genommen werden kann, man bezeichnet sie daher auch als kon- stante Einsatzfaktoren und verwendet für sie das Symbol v0- funktio- nal abhängig von der jeweiligen Düngermenge […]. (Aus: Schöwe et al. 2010: Fachhochschulreife Mathematik, Wirtschaft, Analysis, lineare Al- gebra und Stochastik. 3. Auflage, Berlin: Cornelsen. Zit. n. Günther; Laxczkowiak; Niederhaus; Wittwer 2013: 10) Das Problem der Verständlichkeit dieses Fachtextes ergibt sich zunächst einmal aus der Fachlexik, Begriffe wie z.B. Lehrgut, Mehrertrag, Quadratmeter müssen in ih- rem Fachbezug erfasst und mit Inhalt gefüllt werden. So gehört dazu, sich das Flächenmaß Quadratmeter in seiner Größenordnung vorstellen zu können. Komple- xe Komposita wie beispielsweise Bearbeitungsintensität, mengenmäßig, Einsatzfaktoren, Düngermenge müssen verstanden oder hergeleitet werden können. Das Fehlen eines Agens in Passivkonstruktion erschwert die Verständlichkeit vor allem für mehr- sprachige Schüler/-innen. Ebenso ist es notwendig, Textbezüge herzustellen und solche Kohäsionsmittel wie z.B. aus diesem Grund, da, daher auf der Textoberfläche in Beziehung zu setzen und somit die Tiefenstruktur des Textes zu erfassen. Betrachtet man folgende Übungsaufgaben zur Vorbereitung der Abschlussprü- fung für die zweijährige Berufsausbildung im Kompetenzbereich Gesundheit und Pflege, so lassen sich die sprachlichen Herausforderungen für die Auszubildenden, besonders für diejenigen aus bildungsdistanten Familien oder mit Migrationshin- tergrund, leicht erkennen. 1. Benennen Sie die Nährstoffe unserer Nahrung, die − bei Über- schuss aufgenommen – gespeichert werden können, sowie deren Speicherformen im Organismus. 2. Errechnen Sie den Gesamtenergiebedarf des Jugendlichen sowie seinen Bedarf an Hauptnährstoffen in Gramm. 3. Berechnen Sie, wie viele Stunden der Energiegehalt folgender Mahlzeit ausreicht, um den Grundumsatz des 19 jährigen Jugendli- chen aufrecht zu erhalten und beurteilen Sie den Nährstoffgehalt die- ser Mahlzeit. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Berufsauf- bauschule (BAS), hauswirtschaftlich-pflegerisch-sozialpädagogischer Typ − Hauptprüfung 2008 Biologie mit Gesundheitslehre (604) − Auf- gaben, 2008: 3) Diese Beispielaufgabe weist dieselben fachsprachlichen Charakteristika auf wie der zuvor erläuterte Beispieltext und verdeutlicht, wie wichtig es ist, im Sinne eines sprachbewussten und sprachreflexiven Sachfachunterrichts dezidiert auf die Marianne Schöler 100 sprachlich-kommunikativen Anforderungen vorzubereiten. Überdies ist dieses Bei- spiel ein weiterer Beleg dafür, dass die Kenntnis handlungsindizierender Operato- ren, wie eingangs vorgestellt, unerlässlich ist für die Bewältigung solcher Aufgaben. Hier wird nochmals aus einer anderen Perspektive deutlich, dass eine grundle- gende diversifizierte, mehrdimensionale Sprachkompetenz, zu der pragmatisches Wissen ebenso gehört wie Strategiewissen und Lese- oder Schreibkompetenz als Grundvoraussetzung für erfolgreiche Bildungs- und Ausbildungsverläufe. Ein dies- bezügliches berufssprachliches Training, wie Ohm; Kuhn; Funk 2007 es konzipiert haben, sollte daher für die sprachbezogene Berufsbildung und Berufsvorbereitung stärker als bisher in der Berufsschule für eine integrierte Sprachbildung und ge- nutzt werden. Welche Rolle explizit sprachbildende und sprachreflexive Unterrichtsinterakti- onen als integraler Bestandteil aller Fächer spielen, zeigen die nachfolgenden Textbeispiele, die Einblick in sprachliche Kompetenzen von jungen Menschen im chronologischen Verlauf eines Bildungsgangs geben, von der Primarstufe zur Se- kundarstufe bis hin zu einer Berufsschulausbildung. Sie manifestieren, wie sehr sich eine unzureichende Sprachkompetenz verfestigen kann, wenn Sprachbildung nicht bewusst und integrativ erfolgt. Abb. 2: Beispiel aus einem Schreibprodukt zum Thema „Beschreibe das Bild“ eines Viert- klässlers italienischer Abstammung (Bildquelle entnommen aus: Betzel 2010; Textbeispiel aus einer Sprachfördermaßnahme, eigenes Textkorpus) Ganz deutlich zeigt sich hier ein Mangel nicht nur in morphosyntaktischer Hin- sicht, sondern auch im Hinblick auf fehlende Kenntnis der konzeptionellen Schriftlichkeit sowie der Adressatenorientiertheit. Außerdem ist dieser Text auch ein Beleg dafür, wie schwierig es ist, die mit dem Verb beschreiben verbundene Sprachhandlung auszuführen, denn ihm fehlen wesentliche Informationen, damit sich der Rezipient die beschriebene Situation vorstellen kann. So weiß der Rezipi- ent weder, wer „er“ ist, noch wer die „Käfer platt“ macht, ohne das Bild zu ken- nen. Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 101 Der nachfolgende Text einer Berufsschülerin weist erhebliche sprachliche Mängel auf, sowohl in der Textsortenkenntnis (es sollte die Zusammenfassung eines Text- ausschnitts aus der Biographie Renan Demirkans „Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker“ vorgenommen werden), als auch formal-grammatische, z.B. in der Dekli- nation, in der Verwendung von Artikeln. Auch eine mangelnde Kenntnis der Ge- nera, orthographische Fehler im Bereich der Groß-Kleinschreibung und im Be- reich der Vokallängen weisen auf eine unzureichende Sprachkompetenz hin. Schwächen im Bereich der Wortsemantik sind besonders auffällig, weil die Schüle- rin seit der 2. Klasse eine deutsche Schule besucht hat. Sie erzählt am Anfang, dass sie sich laufende Zeit verliert und sich verändert hat. Sie und ihre Töchter haben immer gemeint, dass sie hier fremde sind und werden ni wie die anderen sein. Sie erzählt, wenn man sich verliert dann verliert man seine religiöse Einbildungen. Ganzes Text erzählt mir dass sie alein war deswegen erzählt sie dass man al- ein nicht betten kann weil deine Betten noch gar nicht spass dass kann mann verstehen mann kann gar nicht tun wenn mann aleine machen muss. Sie sagt wenn sie wieder zurückkehrt kann sie stolz gegen dass sie und Töchter von sich gar nicht verloren hat. (Be- rufsschülerin iranischer Herkunft und Schulbesuch seit der 2. Klasse, Textkorpus BA-Studiengang DaZ/DaF der PH Freiburg) Der Text ist ebenfalls ein Beleg dafür, dass auch Berufsschüler/-innen eine ange- messene, multidimensionale Sprachkompetenz fehlt. Das lässt vermuten, dass eine durchgängige Sprachbildung in weiten Teilen nicht erfolgt oder zumindest unzu- reichend ist. Ein Baustein für Bildungsteilhabe und Ausbildungserfolg scheint die sprachliche Kompetenz im Sinne lexikalischen, grammatischen und pragmatischen Wissens zu sein, der Grundstein hierfür wird schon im Elementarbereich gelegt. Wenn dort der ausreichende Erwerb dieser sprachlichen und sprachpraktischen Fähigkeiten nicht vollzogen wird, so scheint es schwierig zu sein, dieses Defizit im Verlauf des Bildungsprozesses auszugleichen. Aus dieser Perspektive wird deutlich, wie wesentlich die Entwicklung einer um- fassenden sprachlichen Kompetenz für schulisches und berufliches Lernen ist. Was können wir also im unterrichtlichen Kontext tun, um den Schüler/-innen den Zugang zu den Sprachen der Schule zu ermöglichen, damit so die Basis für einen aktiven Wissenserwerb in den Sachfächern geschaffen werden kann? Im Folgenden soll exemplarisch ein didaktisches Modell vorgestellt werden, das sprachliches und fachliches Lernen gleichermaßen in mehrsprachigen Lerngruppen ermöglicht und speziell für den Unterricht sprachlich und kulturell vielfältiger Lerngruppen entwi- ckelt wurde. Marianne Schöler 102 5 Fachdidaktische Herausforderungen bei der Gestaltung einer erfolgreichen Einmündung in die berufliche Ausbildung Die Heterogenität sprachlicher Anforderungen, sprachlich und kulturell diversifi- zierte Lerngruppen, sprachlich und kognitiv unterschiedliche Lernausgangslagen, komplexe Anforderungen an die sprachlich-kommunikative Kompetenz im Hin- blick auf die Sprachen der Schule und die Verwendung kontextspezifischer funkti- onaler Register lassen die Erfordernis neuer didaktischer Modelle oder Konzepte folgerichtig erscheinen. Denn wie Leisen es formuliert: Sprache ist aber im Fachunterricht nicht ein bloßes „Transportmittel“ für Inhalte, weil nichts in den Kopf des Schülers transportiert werden kann. Der Schüler selbst muss die Inhalte und die fachlichen Strukturen in seinem eigenen Kopf konstruieren. Sprache ist dazu ein wichtiges Konstruktionsmittel, aber kein Transportmittel. (Leisen 2004: 9) Scaffolding – verstanden als das Bauen eines Lerngerüsts – bietet eine Konzeption, die allen Schüler/-innen gleichermaßen die Gelegenheit gibt, ihrer Ausgangslage entsprechend am Unterricht teilzuhaben (vgl. Gibbons 2002). Die Metapher des Gerüsts weist darauf hin, dass die Unterstützung zeitlich begrenzt ist, da der Lerner lediglich so lange in der Aneignung fachlicher oder sprachlicher Unterrichtsinhalte gestützt wird, bis er unabhängig von lehrerseitiger Hilfe das Gelernte anwenden kann (vgl. Wood; Bruner; Ross et al. 1976, Gibbons 2002; 2009). Die Lerner sollen durch den „Gerüstbau“ dazu befähigt werden, schwierige Aufgaben zukünftig auto- nom zu lösen. Sie sollen, wie Wygotski es formuliert, die „Zone der nächsten Ent- wicklung“ (Wygotski 1987) erreichen. Gibbons (2002) hat mit Scaffolding ein Konzept entwickelt, das durch eine planvolle, unterstützende Gestaltung des Unterrichts und eine spezifische Sequen- zierung der Unterrichtsinteraktionen den sukzessiven Aufbau neuen Wissens, sprachlich wie inhaltlich, ermöglicht und begleitet. Die Erweiterung der kognitiven und (fach-)sprachlichen Fähigkeiten der Schüler/-innen bildet den Kern der Ler- narrangements, das sich Stufe für Stufe entlang dieses Gerüsts bewegt, um erfolg- reiche Lernprozesse zu ermöglichen. Die Unterrichtsinteraktion sowie das gemeinschaftliche Aushandeln von Be- deutungen bilden ein Herzstück dieses Konzepts. Inhalte werden über Sprache transportiert und orientieren sich am situativen Kontext sowie an der Sprachfunk- tion (vgl. exemplarisch Hallidays Sprachmodell 1975). Damit wird das Unterrichtsgespräch zu dem Ort, wo fachliche Begriffe bzw. Konzepte und sprachliche Äußerungen hergestellt und fortlaufend aufeinander bezogen werden müssen. (Quehl; Trapp 2013: 29)1 1 Vgl. hierzu auch Kiper (2011). In: Kiper; Meyer; Topsch 2011: 164ff. Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 103 Scaffolding findet auf zwei Ebenen statt, dem Makro-Scaffolding und dem Mikro- Scaffolding. Makro-Scaffolding bildet sozusagen die Basis für die Planung der Lernunterstützung und umfasst sämtliche mit der Unterrichtsplanung verbundene Tätigkeiten. Mikro-Scaffolding hingegen bildet den sprachlichen Handlungsrah- men, in dem die Unterrichtsinteraktionen erfolgen. Diese Phase des Lerngerüsts kann nicht vorausgeplant werden, sondern entwickelt sich innerhalb des Unter- richtsdiskurses. Beide Scaffolding-Ebenen sind interdependent miteinander verbunden und notwendig für die Gestaltung und Durchführung der verschiedenen Unterrichts- phasen sowie für ein kognitiv aktivierendes und adaptives Unterrichtsgespräch, das der Lerngruppe Gelegenheit zum Erlernen und Anwenden der Fachlexik gibt. Die parallele Vermittlung fachlicher und sprachlicher Inhalte sowie die Gestaltung eines kognitiv aktivierenden Lerngerüsts stellen die Eckpfeiler dieses Konzeptes dar. Auf der Ebene des Makro-Scaffolding wird zur Unterrichtsplanung zunächst die Lernausgangslage analysiert, d.h. Sprachstand sowie Vorwissen zum jeweiligen Unterrichtsinhalt werden erfasst. Die Resultate bilden das Fundament für die Ana- lyse der Unterrichtsmaterialien und der Unterrichtsziele bzw. der Bildungsstan- dards. So kann festgestellt werden, welche besonderen sprachlichen und kognitiven Kompetenzen im Hinblick auf linguistische oder textsortenspezifische Merkmale die Schultexte erfordern bzw. welche inhaltlichen Anforderungen gestellt werden oder welcher Fachwortschatz von Bedeutung ist. In einem nächsten Schritt wird die weitere Planung des Lerngerüsts aufgrund dieser Bedarfsanalyse (Kniffka 2010) vorgenommen und die Abfolge der einzelnen Phasen sowie der Handlungsformen werden festgelegt. Auf diese Weise kann die Parallelisierung von Sprache und In- halt sowie die Auswahl der Aufgabenformate und Arbeitsmaterialien und der Sozi- alformen erfolgen. Wesentlich ist, dass die Sequenzierung einzelner Arbeitsschritte explizit geplant und die Verknüpfung alter Wissensbestände mit neuen vorgesehen wird, indem z.B. das Vorwissen der Schüler/-innen aktiviert wird. Die Einführung des Lern- und Fachwortschatzes sollte mit einer sprachlich niederschwelligen Ebe- ne beginnen, will sagen, visualisierende Impulse, alltagssprachliche Formulierun- gen, sprachlich und kognitiv beteiligende Einheiten, von der Anschauung zur abs- trakten Lernaufgabe sollen die Aneignung des je spezifischen Wortschatzes unter- stützen (vgl. Schöler 2013: 346). Die Unterrichtssequenzen sollten so geplant sein, dass sich die Lerner Stufe für Stufe des Gerüsts auf ein nachhaltiges Verständnis anspruchsvoller Unterrichtsinhalte und komplexer Fachsprache zu bewegen. Mikro-Scaffolding kann nicht geplant werden, sondern bezeichnet die Unter- richtsinteraktion, in der die Lehrperson spontan und angemessen auf das Verhalten bzw. die Äußerungen der Lerner/-innen reagieren muss. Es bildet die Ergänzung zum Makro-Scaffolding und ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass die Lehrperson den Schüler/-innen mehr Zeit einräumt, über Antworten, Erklärungen etc. nach- zudenken. Sie hört genau hin, greift Schüleräußerungen auf und reformuliert sie in Marianne Schöler 104 einen fachsprachlichen Text, der den sprachlichen Anforderungen des Unter- richtsgegenstands entspricht. So gestaltete Lehr-Lerndialoge finden in einem länge- ren Austausch statt als in einem fragend-entwickelnden Unterricht und führen zu einer Erweiterung der fachsprachlichen Kompetenz, da die Lehrkraft begleitend dementsprechende Sprachangebote macht. Auf einem graduell ansteigenden Kontinuum bewegen sich die Lernenden Stu- fe für Stufe von ihrer alltagssprachlichen Ausdrucksfähigkeit hin zur schriftsprach- lichen Kompetenz mit dem Ziel, abstrakte, anspruchsvolle Aufgaben autonom lösen und schriftliche Texte fachsprachlich formulieren zu können. Parallel zu diesem vertikalen Anstieg des sprachlichen Registers steigt die kognitive Anforde- rung (vgl. Schöler 2013: 346ff.). Abb. 3: Überlegte Abfolge der Unterrichtssequenzen zum Erwerb fachsprachlicher Kom- petenz (Hahn; Schöler 2013: 591)2 Die verschiedenen Stufen der Konstruktion eines Lerngerüsts sowie die unter- schiedlichen Phasen der Wissensaneignung in der jeweiligen Lernsituation sind insgesamt unverzichtbar für die Gestaltung und Durchführung eines auf die jewei- lige Ausgangslage bezogenen Lernarrangements. Die kognitive Anforderung wird mit jeder Phase anspruchsvoller und kontextentbundener, so dass sich sukzessiv das sprachliche Wissen erweitern kann. Ein intensiver Unterrichtsdiskurs zwischen Lehrperson und Schüler/-innen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Äuße- rungen sukzessiv konzeptionell schriftlich und somit fachsprachlich werden, führt zu einer fach- und bildungssprachlichen Kompetenz. Sind die Schüler/-innen auf der obersten Stufe des Lerngerüstes angekommen, so sollten sie dazu fähig sein, sowohl mündlich wie schriftlich Fachlexik und fachsprachliche Strukturen verste- hen und anwenden zu können. 2 Das Modell wurde von Lewis; Ferguson; Mazyck (2005) übernommen und modifiziert. Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 105 Das didaktische Modell des Scaffolding bietet mehrsprachigen Schüler/-innen im Unterricht die Gelegenheit, sich ausgehend von ihrer individuellen Sprachkompe- tenz, sukzessive fachliches und sprachliches Wissen anzueignen, indem Sprache und Inhalt integrativ vermittelt werden und sich der Lerngegenstand dabei auf einem Kontinuum vom Einfachen zum Komplexen bewegt. Am Beispiel des Unterrichtsthemas Bewerbung, das klassischerweise im Deutschunterricht der 8. oder 9. Jahrgangsstufe in Vorbereitung auf die Berufsbil- dung seinen Platz findet, soll dieses Kontinuum, auf dem sich die Lerner/-innen entlang des „Gerüsts“ bewegen, dargestellt werden. Traditionellerweise wird in diesem Kontext vornehmlich die inhaltliche Seite in den Blick genommen. Dieser Fokus auf den Inhalt provoziert allerdings leicht das Nachahmen von Bewerbungs- texten, so dass stereotype, allgemeine, oft gleich klingende Texte entstehen, denen es an individueller Gestaltungsvarianz fehlt. In Ergänzung zu thematischen und inhaltlichen Aspekten sollte also auch der sprachliche Aspekt berücksichtigt und thematisiert werden. Dazu gehört auch die reflexive Betrachtung sprachlicher Mus- ter in Form von allgemein gültigen „Redemitteln“, die die Formulierung eines Be- werbungsschreibens erleichtern. Dies kann beispielsweise geschehen, indem die im Internet verfügbaren Beschreibungen der Ausbildungsberufe der Agentur für Ar- beit zugrunde gelegt werden, um berufsspezifisch und fachsprachenbezogen For- mulierungen und Wendungen zu sammeln, die es den Bewerber/-innen ermögli- chen, eine jeweils unternehmensbezogene Bewerbung zu schreiben. Im nachfol- genden Schaubild wird ein möglicher Unterrichtsverlauf auf der Basis des Scaffol- ding modelliert.3 3 Schöler in Vorb. Marianne Schöler 106 Abb. 4: Beispielhafter Unterrichtsverlauf nach Scaffolding. Modell übernommen und mo- difiziert nach Kniffka; Neuer (2008) Der exemplarische Unterrichtsentwurf unter Zuhilfenahme eines Lerngerüsts ver- deutlicht, wie den Schüler/-innen Gelegenheiten gegeben werden, sich dem Unter- richtsinhalt eigentätig zu nähern, z.B. durch eine Ideen- und Begriffssammlung zum Thema, die zunächst einmal in der Alltagssprache vorgenommen wird. Erst dann, wenn sich die Schüler/-innen auf der Basis ihrer sprachlichen Ausgangslage mit dem Thema beschäftigt haben, sind sie in der Lage, sich im nächsten Schritt den Fachwortschatz sprachbewusst und nachhaltig anzueignen. Dies kann durch die Diskussion eines Filmes zu einem bestimmten Beruf ebenso erfolgen wie durch die Recherche nach Berufsbildbeschreibungen. Wichtig ist hier die sprachreflexive Auseinandersetzung auf einer metakognitiven Ebene. Denn erst dann, wenn in einem bewussten Vorgang, lexikalische, syntaktische, morphologische oder seman- tische Besonderheiten fachbezogener Sprache eigenaktiv erworben werden, ist es möglich, sich intensiver mit den eigenen Berufswünschen auf einer fachlexikali- schen Ebene zu befassen, dazu gehört auch das Lesen und Bewerten von Annon- cen, das Vorbereiten von mündlichen oder telefonischen Bewerbungsgesprächen oder das Anlegen einer Sammlung von Redemitteln, wie in der nachfolgenden Tabelle, die exemplarisch für das Berufsfeld Gesundheit und Pflege formuliert wurde.4 4 Schöler in Vorb. Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 107 Tab. 1: Mögliche Redeformulierungen zum Berufsfeld Gesundheit und Pflege Ich habe Interesse … Ich habe mich für den Beruf ent- schieden, weil … Der Betrieb gefällt mir, weil … Ich bin … In meinem Praktikum habe ich fol- gende Erfah- rungen ge- macht: … an der Kundenbera- tung. … ich gerne mit Men- schen zu tun habe. … ich mich in den Räu- men wohl- fühle. … psychisch belastbar. Dass ich mit schwierigen Kunden um- gehen kann. … an kos- metischen Produkten. … mich Körperpflege schon immer interessiert hat. … er viele Auszubilden- de hat. … verant- wortungs- bewusst. Dass es mir Freude macht, andere gut zu bera- ten. Durch die Sammlung und Aneignung dieser Redemittel erlangen die Schüler/ -innen eine Einsicht in textsortenspezifische Charakteristika einer Bewerbung, die eng mit einem Verständnis für je spezifische Sprachregister verbunden sind, auch die der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die linguistischen Erfor- dernisse dieser Textsorte werden dadurch ebenfalls deutlich. Durch dieses Vorge- hen, ausgehend von der Alltagssprache, die sich sukzessive wandelt, in eine an- spruchsvolle, komplexe Fachsprache, und den gleichzeitigen Anstieg der kogniti- ven Herausforderungen, lernen die Schüler/-innen zu verstehen, dass ein Bewer- bungsverfahren schriftlich wie mündlich immer auch definiert ist durch das jewei- lige Unternehmen bzw. das spezifische Ausbildungsangebot. Im Rahmen dieses Beitrags wurde der enge Zusammenhang zwischen schu- lisch erworbenem Sprachwissen, sprachpraktischen Kompetenzen und der Fähig- keit, die Herausforderungen eines weitergehenden Bildungs- oder Ausbildungspro- zesses zu meistern, herausgestellt. Zuwachs an fachlichem Wissen ist eng verbun- den mit einer multidimensionalen Sprachkompetenz, die im Verlauf fortschreiten- der Bildungs-und Ausbildungsverläufe komplexer werden sollte, auch im Hinblick auf fachliche Bildung. Scaffolding ist ein didaktisches Modell, das den Erwerb einer so umfassenden sprachlichen Fähigkeit unterstützt, und zwar immer in Bezug auf die je individuellen Ausgangslagen. Sprache ist das wesentliche Werkzeug, sich kognitiv weiterzuentwickeln und Wissen aufzubauen. Die Aufgabe, Schüler/-innen des Deutschen bei ihrer kognitiven sowie bildungs-, schul- und fachsprachlichen Weiterentwicklung zu fördern, kann durch Lernszenarien erfüllt werden, die die Integration von Inhalt und Sprache ausdrücklich planen. Denn: Im Zentrum der Aufgabenstellungen steht nicht die bloße Aktivierung und korrekte Wiedergabe von Fachwissensbeständen, sondern die Marianne Schöler 108 Durchführung bzw. Rekonstruktion von Handlungsschritte. Hierzu müssen die notwendigen Wissensbestände aus fachbezogenen Informa- tionsquellen entnommen und die für das fachliche Handeln relevanten Strukturen und Probleme auf der Basis von Fachtexten rekonstruiert werden. (Ohm; Kuhn; Funk 2007: 134) 6 Resümee Im Bildungs- und Ausbildungssystem stellt Sprachbildung eine Querschnittsaufga- be durch alle Bildungsstufen dar, von der elementaren bis hin zur beruflichen Bil- dung. Eine kontinuierliche Sprachbildung ist aus diesem Grund sowohl zwischen den Bildungssystemen als auch innerhalb der Lernbereiche notwendig. Die ein- gangs gestellte Frage nach der Bedeutung einer durchgängigen Sprachbildung für erfolgreiche Teilhabe an Bildung und Ausbildung wurde in diesem Beitrag aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, um am Schluss festzustellen, dass eben diese Teilhabe, besonders für benachteiligte Jugendliche, nicht in einem ausrei- chenden Ausmaß möglich ist, wenn die sprachlich-kommunikative Kompetenz mit Mängeln behaftet ist. Die Verzahnung schulischer und berufsschulischer Lehr- Lerninhalte ist daher von besonderer Relevanz. Denn durch die sich kontinuierlich ändernden Arbeitsprozesse sowie die fort- schreitende Automatisierung steigen auch die Anforderungen an das Kommunikationsverhalten der Mitarbeiter in der Fabrik: Arbeitsabläufe planen, Sachverhalte erläutern, Verbesserungen initiieren und Neues lernen sind heute Ziele einer umfassenden Facharbeiterqualifikation. In diesem Fall schreiben die steigenden Anforderungen an Fachkräfte den Bildungsplan von morgen. (Bader 2013: 115) D.h., übergreifende Gestaltungskonzepte, die die horizontale wie auch die vertikale zunehmende Komplexität fachbezogener Sprache berücksichtigt, wie z.B. eine „Fachsprachendidaktik“ oder ein „ausbildungsorientierter Deutschunterricht“, sollten ebenso weiter vorangetrieben werden wie eine Institutionen übergreifende Berufsförderpädagogik, die Jugendliche auch im Erwerb anderer als sprachlicher Kompetenzen unterstützen. Dies beantwortet die zweite Frage im Hinblick auf Konsequenzen und Desiderata, die sich aus dem aufgezeigten Bedingungsgefüge ergeben. Im Unterricht erlangen Schüler/-innen neues Wissen durch Sprache; Sprache ist dabei ein wesentliches Werkzeug, sich kognitiv weiterzuentwickeln und Wissen aufzubauen. Dazu gehört aber auch das Wissen um Strategien, wie z.B. Lernstrate- gien oder Lesestrategien. Diese werden in der Grundschule erworben, um dann in den weiterführenden Bildungsinstitutionen ausgebaut zu werden, wobei allerdings davon ausgegangen wird, dass auf den zuvor erworbenen Sprachkompetenzen aufgebaut werden kann. Über Lesekompetenz sowie Textkompetenz, besonders Die Bedeutung der Sprachbildung am Übergang zwischen Schule und Berufsausbildung 109 aber über Strategiewissen, zu verfügen, bildet die Basis für eine erfolgreiche Bil- dungsteilhabe und sollte als „Transferwissen“ einen Baustein in der Bildungsbio- graphie der Schüler/-innen bilden. Denn diese Kompetenzen, die Fähigkeit zur Texterschließung ist in allen Schulformen und Ausbildungsinstitutionen gleicher- maßen notwendig, auch wenn die Anforderungen zunehmend komplexer werden. In diesem Sinne kann durchgängige Sprachbildung verstanden werden als die Aus- bildung einer multidimensionalen Sprachkompetenz, die sozusagen durchgängig notwendig ist. Diese Aufgabe, Schüler/-innen bei ihrer kognitiven, schul-und fachsprachli- chen Weiterentwicklung zu unterstützen, kann u.a. durch Lernszenarien erfüllt werden, die die Integration von Inhalt und Sprache ausdrücklich planen. Schule sollte deshalb Lehr-Lernarrangements anbieten und Didaktiken modellieren, die der Lernsituation in multikulturellen und multilingualen Situation in internationalen Klassenzimmern angemessen sind und zum Erwerb des oben angesprochenen Transferwissens beitragen. Die Lehrerfortbildung sollte den Kompetenzerwerb für die integrative Vermitt- lung von Sprache und Fach stärker in den Blick nehmen und ausbauen. Der Fokus sollte dabei auf den Unterrichtsinteraktionen bzw. der Gesprächsführung im Un- terricht liegen, um bildungs- und fachsprachliche Kompetenzen einüben zu kön- nen. Jede Übergangssituation sollte die besondere Aufmerksamkeit aller Verant- wortlichen haben, damit Übergänge anschlussfähig sein können. Sprachbildung ist die integrative Aufgabe aller Bildungseinrichtungen und aller Unterrichtsfächer, um Kontinuität und Erfolg der Bildungsbiographien zu gewährleisten. Aus diesem Grund sollten auch stärker als bisher schulformübergreifende Instrumente zur Erfassung der allgemein- und fachsprachlichen Fähigkeiten entwickelt werden und zur Anwendung kommen. Ebenso sollte ein disziplinenübergreifendes Sprachen- curriculum auch zukünftig diskutiert und entwickelt werden. Sprachbildung sollte daher als „language across the curriculum“ nicht nur ein konjunkturell bedingtes Thema sein, sondern als Aufgabe der Bildungsinstitutio- nen, der Lehrkräfte sowie der Unterrichtsentwicklung betrachtet werden und lang- fristig angelegt sein (vgl. Vollmer; Thürmann 2013: 54). Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland 2014: Ein indikatorengestützer Bericht und eine Analyse der Beteiligung von Menschen mit Behinde- rung. (http://www.bildungsbericht.de/daten2014/bb_2014.pdf) (26.06.14). Bachman, Lyle F.; Palmer, Adrian S. (1996): Language Testing in Practice: Designing and developing useful language tests. Oxford: Oxford University Press. Marianne Schöler 110 Bader, Werner (2013): Sprachlich-kommunikative Kompetenzen von Auszubil- denden. Ein Blick in die Praxis. In: Efing, Christian; Hufeisen, Britta; Jandrich, Nina (Hrsg.): Ausbildungsvorbereitung in der Sekundarstufe I. 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Die besondere Schwierigkeit und Herausfor- derung liegt darin, gleichzeitig neben berufsbezogenem Sprach- und Sachwissen auch die lateinische Schrift als Erst- bzw. Zweitschrift erlernen zu müssen. Für die Kurse von relativ kurzer Dauer ist nicht unbedingt eine Vollalphabetisierung ange- strebt, sondern eine schnelle Kompetenzvermittlung für beruflich benötigte Text- sorten. 1 Das dieser Veröffentlichung zugrunde liegende Forschungsprojekt Alphamar 2 wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01AB12026 ge- fördert: http://www.uni-marburg.de/fb09/igs/arbeitsgruppen/daf/alphamar2. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen. Frauke Teepker & Susanne Krauß 116 2 Alphabetisierung in der Fremd- und Zweitsprache Deutsch In der Fremd- und/oder Zweitsprache alphabetisiert zu werden, heißt nicht nur, lesen und schreiben zu lernen, sondern auch die fremde Sprache zu verstehen und zu sprechen, d.h., auch und insbesondere den Wortschatz zu erwerben. Lesen und Schreiben sind bereits sehr komplexe Fertigkeiten, für die die Laut-Buchstaben- Zuordnung beherrscht werden muss. Die Mehrheit der Teilnehmer unserer Er- probungskurse2 können sich keine Notizen machen, da sie meist auch in ihrer Muttersprache nicht oder nur kaum alphabetisiert sind. Häufig muss der richtige Umgang mit Stift und Papier erst noch erlernt werden. Andere Teilnehmer – wenn auch eher die Minderheit − verfügen dagegen über einen Schul- oder sogar Hoch- schulabschluss in ihrem Heimatland. Die Heterogenität unserer Teilnehmer stellt dabei eine besondere und große Herausforderung für die Lehrkräfte dar. Eine Fertigkeit kann nur dann richtig ausgebildet werden, wenn die damit ver- bundenen Teilfertigkeiten vorhanden sind. Sieht man sich beispielsweise eine ei- gentlich banale Tätigkeit wie das Schnürsenkel-Binden einmal ganz genau an und betrachtet jeden einzelnen Teilschritt (Festhalten der Schürsenkel, Hand-Augen- Koordination, unterschiedliche Bewegungen mit den Fingern der beiden Hände etc.), sieht man bereits, wie komplex diese so einfach erscheinende Handlung ist. Der Schriftspracherwerb ist jedoch um einiges komplexer. Die vier Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Sprechen und Hören basieren auf dem Erlernen vieler Einzelfer- tigkeiten (z.B. Erlesen und Schreiben von Lauten und Silben bis hin zu Wörtern, Phrasen und kleinen Sätzen), semantisches Verstehen, d.h. Wortschatzkenntnisse sowie alltagsbezogene Kommunikationsfähigkeit und kommunikative Routinen (vgl. hierzu auch Heyn; Rokitzki; Teepker 2010). Unsere Lerner müssen viele die- ser Teilfertigkeiten noch nachträglich erwerben, um erfolgreich alphabetisiert wer- den zu können. Viele Teilnehmer haben eine Muttersprache mit einem anderen Schriftsystem und zudem ein muttersprachliches „Sieb“3 beim Hören bestimmter Laute. Um die Komplexität der o.g. einzelnen Fertigkeiten, die erworben werden müs- sen, noch stärker zu veranschaulichen, soll im Folgenden die Fertigkeit „Schrei- ben“ näher betrachtet werden. Folgende Teilfertigkeiten müssen von den Lernern erworben werden: 2 Erprobungskurse fanden bislang in Kassel, Treysa und Marburg von März 2013 bis April 2014 statt. Kooperationspartner ist „Arbeit und Bildung e.V.“ (Marburg), der die Kurse organisiert und zusam- menstellt. 3 Nach Trubetzkoy (1989: 47) wendet ein Erwachsener Zeit seines Lebens ein muttersprachliches Sieb beim Fremdsprachenlernen an, denn er versuche, über den Filter seiner Muttersprache die zu lernende Fremdsprache zu hören. In der Fremdsprachenforschung geht man davon aus, dass dieser Filter sich im Alter von etwa sieben bis neun Jahren festigt, sodass es immer schwieriger wird, die Aussprache einer Fremdsprache akzentfrei zu lernen (vgl. hierzu auch Grotjahn 1998, Heyn 2010). Berufsbezogene Alphabetisierung 117  Phonologische Bewusstheit (Laut-Buchstaben-Zuordnung)  Graphomotorisches Geschick: Stiftführung, richtige Stifthaltung, Schreibrichtung, Linienführung  Fähigkeit zur visuellen Differenzierung: Buchstabenform und -größe und ihre Lageposition  Erkennen von visueller und lautlicher Serialität: Laute und Buchstaben werden nacheinander gehört und geschrieben  Entwicklung einer Schreibökonomie: Absetzen, Neuansetzen, Verbin- den einzelner Buchstaben etc.  Beherrschen der Wortsynthese: Laute eines Wortes und ihre graphemi- sche Umsetzung  Orthographische Kenntnisse: Schritt vom lautlichen Schreiben zum or- thographisch korrekten Schreiben (vgl. hierzu Heyn; Rokitzki; Teepker 2010) Sieht man sich die folgenden zwei exemplarischen Schriftproben unserer Teilneh- mer an, wird deutlich, welche Probleme das Schreiben verursachen kann (Abb. 1 und 2). Abb. 1: Diktat eines männlichen Teilnehmers (39 Jahre, Kongo/Lingala, kein Schulbesuch, kann in der Muttersprache weder lesen noch schreiben): Kellnerin, Handschuhe, Kakadu, Tomatensaft, verkaufen, Haarnetz, Gummistiefel; Satz: Der Mann hat eine Warnweste. Abb. 2: Diktat eines Teilnehmers (32 Jahre, Eritrea/Tigrinya, kein Schulbesuch, kann in der Muttersprache geringfügig lesen und schreiben): bluten, Notruf, Pilot, Faust, Verband, Schutzbrille, Boxer; Satz: Die Lehrerin ist gestolpert. Es handelt sich dabei um zwei Diktate, in denen zunächst einzelne Wörter, dann ein ganzer Satz diktiert wurde. „Kakadu“ ist ein unbekanntes lautgetreues Wort, Frauke Teepker & Susanne Krauß 118 das eingestreut wurde, um zu sehen, ob die Teilnehmer die einzelnen Laute hören und das Wort lautgetreu aufschreiben können, ohne das Wort selbst zu kennen. Diese beiden Schriftproben zeigen, wie schwierig es ist, überhaupt die Wörter der Lernenden zu entziffern und welche Probleme die Teilnehmer insbesondere mit der richtigen Reihenfolge von Lauten und Buchstaben haben, da einzelne Laute/ Silben nicht richtig zugeordnet, nicht erkannt/gehört oder verwechselt wurden. Aber nicht nur das Schreiben ist sehr komplex, auch der Erwerb der anderen Fertigkeiten wie Lesen, Wortschatz, Alltagskommunikation, grammatikalische Grundkenntnisse etc. erfordern viel Geduld und Zeit. Neben den primär schrift- sprachlichen Fertigkeiten sollen zudem auch Kompetenzen wie Selbstständigkeit und autonomes Lernen4 (z.B. Anwenden von Lernstrategien) erworben werden. Weitere Lernziele sind der interkulturelle Austausch und die Teilhabe am gesell- schaftlichen Leben in Deutschland. 3 Berufsbezogene Alphabetisierung Wenn bereits die Alphabetisierung von erwachsenen Einwanderern schwierig und zeitaufwendig ist, dann stellt sich die Frage, wie eine berufsbezogene Alphabetisie- rung aussehen könnte. Was heißt es konkret, berufsbezogen zu alphabetisieren? Soll es um allgemeine berufsübergreifende Inhalte gehen oder um Kenntnisse in bestimmten Berufen? Und welche Berufe sollen berücksichtigt werden? Was macht man, wenn in einem Kurs zehn Teilnehmer zehn unterschiedliche Berufe in Deutschland ausüben wollen, die Lernvoraussetzungen und Berufserfahrungen oder Qualifikationen jedoch sehr unterschiedlich sind? Wie kann dann eine berufs- bezogene Alphabetisierung aussehen? Welchen Anteil kann oder sollten berufsbe- zogene Inhalte und Ziele in einem Alphabetisierungskurs einnehmen? In einer nicht repräsentativen anonymen Online-Umfrage5 in der zweiten Jahreshälfte 2013 wurden Alphabetisierungs-Lehrkräfte verschiedener Institute und öffentlicher Einrichtungen bzw. Träger unter anderem dazu befragt, was ihrer Meinung nach mögliche berufsbezogene Ziele und Inhalte sein können: 1. „Berufsvorbereitende Alphabetisierung?“ 2. „für meine TN nichts, da die meisten noch nicht einmal zur selbstän- digen Bewältigung des Alltags fähig sind“ 4 Der Begriff des autonomen Lernens und der Lernerautonomie erfreut sich zwar größter Beliebtheit, ist aber in seiner Verwendung noch immer nicht eindeutig definiert (vgl. Schmenk 2008). Um weite- ren Missverständnissen entgegenzuwirken, wird stattdessen im Folgenden von selbstgesteuertem Lernen gesprochen, wenn es um Mittel und Wege geht, das eigene Lernen zu strukturieren und zu überwachen und Mittel kennenzulernen, die für das lebenslange Lernen unterstützend eingesetzt werden können. 5 Die Umfrage fand im Zeitraum vom 17.06. – 31.12.2013 statt und wurde bundesweit an die Volks- hochschulen, das Herder-Institut Leipzig und das Goethe-Institut München verschickt sowie an lokale Träger und individuelle Lehrpersonen in der Alphabetisierung (u.a. Arbeit & Bildung e.V., IQ Netzwerk, Sprache & Bildung Gießen, DIALOG Institut Dr. Kilian, ZAUG). Berufsbezogene Alphabetisierung 119 3. „Wortschatz, Redemittel, Verhalten, Formulare, Situationen bezogenen auf einen möglichen ‚Beruf‘“ 4. „Fachsprache und -vokabular vermitteln, Gespräche verstehen und sprechen können, aber auch Smalltalk“ Die Vorstellungen bezüglich berufsbezogener Alphabetisierung reichten hier von Unklarheit (1) und eindeutiger Ablehnung (2) bis hin zur Formulierung klarer Ziele und Inhalte (3+4), die sich auch mit unseren Vorstellungen und Recherchen deck- ten. 3.1 Herausforderungen bezüglich der Zielgruppe Unsere Untersuchungskurse sind reguläre Kurse unseres Kooperationspartners „Arbeit und Bildung e.V.“ Die Gruppengröße bewegt sich bei durchschnittlich sechs bis zehn Teilnehmern, die jedoch große Unterschiede aufweisen: So divergie- ren die Deutschkenntnisse von gar nicht oder kaum bis fließend falsch, ebenso die schulischen Vorerfahrungen. Es gibt Teilnehmer, die noch nie eine Schule besucht haben und entsprechend lernungewohnt sind, neben solchen, die einen Schulab- schluss oder sogar ein dem deutschen Abitur vergleichbaren Abschluss vorweisen können. Entsprechend der unterschiedlichen Lernerfahrungen und Bildungsni- veaus ist das Lerntempo jedes einzelnen Teilnehmers ganz individuell. Hinzu kommen die unterschiedlichen Muttersprachen, kulturellen und religiösen Hinter- gründe, wenn etwa Teilnehmer eines Kurses aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, dem Iran, Marokko oder der Ukraine kommen. Das Alter der Teilnehmer bewegt sich zwischen 20 und 60 Jahren und die Berufserfahrungen sowie Berufswünsche di- vergieren stark. So trafen wir in unseren Erprobungskursen auf folgende Berufs- wünsche und Präferenzen für Hilfs- und Arbeitstätigkeiten6: Reinigungskraft, Kü- chenhilfe, Automechaniker (Automechatroniker), Berufskraftfahrer, Bauhelfer, Servicekraft in der Gastronomie. Entsprechend unterschiedlich waren und sind die Bedarfe bezüglich der Inhalte und des zu lernenden Wortschatzes, wobei die Schwierigkeiten beim Erwerb fremden Wortschatzes ganz unterschiedlicher Natur sein können: Für DaF-/DaZ-Lernende mit einer anderen Schriftsprache als dem lateinischen Alphabet bzw. keinerlei Schriftsprachkenntnissen in der Mutterspra- che, also Lernende, die teilweise nicht in ihrer Muttersprache alphabetisiert sind, bereitet nicht nur die Wortlänge Probleme (z.B. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung), sondern auch die Diskriminierung von Lauten und/oder Schriftzeichen, die in der Muttersprache nicht vorkommen, auch wenn die Zweit-/Fremdsprache Deutsch mündlich gut beherrscht wird. Daneben ist davon auszugehen, dass berufsspezifi- sche Ausdrücke (z.B. Katzenzunge für eine bestimmte Kellenform im Baugewerbe) und Abkürzungen, die im Alltagsgebrauch kaum vorkommen (oder in einem ganz 6 Die hier genannten Berufsbezeichnungen und Arbeitstätigkeiten sind Aussagen der Teilnehmer und des Vereins für Arbeit und Bildung e.V. Es handelt sich nicht immer um eingetragene Berufsbezeich- nungen und in vielen Fällen sind eher ungelernte Hilfstätigkeiten für Geringqualifizierte gemeint. Frauke Teepker & Susanne Krauß 120 anderen Kontext verwendet werden) und somit nur selten gehört werden können, große Probleme bereiten. Unabdingbare Voraussetzung und eine große Herausforderung für die Lehr- personen – insbesondere in solch heterogenen Kursen, wie wir sie haben, ist die Orientierung an den einzelnen Teilnehmern mit Materialien, die auf den einzelnen Teilnehmer und seine Bedarfe abgestimmt sind. Eine Lösung können hier sogenannte Lernstationen sein, an denen die Teil- nehmer für ihren individuellen Berufswunsch Materialien eigenständig bearbeiten können. Ein solch binnendifferenzierter Unterricht setzt jedoch die Fähigkeit zum selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Lernen voraus (vgl. Feldmeier 2009: 35), eine Fähigkeit, die unsere Teilnehmer erst noch mühsam erlernen müssen. 3.2 Ziele und Inhalte In Anlehnung an das „Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs“, das „gleichbedeutende Vermittlung schriftsprachlicher und sprachlicher Kenntnis- se, Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Feldmeier 2009: 42) voraussetzt, haben wir für unsere Zielgruppe folgende Lerninhalte identifiziert:  Über Projektbeirat ermittelte Kommunikationssituationen am Arbeits- platz (s. auch Tätigkeitsprofile des Projektes „Lit.Voc“7) o z.B. Anweisungen von Vorgesetzten oder Kollegen verstehen und darauf reagieren können; Gespräche mit Kollegen, Kunden etc. führen o diverse Arbeitsdokumente verstehen und ausfüllen können (z.B. Schichtpläne, Bestellungsformulare, Krankmeldungen etc.) o Sicherheitsvorschriften und -hinweise verstehen und befolgen können  Wortschatz8 o berufsübergreifender Wortschatz o spezifischer Fachwortschatz Wir gehen dabei von einem „integrativen Kursmodell“9 aus, in dem parallel zu einem „klassischen“ Alphabetisierungskurs berufsbezogene Inhalte vermittelt wer- den. 7 Das Projekt Lit.voc – Literacy and education ist ein Leonardo da Vinci-Projekt aus Österreich, das Kon- zepte und Materialien für arbeitsplatzbezogene Grundbildungskompetenzen erstellt: http://www. grundbildung-und-beruf.info/index/409/ (11.03.2015). 8 Eine erste Auswahl an notwendigem Wortschatz wurde durch Befragungen des Projektbeirats erho- ben, der sich aus diversen in den jeweiligen Berufen tätigen Personen zusammensetzt. 9 Ob diesen Kursen später noch Deutschkurse folgen, kann zu diesem Zeitpunkt nicht gesagt werden bzw. ist zumindest vom Kursträger „Arbeit und Bildung e.V.“ nicht angedacht (auch wenn dies wünschenswert wäre). Auf die Diskussion zwischen Ritter (2005) und Feldmeier (2005, 2006) bezüg- lich eines additiven oder integrativen Modells soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da die berufsbezogenen Inhalte eine Erweiterung der klassischen Alphabetisierungsinhalte darstellen. Berufsbezogene Alphabetisierung 121 Wilkins legt in seinem Zitat: „Without grammar, very little can be conveyed. Wit- hout vocabulary, nothing can be conveyed.“ (Wilkins 1972: 111) sehr anschaulich dar, dass eine grundlegende Beherrschung des Wortschatzes für sämtliche Kom- munikationssituationen Voraussetzung ist. Da mit unserer Vorstellung eines be- rufsbezogenen Alphabetisierungskurses keine Vollalphabetisierung angestrebt wird, ist der grammatische Anspruch auf eine Ebene reduziert, die in erster Linie die Kommunikation ermöglichen und aufrechterhalten soll, aber nicht zwingend einen Korrektheitsanspruch verfolgt. Daher lag der Fokus der ersten Erprobungs- phase auf dem Bereich des Wortschatzes und auf welche Weise Wortschatzlernen in Alphabetisierungskursen bereits auf einem niedrigen Niveau eingeführt, geübt und für den Bereich des Selbstlernens unterstützt werden kann.10 Diese Möglich- keiten werden im Folgenden nach einem kurzen Exkurs in allgemeine Lernstrate- gien ausführlicher geschildert. 3.3 Exkurs in allgemeine Lernstrategien Als mit der kognitiven Wende die inneren Lern- und Denkvorgänge immer wichti- ger wurden, entwickelte sich auch nach und nach die Erforschung und Benennung von Lernstrategien, welche inzwischen in jeglichen Lehr-/Lernbereichen eine es- sentielle Rolle einnehmen und eng mit erfolgreichem, selbstständigem und lebens- langem Lernen verbunden werden (vgl. Bimmel 2012, Mandl; Friedrich 2006, Rampillon 1996, Oxford 1990a, Kinsella 1995, Ehrmann 1996). Die Begriffsverwendung ist jedoch nicht einheitlich und es finden sich neben dem Terminus ‚(Sprach)Lernstrategien‘11 auch u.a. die Begriffe ‚Lernstil‘, ‚Lern- technik‘ oder ‚Mnemotechnik‘. Während Mnemotechniken12 im Sinne der Ge- dächtniskunst zwar eine lange Tradition aufweisen und i.d.R. mit guten Behaltens- effekten belegt sind, ist deren Einsatz eher auf experimentelle Settings beschränkt, eine behaltensfördernde Wirkung im Klassenzimmer jedoch weniger eindeutig belegt (vgl. Pressley; Levin 1983 in Mietzel 2007: 269). Lernstile werden oft als „relativ stabile Präferenzen“ (Grotjahn 2003: 327, vgl. auch Oxford 1990b: 12) beschrieben, während Lernstrategien eine eher variable Eigenschaft zugeschrieben 10 Wortschatz soll hier − gemeinsam mit den damit verbundenen Lernstrategien − als Ausgangsbasis dienen, sich dem Schriftspracherwerb zu nähern und spätere, komplexere Handlungen (z.B. o.g. Kommunikationssituationen) zu unterstützen. Damit ist nicht gemeint, dass eine berufsbezogene Alphabetisierung oder ein berufsbezogener Deutschunterricht nur auf Wortschatzvermittlung beru- hen sollte. 11 Bimmel unterscheidet z.B. zwischen Sprachgebrauchs- und Sprachlernstrategien. Letztere beinhal- ten z.B. „Gedächtnisstrategien, die Lernende anwenden können, um neue fremdsprachliche Elemen- te effektiver behalten und aus dem Gedächtnis abrufen zu können, und kognitive Strategien, die vorwiegend auf das Analysieren und Strukturieren des Lernstoffs sowie auf ein effektives Üben abzielen“ (Bimmel 1993: 6). 12 Unter Mnemotechniken versteht Mietzel „Methoden zur Förderung des Behaltens. Sie bewähren sich vor allem, wenn Material gelernt werden muss, das zunächst nicht sinnvoll erscheint oder das zu einem späteren Zeitpunkt in einer bestimmten Reihenfolge wiederzugeben ist, die von Lernenden als willkürlich wahrgenommen wird“ (Mietzel 2007: 268). Frauke Teepker & Susanne Krauß 122 wird (vgl. Oxford 1990b: 12). Bei Lerntechniken ist eine Abgrenzung noch schwie- riger, da dieser Begriff oft deckungsgleich mit Lernstrategien verwendet wird (vgl. Bimmel 2010: 844), auch wenn von einigen versucht wurde, sich für bzw. gegen eine Trennung der beiden Begriffe auszusprechen (vgl. Rampillon 1996: 20 und Würffel 2006: 45). In dem vorliegenden Artikel nutzen wir den Begriff Lernstrate- gien, um hier – in Anlehnung an Cohen (1998: 4) – die lernfördernde Wirkung verschiedener Aktionen bezüglich der Speicherung, dem Erinnern und dem Abru- fen von sprachlichen Informationen zu nutzen. Aufgrund der oft unterdurchschnittlich ausgebildeten bzw. fehlenden Lern- erfahrung von Teilnehmern in Alphabetisierungskursen spielen Lernstrategien hier eine besonders wichtige Rolle, da sie zur Befreiung aus der Abhängigkeit ein Mittel auf dem Weg zur Selbstbestimmung darstellen können (vgl. Feldmeier 2009: 35). Lernungewohnten Teilnehmern in Alphabetisierungskursen fehlt es aber i.d.R. nicht nur an geeigneten Arbeits- und Lernstrategien, oft sind auch kognitive und affektive Voraussetzungen in unzureichendem Maße vorhanden: Die Fähigkeit zur Abstraktion, zum Problemlösen oder zum Transfer ist bei vielen mangelhaft ausgebildet, sie besitzen nur wenig Selbstvertrau- en […], und ihr Verhalten ist häufig von Angst und Unsicherheit ge- prägt. Des Weiteren sind ihr sprachliches Vorwissen sowie ihr Weltwis- sen oft unzureichend. (Morfeld 1998: 15) Was Morfeld hier mit Bezug auf eine Studie über VHS-Fremdsprachenlerner von Düker; Spekker; Vielau aus dem Jahre 1985 zitiert, trifft auch auf einige Teilneh- mer in unseren Alphabetisierungskursen zu, insbesondere, wenn es sich um (Kriegs-)Flüchtlinge handelt, oder Personen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Schule gehen konnten bzw. aktiv daran gehindert wurden. Die Vermittlung von Lernstrategien ist demnach stark von den Voraussetzun- gen, dem Wissens- und vor allem dem Sprachstand der Kursteilnehmer abhängig und beschränkt sich bei Teilnehmern, die Deutsch mündlich noch nicht verstehen können, auf Vorgehensweisen, die kognitiv so wenig belastend wie möglich sein sollten, durch Zeigen verdeutlicht werden können und stark auf visueller Unter- stützung aufbauen. Das ist auch der Grund, warum das BAMF-Konzept Lernstra- tegien erst ausführlich in den Beschreibungen zu den Aufbau-Alpha-Kursen disku- tiert (vgl. Feldmeier 2009: 70). Trotzdem werden in den curricularen Hinweisen zu allen Alpha-Kursstufen Strategien aufgelistet – auch für den Basis-Kurs. Die Nen- nungen schwanken hierbei jedoch von sehr allgemeinen Umschreibungen wie „Mnemotechniken für die Wortschatzarbeit“ (Feldmeier 2009: 165) bis hin zu konkreten Angaben wie „Geschichtentechnik nutzen (eigene Geschichten zur Memorierung von Wortschatz erfinden)“ (Feldmeier 2009: 182), was an sich ja auch eine Mnemotechnik ist. Dem durchaus bemerkenswerten Repertoire fehlt es jedoch an Angaben und Hinweisen, wie diese Strategien für die jeweilige Zielgrup- pe aufbereitet und umgesetzt werden können. Berufsbezogene Alphabetisierung 123 3.4 Mögliche Umsetzung von Vokabellernstrategien für berufsbezogenen Wortschatz Mit dem Eintauchen in berufsbezogene bzw. -relevante Bereiche eröffnet sich auch noch ein teilweise sehr fachspezifischer Wortschatz, der – wie z.B. die Begrif- fe Edelstahlreiniger und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zeigen – allein durch die Länge (und damit verbunden Aussprache- und Erinnerungsschwierigkeiten) lernunge- wohnte Teilnehmer schnell überfordern kann. Komposita können u.U. vereinfacht oder verkürzt werden (ein ‚Bodenwischtuch‘ kann so durch Zeigen auch zu einem ‚Tuch‘ vereinfacht werden). Teilweise ist eine genaue Bezeichnung aber für eine gelingende Kommunikation notwendig, z.B. wie beim „Erste-Hilfe-Kasten“ oder wenn der Meister nach einem ‚Schlitzschraubendreher‘ fragt und der Produktions- helfer einen ‚Kreuzschlitzschraubendreher‘ bringt, der dann nicht auf die Schraube passt. Für unseren Fokus sind daher insbesondere Memorierungsstrategien13 inte- ressant, auch weil berufsbezogener Wortschatz im Alltag eine untergeordnete Rolle spielt und die Teilnehmer – sofern es sich um berufsvorbereitenden Unterricht handelt – ihm nicht alltäglich ausgesetzt sind. Um diesbezüglich den Bedarfen unserer Zielgruppe entgegenzukommen, ha- ben wir die folgenden drei Vokabellernstrategien in einem Kurs zur berufsprakti- schen/-vorbereitenden Weiterbildung14 von Arbeit und Bildung e.V. in Marburg eingeführt und begleitet:  Wort-/Bildkarten bzw. „Memory“  Vokabelheft in modifizierter Version als „Meine Lernwörter“  Karteikarten Die Reihenfolge ist gemäß der kognitiven Anstrengung der jeweiligen Vorgehens- weisen gewählt, nimmt also von mechanischeren zu komplexeren Strategien zu, was sich u.a. in der zunehmenden Rolle der Schriftproduktion zeigt. Dabei ist zu beachten, dass mit dem Grad der Komplexität keine Wertung einhergeht. Kom- plexere Strategien werden zwar als effektiver eingestuft, ‚oberflächlichere‘ können aber auch effektiv sein (vgl. O’Malley; Chamot Uhl 1990).15 13 Mit dem Fokus auf Memorierungsstrategien sind allerdings Strategien aus anderen Bereichen (z.B. kognitiv, sozial, affektiv etc.) nicht ausgeschlossen und werden in Bezug auf metakognitive Strategien sogar durch die angebotenen Strategien gefördert (bzgl. der verschiedenen Klassifizierungsmöglich- keiten von Lernstrategien siehe Oxford 1990 oder Schmitt 1997). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der Anwendung einer Strategie wie dem Karteikarten-Lernen nicht auch noch weite- re Strategien angewendet werden, wenn z.B. Bilder mit Handlungen verbunden werden oder Begriffe mit einprägsamen Situationen assoziiert werden. 14 Der Kurs lief über ca. 6 Monate mit einer Stundenanzahl von 590 UE. Die Strategien wurden in den ersten zwei Monaten eingeführt. 15 Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine Präferenz für ein bestimmtes Vorgehen z.B. durch kultu- relle Unterschiede in der Lernkultur bedingt ist. Das Auswendiglernen, was gerade in ostasiatischen Ländern zum Teil zur schulischen Sozialisation gehört, kann für asiatische Lerner somit durchaus auch eine effektive Strategie darstellen. Frauke Teepker & Susanne Krauß 124 Diese Vorgehensweisen sind bei weitem nicht neu. Die hier eingesetzten Strategien basieren auf Visualisierungen der berufsspezifischen Wörter. Das Verstehen der Visualisierungen erfordert dabei genauso eine bestimmte Art von Literacy, denn das semantische Verstehen der Bilder beinhaltet einen Lernprozess, wobei hier von Vorteil ist, dass wir mit Fotografien der Werkzeuge und Arbeitsmittel arbeiten und die Visualisierungen somit einen hohen Wiedererkennungseffekt für die Lernenden besitzen. Dennoch müssen auch die Bilder eingeführt und ihre semantische Bedeu- tung erklärt bzw. gezeigt werden und naturgemäß gibt es Begriffe, insbesondere Tätigkeiten, die nur schwer bildlich darstellbar sind. Dennoch stellen sämtliche Formen der Visualisierung seit je her ein unverzichtbares Werkzeug in der Alpha- betisierungsarbeit dar, allein schon, weil sie zur Verständigung bei unzureichender mündlicher Kompetenz notwendig sind sowie auch für Konzepte, die im mutter- sprachlichen mentalen Lexikon nicht existieren. Auch Karteikarten sind, wie dem BAMF-Konzept entnommen werden kann, eine bekannte Strategie. Es ist anzu- nehmen, dass das Vokabelheft aufgrund fehlender Alphabetisierung in der Mutter- sprache einiger Teilnehmer im BAMF-Konzept nicht angesprochen wird. Wie sich allerdings zeigen wird, muss dies kein Ausschlusskriterium sein. Offen blieb aber bisher, ob diese Vorgehensweisen bereits von Beginn an im Alphabetisierungskurs eingesetzt werden können. Da wir berufsbezogene Alpha- betisierung im Sinne eines integrativen Unterrichtsmodells (s. 3.2) als Teil eines all- gemeinen Alphabetisierungskurses verstehen, haben wir den allgemeinen Kurs zu ca. einem Drittel durch berufsbezogenes Material unterstützt und den Wortschatz anhand der folgenden drei Strategien (s. 3.3.1) geübt und gefestigt. Parallel dazu haben die Teilnehmer jede Strategie einzeln eingeschätzt und auch alle Strategien zusammen reflektiert. Diese Angaben wurden neben den Reflexionsblättern durch Interviews mit den Teilnehmern sowie durch Kursleiterbeobachtungen und -befra- gungen gestützt und verifiziert. Sämtliche Materialien wurden von uns vorbereitet und auch zur weiteren Verwendung im Kurs zur Verfügung gestellt. 3.4.1 Wort-Bildkarten/„Memory“ Aufgrund der bereits angesprochenen Bedarfe unserer Zielgruppe stellt Visualisie- rung ein unverzichtbares Instrument für den Unterricht sowie die von uns einge- setzten Strategien dar. Nicht nur, weil mittels von Bildern oft fremde Konzepte ohne Sprache vermittelt werden können, sondern auch, weil die Darstellung von Objekten durch Bilder besser behalten wird als deren Bezeichnung (vgl. Hoff- mann; Engelkamp 2013: 169 und Weidenmann 2011: 78).16 16 Hoffmann; Engelkamp (2013) verweisen anhand des multimodalen Modells auf diverse Effekte in Bezug auf das Behalten von Bildern und sprechen u.a. „den positiven Einfluss der dualen Enkodie- rung auf das Behalten von Bildern und Wörtern“ an (Hoffmann; Engelkamp 2013: 173), weisen aber darauf hin, dass die duale Kodierung nicht die Ursache des Bildüberlegenheitseffektes ist und dem- nach auch nicht beim Anblick eines Objektes automatisch seine Bezeichnung aktiviert wird. Berufsbezogene Alphabetisierung 125 Bei Wort-Bildkarten bzw. „Memory“ handelt es sich in erster Linie nicht um das Konzentrationsspiel, auch wenn diese Umsetzung von stärkeren Lernern im Kurs tatsächlich angewandt wurde. Hauptsächlich wurden die Wort-Bild-Karten als Erklärung und Gedächtnisstütze eingesetzt (vgl. die Strategie „study word with a pictorial representation of its meaning“ (Schmitt 1997: 207)). Über das Entdecken von neuem Wortschatz hinaus werden so insbesondere das Wiedererkennen (le- sen/vorlesen) und Zuordnen von Bild und Bildbezeichnung geübt und mittels Blanko-Kärtchen ein Übergang zum Schreiben/Betiteln ermöglicht. Des Weiteren spielen hier auch Gruppierungsstrategien eine Rolle, wenn – wie in Abb. 3 anhand von Berufsbezeichnungen erkenntlich – neben dem Bild und der Bezeichnung auch auf ähnliche Wortarten eingegangen wird oder die Kärtchen thematisch nach Berufen, Verben etc. geordnet werden. Außerdem können die Kärtchen zum Tes- ten verwendet werden, allein oder zu zweit, indem sich gegenseitig abgefragt oder verdeckt Memory gespielt wird. Die Reaktion auf die Kärtchen war bei allen Teilnehmern äußerst positiv und die Möglichkeit der unterschiedlichen Zuordnung hat ihnen sichtlich Spaß bereitet. Unsere Annahme war, dass dieses Vorgehen insbesondere bei Lernern beliebt ist, die noch große Probleme mit dem Schriftspracherwerb haben. Für diese Teilneh- mer war die Zuordnung, die über die erste Ebene hinausging (also Bild-Wort-Wort statt nur Bild-Wort-Zuordnung), schon erheblich schwieriger. In der Selbsttest- und Wiederholungsphase wurden sowohl das gegenseitige Abfragen als auch – unter stärkeren Lernern – das Memory-Spielen angewandt. Zu beobachten war hierbei, dass das mündliche Erinnerungsvermögen durch das Vor-Augen-Führen mittels der Bilder i.d.R. recht gut und schnell entwickelt/ausgebildet wurde, das Vorlesen aber oft noch Probleme bereitete. Die Wort-Bild-Karten dienten daher als erster Schritt, sich dem neuen Wortschatz kleinschrittig zu nähern und aufbau- end auf der mündlichen Fähigkeit die schriftliche nach und nach zu erweitern und auszubauen. Abb. 3: Ordnungsprinzipien bei Wort-Bild-Karten Frauke Teepker & Susanne Krauß 126 3.4.2 Vokabelheft: „Meine Lernwörter“ Die Strategie ein Vokabelheft zu führen ist ein Vorgehen, das auch in Klassifikati- onen zu Vokabellernstrategien häufig aufgelistet ist (vgl. Rampillon 1996, Schmitt 1997, Morfeld 1998). Aufgrund des Paarassoziationslernens17 und der Gefahr des Positions- oder Listeneffektes18 hat das Lernen mit einem Vokabelheft eine negati- ve Konnotation erhalten. Das Paarassoziationslernen stellt jedoch für den An- fangsunterricht durchaus ein legitimes Vorgehen dar und insbesondere bei Alpha- betisierungskursen geht es in erster Linie darum, Konzepten das deutsche Wort zuzuordnen und eine erste Annäherung an die Schriftsprache zu leisten, die dann in weiteren Kursen gefestigt und erweitert werden soll. Ein weiterer Grund, warum Vokabelhefte in Alphabetisierungskursen nicht zum Einsatz kommen, könnten die o.g. fehlenden Schriftsprachkenntnisse in der Muttersprache sein. Nicht jeder Teil- nehmer verfügt über (ausreichend) schriftsprachliche Kenntnisse in der Mutter- sprache – teilweise kann gar nicht, nur vereinzelt oder u.U. auch fließend geschrie- ben werden. Aber selbst Teilnehmer, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben können, können diese als Gedächtnisstütze mittels des ‚Rückgriffs auf die Mutter- sprache‘ nutzen. Bei diesem Vorgehen sprechen die Teilnehmer das muttersprach- liche Wort für das jeweilige Konzept19 laut aus und überlegen dann (auch mithilfe der Lehrkraft), welche Grapheme im Deutschen den Lauten der Muttersprache entsprechen und wie sie das Wort so mit lateinischen Buchstaben in ihrer Mutter- sprache aufschreiben können (für eine ausführliche Darstellung s. Heyn 2010, 2013). In der von uns abgewandelten Form des traditionellen Vokabelheftes ent- hält jeder Eintrag eine bildliche Repräsentation als Erklärungs- und Erinnerungs- hilfe, die bei fortgeschrittenen Lernern auch weggelassen werden kann (s. Abb. 4). Da die Wörter selbständig in das Vokabelheft eingetragen werden, dient das (Ab-) Schreiben bereits als erste Übung und Wiederholung. Außerdem kann – mithilfe der Lehrperson – eine Sensibilisierung für die Rechtschreibung durch Abgleich mit einer Vorlage (z.B. einem Wörterverzeichnis) erfolgen. Der Hauptunterschied von „Meine Lernwörter“ liegt aber darin, dass hier mit der Rückseite das Selbsttesten ermöglicht und so eine Heranführung an das Einschätzen und Überwachen des 17 Mit Paarassoziation ist gemeint, dass jeder fremdsprachigen Vokabel eine muttersprachliche zuge- ordnet ist. Da Wörter jedoch in den seltensten Fällen eindeutig sind und genau einer Übersetzung zugeordnet werden können, kann Paarassoziationslernen nicht die natürliche Komplexität und Varie- tät einer Sprache abbilden. Daher wird in der Fremdsprachendidaktik von einem Wortschatzerwerb durch Einzelwörter und Wortgleichungen abgeraten und auf die Notwendigkeit von Kontextualisie- rung hingewiesen (vgl. Stork 2003: 116). 18 Der Positions- oder Listeneffekt kann sich einstellen, wenn Wörter in einer Vokabelliste immer der vorgegebenen Reihenfolge nach gelernt werden und man sich daraufhin an die Position des gefragten Wortes in der Liste erinnert, nicht aber an den Eintrag selbst (vgl. Stork 2003: 116). 19 Insbesondere bei spezifischen oder nicht alltäglichen Begriffen kann es hier zu Übersetzungs- schwierigkeiten kommen, z.B. wenn das Konzept in der Muttersprache nicht existiert oder nur um- ständlich umschrieben werden kann. Einige Sprachen umgehen das Problem, indem sie Fremdwörter – z.B. aus dem Englischen – benutzen. Wenn keine eindeutige und/oder prägnante Formulierung in der Muttersprache möglich ist, sollte auf die Übersetzung verzichtet werden, da sie sonst Gefahr läuft, den Lernprozess nicht mehr zu unterstützen, sondern nur unnötig zu erschweren. Berufsbezogene Alphabetisierung 127 eigenen Lernerfolgs unterstützt wird. Denn nachdem zumindest die linke Spalte der Vorderseite ausgefüllt ist, kann diese umgeklappt werden und eigenständig überprüft werden, ob man das Bild aus dem Gedächtnis heraus mit oder ohne muttersprachlicher Übersetzung betiteln kann (s. Abb. 5). Hierbei wird neben dem wiederholten Schreiben auch die Bedeutung von Rechtschreibung und dem eige- nen Fehlerbewusstsein geschult, indem Lerner die Spalte immer wieder aufklap- pen, die Schreibweise beider Einträge vergleichen und ggf. verbessern können. Als weitere Variante ist auch ein Übersetzen ohne bildliche Unterstützung möglich, hierfür wird die rechte Spalte umgeklappt und zunächst mithilfe der Bildleiste in die Muttersprache übersetzt und anschließend die rechte Spalte so weit umge- klappt, dass die Bildleiste verdeckt ist und von der Muttersprache zurück ins Deut- sche übersetzt wird. Das Prinzip des Vokabelheftes war einigen fortgeschrittenen Teilnehmern durch ihr Notizenverhalten bereits bekannt, allerdings nicht in dieser Form. Die bildliche Unterstützung wurde von allen Teilnehmern wahrgenommen und die Übersetzung – mit Ausnahme eines Teilnehmers – auch in ihrer Muttersprache ausgefüllt. Bei dieser Strategie gaben mit einer Ausnahme alle Teilnehmer20 an, gern mit ihr zu arbeiten. Der Teilnehmer, der sie nicht mochte, führte dies darauf zurück, dass er in seiner Muttersprache nicht schreiben konnte; er war allerdings kognitiv auch nicht in der Lage den Rückgriff auf die Muttersprache umzusetzen.21 In den Interviews wurde zudem deutlich, dass diese Strategie von allen Teilneh- mern (auch denen, die zwischenzeitlich eine andere Strategie favorisiert hatten) als beste Strategie genannt wurde. Begründet wurde dies mit dem Überblickscharakter des Vokabelheftes, „Drei Dinge in einem“22 zu haben. „[M]it einem Überblick sehe ich, was geschrieben wird und das Bild. […] Bei den Memorys […] muss ich das Bild und das passende Wort zusammensuchen und das ist sehr schwer.“23 In Unterrichtsbeobachtungen wurde außerdem deutlich, dass einige Teilneh- mer das Vokabelheft auch über den von uns eingeführten Wortschatz hinaus für Notizen aus dem Unterricht genutzt und z.B. Phrasen notiert und geübt haben. Des Weiteren wurde das Vokabelheft von vielen als ‚Nachschlagewerk‘ für die Bearbeitung von Übungen etc. benutzt. 20 In diesem Kurs konnten leider nur 6 Teilnehmer (n=6) zu den Strategien befragt werden. Judith Reisewitz hat im Rahmen ihrer Dissertation an der VHS Marburg in zwei parallelen Alphabetisie- rungskursen den Einsatz und die Reflexion der Strategien mit 16 Teilnehmern untersucht. Diese Untersuchung ist aber noch nicht veröffentlicht und konnte, da es sich nicht um berufsbezogene Alphabetisierungskurse handelt, hier nicht berücksichtigt werden. 21 In Kursen des Vorgängerprojektes wurde der Rückgriff auf die Muttersprache getestet und es zeigte sich, dass dieser Ansatz sich sehr gut für Teilnehmer eignet, die nicht oder nur kaum in ihrer Mutter- sprache alphabetisiert sind (vgl. hierzu auch Heyn 2010 und 2013). Aus zeitlich-organisatorischen Gründen konnte in diesem hier beschriebenen Kurs nicht intensiv genug mit dem Teilnehmer (s.o.) das ‚Transferieren‘ eines muttersprachlichen Wortes in lateinische Buchstaben trainiert werden. 22 Übersetzter Interviewausschnitt mit Teilnehmer MR_AA_SO, 2014. 23 Übersetzter Interviewausschnitt mit Teilnehmer MR_KXH_SO, 2014. Frauke Teepker & Susanne Krauß 128 Abb. 4: Vorderseite des modifizierten Vokabelheftes „Meine Lernwörter“ Abb. 5: Rückseite des modifizierten Vokabelheftes „Meine Lernwörter“ Berufsbezogene Alphabetisierung 129 3.4.3 Karteikarten Auch das Lernen mittels Karteikarten hat einen festen Platz in den Klassifikatio- nen der Vokabellernstrategien (vgl. Rampillon 1996, Schmitt 1997, Morfeld 1998) und wird aufgrund der Ergänzungs- und Umgruppierungsmöglichkeiten oft dem Vokabelheft vorgezogen (vgl. Stork 2003: 117). Abb. 6: Möglichkeiten der Karteikartengestaltung Sofern es sich um selbst erstellte Karteikarten handelt, können die Vorder- und Rückseite auf verschiedene Art gestaltet werden (vgl. Abb. 6): (a) als Bildimpuls und deutsche Entsprechung, (b) als muttersprachliche Übersetzung und deutsche Entsprechung, (c) als deutsches Wort und erweiterter Kontext (z.B. ein Beispiel- satz) oder auch (d) als Bildimpuls und muttersprachliche Entsprechung für Einträ- ge, die nur rezeptiv wahrgenommen werden müssen (z.B. die Bedeutung von Si- cherheitszeichen oder Warnhinweisen). Im BAMF-Konzept wird der Umgang mit und die Einführung in die Arbeit mit Karteikarten bereits für den Kursabschnitt 2 im Basis-Alphakurs vorgeschlagen (vgl. Feldmeier 2009: 165). Durch die selbständige Erstellung der Karteikarten (mittels einem Wörterverzeichnis etc.) wird der zu lernende Wortschatz hier bereits erneut (ab-)geschrieben, wobei nach Möglichkeit – mithilfe der Lehrperson – auf eine möglichst korrekte Rechtschreibung geachtet werden sollte. Bildliche Verdeut- lichung sowie – falls vorhanden und vom Teilnehmer umsetzbar – eine mutter- sprachliche Übersetzung können als Gedächtnisstütze genutzt werden und auch hier ist ein Selbsttesten möglich, indem versucht wird, sich an die Antwort auf der Rückseite zu erinnern, und der Lerner sich durch Umdrehen der Karte selbst kon- trollieren kann. Die Erweiterung und kognitive Herausforderung liegt bei Kartei- karten im nächsten Schritt, nämlich der Einschätzung, wie gut man ein Wort be- herrscht und wie man es dementsprechend in den Karteikasten einsortieren muss, Frauke Teepker & Susanne Krauß 130 um sich das Prinzip des zeitversetzten Wiederholens und verteilten Lernens24 zunutze zu machen. Der Einfachheit halber haben wir für unsere Zielgruppe auf ein 5-Fächer-Prinzip verzichtet und stattdessen ein 3-Fächer-Prinzip angewendet (s. Abb. 7). Die Smileys (mit einem lachenden, einem neutralen und einem trauri- gen Ausdruck) bezeichnen die verschiedenen Wissensstufen, d.h., ob ein Wort sicher beherrscht wird, ob man sich unsicher war und ob man ein Wort gar nicht wusste, ohne eine Unterscheidung zwischen produktiver und rezeptiver Beherr- schung vorzunehmen.25 Abb. 7: Vereinfachtes Karteikasten-Prinzip (3-Fächer) Bei der Einschätzung der Karteikarten-Strategie war keine eindeutige Präferenz erkennbar, die Nennungen fielen hier sehr unterschiedlich aus. Das kann zum einen damit zusammenhängen, dass es die dritte und letzte Strategie war, die einge- führt wurde und so bereits ein Vergleich mit den anderen existierte, als auch, dass es – in Bezug auf die Einschätzung und die Organisation des eigenen Lernens – die anspruchsvollste war. Das Lernen und Testen mit den Karteikarten ähnelte in vielerlei Hinsicht den Wort-Bild-Karten und stellte i.d.R. kein Problem dar. Sich 24 Leitner (2011) zeigt in seinem Buch die Notwendigkeit von Wiederholungen als Teil des Lernpro- zesses auf (mit Verweis auf Thorndike) und setzt dies in Relation zu Ergebnissen, die besagen, dass verteiltes Lernen effektiver ist als gehäuftes (mit Verweis auf u.a. Ebbinghaus). Darauf aufbauend erläutert er sein System der 5-Fächer-Lernkartei, das sich darin auszeichnet, „nur Informationen öfter zu wiederholen, die schlechter in unserem Gedächtnis haften, die anderen aber womöglich ganz selten und nur zur unumgänglichen Kontrolle“ (Leitner 2011: 64). 25 Selbstverständlich ist die Unterscheidung, ob ein Wort rezeptiv oder produktiv beherrscht wird/ werden soll, durchaus wichtig und wurde in Lernfortschrittskontrollen sowie Kursleiterbefragungen mit entsprechenden Aufgabenstellungen überprüft. Diese Unterscheidung war jedoch für unsere Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt kognitiv nicht zu leisten, da die Selbsteinschätzung als solche bereits eine große Herausforderung darstellte. Berufsbezogene Alphabetisierung 131 selbst jedoch dabei einzuschätzen und dementsprechend die Karteikarten in den Kasten zu sortieren, bedarf insbesondere bei lernungewohnten Teilnehmern der Hilfe durch die Lehrperson. Das Lernen mithilfe von Karteikarten ist somit von allen hier vorgestellten Vorgehensweisen auch die Strategie, die erst nach längerer und regelmäßiger Anwendung überzeugen kann. Dies hängt jedoch neben allge- meinen Präferenzen auch stark von der Lebens- und Lernsituation der jeweiligen Teilnehmer ab, d.h., ob durch innere wie äußere Umstände ein selbständiges Ler- nen außerhalb des Unterrichts überhaupt möglich ist. 4 Fazit Deutlich wurde im bisherigen Projektverlauf das Problem der Verteilung von all- gemein (schrift-)sprachlichen und berufsbezogenen Elementen in solchen Alpha- betisierungskursen. Sieht man sich hierzu zwei Aussagen aus der oben zitierten Online-Umfrage an (s. auch unter 3), stellt man fest, dass wir uns in einem Dilem- ma bewegen. Auf die Frage: „Wie hoch sollte Ihrer Meinung nach der Anteil (in Prozent) an berufsbezogenen Elementen in einem Alphabetisierungskurs sein?“, erhielten wir zwei exemplarische Antworten, die die Problematik verdeutlichen: 1. „Sehr hoch; eine ‚Berufstätigkeit‘ führt zu mehr Selbstbewusstsein und Selbständigkeit und dies wiederum zu größerer Lernbereitschaft etc. Allerdings ist dies nicht mit 1200 Stunden zu schaffen. Die Stunden- zahl müsste aufgestockt werden. Ich würde ‚Zusatzblöcke‘ von jeweils 100 Stunden anbieten und dann sehr konkret ‚vor Ort‘ (Pflegestation etc.) üben.“ 2. „Nicht höher als 33%, da im Normalfall auch ein hoher Bedarf an ele- mentaren Sprachkenntnissen für die wichtigsten Lebensbedürfnisse be- steht.“ Dabei geht es nicht nur um inhaltliche Fragen, sondern die Kursform bzw. das Kursmodell für diese Zielgruppe:  integrativ oder additiv?  im Klassenraum oder am Arbeitsplatz? muss grundsätzlich und auf politisch-institutioneller Ebene entschieden werden. Hieran schließt sich auch die Frage der Gewichtung von berufsübergreifendem und berufsspezifischem Wortschatz an. Ein Lösungsansatz ist in unseren Projekt- kursen, die dem integrativen Modell zuzuordnen sind, der ‚offene Unterricht‘ in Form von berufsspezifischem Stationenlernen, was wiederum ein selbständiges Arbeiten der Teilnehmer voraussetzt. Während berufsübergreifende Themen mit der ganzen Lerngruppe behandelt werden können, sollten berufsspezifische The- men individuell und selbständig erlernt werden, es sei denn, in einem Kurs streben alle Teilnehmer denselben Beruf an. Nicht zuletzt deshalb sind Lernstrategien von Frauke Teepker & Susanne Krauß 132 elementarer Bedeutung. Wir entwickeln zurzeit berufsbezogenes Material, das auf die unterschiedlichen Umsetzungsmöglichkeiten so flexibel wie möglich angepasst werden kann. Aufgrund der kognitiven Anstrengung, die mit den Vokabellernstrategien ver- bunden ist, war unsere Vermutung, dass lernungewohnte Teilnehmer vorwiegend auf die Wort-Bild-Karten ausweichen werden. Das konnte anhand von Beobach- tungen und Befragungen aber nicht gestützt werden, im Gegenteil. Beobachtungen des Arbeits- und Lernverhaltens unserer Teilnehmer haben gezeigt, dass von den eingesetzten Materialien das Vokabelheft „Meine Lernwörter“ am positivsten wahrgenommen wurde. Alle haben „Meine Lernwörter“ als ein Referenzwerkzeug genutzt, um sich bereits behandelten Wortschatz anhand der Bilder wieder ins Gedächtnis zu rufen. Um eine Hinführung zum selbstständigen Lernen zu ermög- lichen, bedarf es natürlich auch der entsprechenden Nachschlagewerke. Für den allgemeinen Sprachgebrauch gibt es nur wenige erwachsenengerechte26, die auf Lerner ausgerichtet sind, die aufgrund fehlender Schriftkenntnisse in der Mutter- sprache auch kein zweisprachiges Wörterbuch benutzen können. Für die berufsbe- zogene Alphabetisierung stellt dies immer noch ein Desiderat dar. Wir wollen dem entgegenwirken und erstellen für Schriftungeübte ein vertontes27 Bildwörterbuch für berufsbezogenen Wortschatz, das voraussichtlich Ende 2015 sowohl in einer Printfassung mit Audio-CD als auch als App (in erweiterter Form mit zusätzlicher Testfunktion) zur Verfügung stehen wird. Literatur Bimmel, Peter (1993): Lernstrategien im Deutschunterricht. In: Fremdsprache Deutsch 8, 4-11. Bimmel, Peter (2010): Lern(er)strategien und Lerntechniken. In: Krumm, Hans- Jürgen; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta; Riemer, Claudia (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Bd. 35.1. Berlin u.a.: De Gruyter Mouton, 842-850. Bimmel, Peter (2012): Lernstrategien − Bausteine der Lernerautonomie. In: Fremd- sprache Deutsch 46, 3-10. Cohen, Andrew D. (1998): Strategies in learning and using a second language. Harlow; Essex: Longman. 26 So z.B. das Bildwörterbuch zum Lehrwerk ‚Alpha plus‘ von Cornelsen oder das ‚Bildwörterbuch Deutsch‘ von Hueber. Das Bildwörterbuch des Duden-Verlages ist für die angestrebte Zielgruppe bereits zu umfangreich. 27 Dass das Bildwörterbuch „vertont“ wird, ist der Tatsache geschuldet, dass die Aussprache in der Alphabetisierung extrem wichtig und notwendig ist: 1) Ohne ein Wort gehört zu haben, können viele Teilnehmer es selbst nicht aussprechen und somit nicht produktiv verwenden. 2) Eine zumindest annähernd korrekte Aussprache ist Voraussetzung dafür, dass der Lerner von seiner Umwelt verstan- den wird und Kommunikation gelingen kann. 3) Nur wenn der Lerner ein gehörtes Wort auch er- kennt, kann er seine Kommunikationspartner verstehen und angemessen reagieren. Berufsbezogene Alphabetisierung 133 Ehrmann, Madeline E. (1996): Understanding second language learning difficulties. Thousand Oaks; CA: Sage. Feldmeier, Alexis (2005): Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch – über den Brückenkurs zum Deutschkurs. Anforderungen und Skizzierung eines Curriculums. In: Alfa-Forum 58, 42-45. Feldmeier, Alexis (2006): Alphabetisierung von Migrantinnen und Migranten: Additives oder/und integratives Modell? (http://www.alphabetisierung.de/fileadmin/ files/Dateien/Downloads_Texte/Feldmeier_Text.pdf) (11.03.15). Feldmeier, Alexis (2009): Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs. Nürn- berg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Grotjahn, Rüdiger (1998): Ausspracheunterricht: Ausgewählte Befunde aus der Grundlagenforschung und didaktisch-methodische Implikationen. In: Zeit- schrift für Fremdsprachenforschung 9/1, 35-83. Grotjahn, Rüdiger (2003): Lernstile/Lernertypen. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tü- bingen; Basel: Francke, 326-331. Heyn, Anne (2010): Unterrichtsmethodik: Rückgriff auf das muttersprachliche System im Alphabetisierungskurs. In: Zielsprache Deutsch. Eine internationale Zeit- schrift für Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache 3, 3-15. Heyn, Anne (2013): Sprachen lernen mit Methode. Der Rückgriff auf die Muttersprache im Sprachunterricht (Diss.). Marburg: Tectum. Heyn, Anne; Rokitzki, Christiane; Teepker, Frauke (2010): Alphabetisierung von Migranten in der Fremdsprache Deutsch. Lernfortschrittsmessung mit dem Marburger Kompetenzrad. In: Deutsch als Fremdsprache 4 (Sonderheft im The- menschwerpunkt „Testen und Prüfen in Deutsch als Fremd- und Zweitspra- che“), 210-221. Hoffmann, Joachim; Engelkamp, Johannes (2013): Lern- und Gedächtnispsychologie. Berlin u.a.: Springer. Kinsella, Kate (1995): Understanding and empowering diverse learner in the ESL classroom. In: Reid, Joy M. (Hrsg.): Learning Styles in the ESL/EFL Classroom. Boston: Heinle & Heinle. 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Würffel, Nicola (2006): Strategiengebrauch bei Aufgabenbearbeitungen in internetgestütztem Selbstlernmaterial. Tübingen: Narr. Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie beim Einsatz eines Portfolios und offener Unterrichtsmethoden im Lese- und Schreibunterricht mit Migranten1 in der Zweitsprache Deutsch Eva Dammers (Münster, Deutschland) 1 Einleitung Während in der Fremd- und Zweitsprachendidaktik der Forschungsschwerpunkt oftmals auf den Lernern liegt, rücken in den letzten Jahren auch die Lehrer ins Zentrum des Interesses (vgl. Apeltauer 2010). Im Bereich des Zweitsprachenunter- richts mit Migranten befasst sich Demmig mit dem professionellen Handlungswis- sen von Lehrkräften (Demmig 2007). In ihrer Dissertation geht sie vor allem auf die aus der Praxis gewonnenen Theorien der Lehrkräfte in Integrationskursen be- 1 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung, wie z.B. Teilnehmer/Innen, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter. Eva Dammers 136 züglich des Umgangs mit Heterogenität und Binnendifferenzierung ein (vgl. Demmig 2007). Mit ihren Ergebnissen legt Demmig einen wichtigen Grundstein zur Erforschung des subjektiven Wissens von Lehrkräften in Integrationskursen, an die im Rahmen des in diesem Artikel vorgestellten Dissertationsvorhabens an- geknüpft werden soll. Als eine Sonderform der Integrationskurse sind die vom Bundesamt für Migra- tion und Flüchtlinge (BAMF) finanzierten Alphabetisierungskurse anzusehen, die das Untersuchungsfeld des Dissertationsvorhabens darstellen. Sie richten sich an Migranten, deren Lese- und Schreibkenntnisse nicht ausreichen, um einen regulä- ren Integrationskurs zu besuchen (vgl. BAMF 2009: 12). Sie bedeuten in mehrerer Hinsicht eine besondere Herausforderung für Lehrer: Die Kurse sind sehr hetero- gen in Bezug auf die Ausgangssprachen, das Alter der Teilnehmer und die bereits vorliegenden Lese- und Rechtschreibkenntnisse. Zudem ist ein Großteil der Teil- nehmer lernunerfahren und verfügt entweder über keine oder nur wenige Jahre Schulerfahrung. Das bedeutet, dass neben der Vermittlung des Deutschen sowie Lese- und Rechtschreibkenntnissen auch das Lernen-lernen in Form von Lernstra- tegien vermittelt werden muss, da diese eine wichtige Voraussetzung für autono- mes Lernen sind (vgl. BAMF 2009: 14 und zur Bedeutung von Lernerautonomie in Alphabetisierungskursen Feldmeier 2010: 92-93). Die Arbeit mit Portfolios und offenen Unterrichtsmethoden bietet eine Mög- lichkeit, der Heterogenität in Alphabetisierungskursen zu begegnen und Lernerau- tonomie zu fördern. Bisher werden diese Instrumente bzw. Methoden in der Al- phabetisierung mit Migranten jedoch nur wenig eingesetzt (vgl. Noack; Peuschel; Feldmeier 2013: 151). Dies mag einerseits der Tatsache geschuldet sein, dass es noch kaum Unterrichtsmaterialien in diesem Bereich gibt, andererseits stehen auch viele Lehrkräfte diesen neuen Methoden skeptisch gegenüber (vgl. Feldmeier 2010: 96). Gründe hierfür können z.B. ungünstige institutionelle Rahmenbedingungen oder der Druck curricularer Vorgaben z.B. durch den Deutsch-Test-für-Zuwande- rer sein. Im Sinne der Entwicklung eines breiten Methodenrepertoires der Lehr- kräfte gewährt der Einstieg in offene Unterrichtsmethoden und Portfolioarbeit jedoch nicht nur für Lerner, sondern auch für Lehrer zahlreiche Chancen der Kompetenzerweiterung. Damit stellen sich die Fragen, wie Portfolioarbeit und offene Unterrichtsmethoden aus der Perspektive der Lehrenden sinnvoll in den Alphabetisierungsunterricht integriert werden können, welche Voraussetzungen dafür nötig sind und welche Auswirkungen ihr Einsatz für das Lernen und Lehren hat. Diesen Fragen soll im Rahmen des Dissertationsvorhabens nachgegangen werden. Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 137 2 Übersicht über das Dissertationsprojekt Das Thema „Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie beim Einsatz eines Portfolios und offener Unterrichtsmethoden im Lese- und Schreibunterricht mit Migranten in der Zweitsprache Deutsch“ ergab sich als Dissertationsvorhaben im Rahmen des Drittmittelprojektes Alphaportfolio, das im Dezember 2012 startete und vom BMBF finanziert wird.2 Angestrebt wird im Rahmen des Dissertations- vorhabens die Erforschung der Lehr-Lern-Konzepte von Lehrkräften in Alphabe- tisierungskursen für DaZ und deren Entwicklung durch Portfolioarbeit und den Einsatz offener Unterrichtsmethoden. Zu den zentralen Fragestellungen gehören: 1. Über welches subjektive Lehrerwissen verfügen Lehrkräfte in Alphabe- tisierungskursen mit Migranten? 2. Wie verändert sich dieses subjektive Lehrerwissen bei der Öffnung des Unterrichts durch Portfolioarbeit und offene Unterrichtsmethoden? 3. Welche Relation besteht zwischen dem Grad der Lehrerautonomie und der Entwicklung der Lernerautonomie durch den Einsatz eines Portfo- lios und offener Unterrichtsmethoden? 4. Welche institutionellen Rahmenbedingungen müssen für ein autono- mes Lehren und Lernen gegeben sein? Die Phase der Datenerhebung ist als Längsschnittstudie angelegt, die sich über ca. zwei Jahre erstreckt und sechs bis zwölf Lehrkräfte bei einem Integrationskursträ- ger in Nordrhein-Westfalen begleitet. Die im Projekt Alphaportfolio erhobenen Daten werden auch für das Dissertationsvorhaben genutzt. Zusätzlich werden im Rahmen des Dissertationsvorhabens weitere Daten wie z.B. Videomitschnitte er- hoben, die auch dem Projekt Alphaportfolio zugutekommen. Die qualitativ-explo- rative Studie findet im Rahmen von Feld- und Handlungsforschung statt (vgl. Schratz 2001: 426-429). Die Daten werden einmal über teil-standardisierte Leitfa- deninterviews mit den im Projekt Alphaportfolio teilnehmenden Lehrkräften er- hoben. Die qualitative Analyse der Interviews soll Rückschlüsse auf die Lehr-Lern- Konzepte im Hinblick auf für den offenen Unterricht sowie für die Portfolioarbeit relevante Aspekte wie Lerner- und Lehrerautonomie, Binnendifferenzierung u.a. ermöglichen. Daneben erfolgen in regelmäßigen Abständen teilnehmende Unter- richtsbeobachtungen bei den ausgewählten Lehrkräften während des Einsatzes der im Projekt Alphaportfolio entwickelten Materialien für offenen Unterricht und Portfolioarbeit. Dabei werden die Unterrichtsbeobachtungen in einem standardi- sierten Beobachtungsbogen bzw. durch Videoaufzeichnungen festgehalten. Auch die Analyse der Beobachtungsbögen wird mit qualitativen Auswertungsverfahren in Form von Kodierungen durchgeführt. Durch Triangulation der Daten sollen Wechselwirkungen zwischen subjektivem Lehrerwissen und der Umsetzung von Lehr-Lern-Konzepten im Unterricht deutlich werden, wodurch sich Implikationen 2 Auf das Projekt Alphaportfolio wird in Kapitel 7 näher eingegangen. Eva Dammers 138 für die Lehrerautonomie ergeben (mehr zur Datentriangulation zum Zwecke der Rekonstruktion subjektiver Theorien vgl. Schründer-Lenzen 1997). Die Ergebnisse werden in Form von Fallstudien präsentiert. Damit soll gewährleistet werden, dass jedes Lehr-Lern-Konzept in Bezug auf die jeweilige Lehrkraft individuell darge- stellt werden kann. 3 Lerner- und Lehrerautonomie Lernen-lernen und Lernerautonomie stellen in der aktuellen Forschung zum Fremd- und Zweitsprachenerwerb ein viel untersuchtes methodisch-didaktisches Prinzip dar (vgl. Wolff 2008). Zu den zentralen Aspekten der Lernerautonomie gehört, dass die Lernenden selbst die Verantwortung für ihren Lernprozess über- nehmen (vgl. Little 1995), also „die zentralen Entscheidungen über ihr Lernen selbst treffen“ (Bimmel; Rampillon 2000: 33). Autonome Lernende übernehmen die Verantwortung dafür:  ob sie lernen wollen  wie sie lernen wollen  welche Materialien und Hilfsmittel sie benutzen  welche Lernstrategien sie einsetzen  wann und wie lange sie lernen  ob sie allein oder mit anderen lernen  wie sie ihre Lernergebnisse kontrollieren. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für autonomes Lernen ist die Beherrschung und zielgerichtete Anwendung von Lernstrategien (vgl. Bimmel; Rampillon 2000: 64). Erst ein breites Repertoire an Lernstrategien ermöglicht es den Lernern selb- ständig zu entscheiden, wie sie ihren Lernprozess gestalten möchten. Die Vermitt- lung von Lernstrategien stellt daher eine der wichtigsten Aufgaben eines autono- miefördernden Unterrichts dar. Auch in der Alphabetisierungsarbeit wird die Bedeutung von Lernerautonomie in den letzten Jahren zunehmend hervorgehoben (vgl. Fritz et al. 2006: 13, DVV 2007: 4-5, BAMF 2009: 35). In dem vom Bundesamt für Migration und Flüchtlin- ge (BAMF) herausgegebenen „Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungs- kurs“ wird der Lernerautonomie mit einem Anteil von 25-30% ein ebenso hohes Stundenvolumen eingeräumt, wie der sprachlichen und schriftsprachlichen Förde- rung (vgl. BAMF 2009: 47). Die Relevanz von Lernerautonomie gerade in Alpha- betisierungskursen mit häufig lernungewohnten Teilnehmenden lässt sich haupt- sächlich auf die Prinzipien der Nachhaltigkeit des Lernens, der Teilnehmerorientie- rung und der Binnendifferenzierung zurückführen (vgl. Fritz et al. 2006: 16, Feld- meier 2010: 92). Soll der Lese- und Schreiblernprozess auch über das Kursende hinaus fortge- setzt werden, müssen Lernende durch die Vermittlung von Lernstrategien dazu be- Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 139 fähigt werden, auch eigenständig weiterlernen zu können. Je stärker die unterricht- lichen Inhalte an die sprachlichen Bedürfnissen und kommunikativen Handlungs- feldern der Lerner anknüpfen, desto eher werden die Inhalte auch im Alltag und über die Kurszeit hinaus zur Anwendung kommen (vgl. Ritter 2002: 3). Eine di- daktische Ausrichtung des Unterrichts auf die einzelnen Individuen und die „Sub- jektivität des Lernenden und seiner Bedürfnisse“ (Holm 2012: 4) ist daher im Sinne der Teilnehmerorientierung von Nöten. Eine Berücksichtigung der Erfahrungen, der Mehrsprachigkeit, der Kultur und der bereits vorhandenen Kompetenzen der Teilnehmenden kann auf effektive Weise jedoch nur dann erfolgen, wenn die Ler- ner im Unterricht parallel an individuellen Lerninhalten und -zielen arbeiten, im Unterricht also binnendifferenzierend vorgegangen wird (vgl. Feldmeier 2010: 88- 90). Ein binnendifferenzierender Unterricht ist gerade im Hinblick auf die starke Heterogenität von Alphabetisierungskursen ein wirksames Mittel, um auf die ver- schiedenen Bedürfnisse der Lerner einzugehen und Lernerautonomie zu fördern. Sicherlich wird mit der Vorstellung des autonomen Lerners ein Idealbild ge- schaffen, das zwar als Zielsetzung angestrebt werden sollte, aber nie ganz erreicht werden kann. Apeltauer verweist in diesem Zusammenhang auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Einschränkungen, mit denen sich jeder Mensch konfrontiert sehen muss (vgl. Apeltauer 2010: 26). Für den Lerner im fremd- sprachlichen Klassenzimmer besteht in erster Linie eine Abhängigkeit von anderen Lernern und von der Lehrkraft. Das Modell nach Kumaravadivelu verdeutlicht diesen gruppenspezifischen Charakter von Lernerautonomie und zeigt die wech- selseitigen Abhängigkeiten von Lernern und Lehrern. Abb. 1: Lernerautonomie (nach Kumaravadivelu 2003: 131) Lernerautonomie ist in diesem Modell ein Zustand, der immer wieder aufs Neue zwischen den Lernern und ihren Bezugsgruppen (Mitlerner/Lehrer) ausgehandelt wird (vgl. hierzu auch La Ganza 2008: 65f.). In dieser Hinsicht greift der Begriff Lernerautonomie zu kurz, da er nur eine Seite einer dynamischen, wechselseitigen Beziehung zwischen Lernern und Lehrern darstellt (vgl. La Ganza 2008: 69). Es kommt die Frage auf, ob neben der Autonomie des Lerners nicht auch die Auto- Eva Dammers 140 nomie des Lehrers eine maßgebliche Rolle spielt. Bereits Little verweist auf die These, dass Lehrerautonomie eine unabdingbare Voraussetzung für Lernerauto- nomie darstelle (vgl. Little 1995: 178). Eine Förderung von Lernerautonomie sei daher nicht ohne eine Förderung von Lehrerautonomie möglich: Genuinely successful teachers have always been autonomous in the sense of having a strong sense of personal responsibility for their teach- ing, exercising via continuous reflection and analysis the highest possi- ble degree of affective and cognitive control of the teaching process, and exploiting the freedom that this confers. If, as I have argued, learn- er autonomy and teacher autonomy are interdependent then the promo- tion of learner autonomy depends on the promotion of teacher auton- omy. (Little 1995: 179) Doch was genau lässt sich unter Lehrerautonomie verstehen? Möchte man Lehrer- autonomie nach Little parallel zur Lernerautonomie definieren, übernimmt der autonome Lehrer die Verantwortung für den Lehrprozess. Shaw definiert Lehrer- autonomie analog zu Lernerautonomie mit „the capacity to take control of one’s own teaching“ (Shaw 2008: 189). Zudem verfügt der autonome Lehrer über ein gewisses Maß an Reflektionsfähigkeit, die es ihm ermöglicht, die eigene Unter- richtspraxis und die eigenen Unterrichtserfahrungen kritisch zu hinterfragen und damit die Lehrprozesse bewusst zu steuern. Die folgende Tabelle zeigt die Lehrer- autonomie analog zur Lernerautonomie (vgl. Chan 2002, Apeltauer 2010, Little 1995). Tab. 1: Vergleich Lernerautonomie und Lehrerautonomie (eigene Darstellung nach Chan 2000, Apeltauer 2010, Little 1995) Autonomer Lerner Autonomer Lehrer Verfügt über Lernstrategien Verfügt über Lehrstrategien und ein breites Methodenrepertoire Verfügt über die Fähigkeit zur Selbstre- flexion seines Lernprozesses Verfügt über die Fähigkeit, seine eigene Unterrichtspraxis und die eigenen Unterrichtserfahrungen kri- tisch zu reflektieren Kann seinen Lernprozess eigenständig steuern Kann die Lehrprozesse eigenständig und situationsangemessen steuern Selbstevaluation der Lernergebnisse Selbstevaluation der Unterrichtser- gebnisse Übernimmt die Verantwortung für sei- nen Lernprozess Übernimmt die Verantwortung für seine eigene professionelle Fort- und Weiterbildung Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 141 Neben der Fähigkeit zur Steuerung und kritischen Reflektion der Lehrprozesse und anschließenden Evaluation der Unterrichtsergebnisse verfügt er auch über ein großes Repertoire an Lehrstrategien und Unterrichtsmethoden und weiß, diese situationsangemessen im Unterricht anzuwenden. Darüber hinaus bemüht er sich eigenständig um seine professionelle Fort- und Weiterbildung. Denkt man das Modell von Kumaravadivelu weiter, so lässt sich vermuten, dass auch die Lehrerautonomie ein dynamisches, wechselseitiges Beziehungsge- flecht darstellt, das durch verschiedene Interaktionsräume gekennzeichnet ist. Die- se Interaktionsräume werden nachfolgend genauer beleuchtet. 4 Mehrdimensionale Interaktionsräume der Lehrerautonomie Die These Kumaravadivelus, dass Lerner- und Lehrerautonomie Zustände sind, die in der Interaktion mit Anderen ausgehandelt werden, wird in dem Modell von La Ganza im Hinblick auf die Lehrerautonomie weiter verfolgt (La Ganza 2008: 73). Nach La Ganza steht die Lehrkraft nicht nur in Beziehung zum Lerner, sondern auch zu der Institution, für die er arbeitet und dem gesellschaftlichen bü- rokratischen Apparat, der mit der Tätigkeit der Lehrkraft verbunden ist. Shaw sieht in Anlehnung an McGrath die Lehrerautonomie neben der selbstverantwortlichen beruflichen Entwicklung auch als die Freiheit von der Kontrolle durch Andere: „Teacher autonomy in terms of both self-directed professional development and in terms of freedom from control by others“ (Shaw 2008: 189). Neben den äußeren Einflüssen spielt auch die Beziehung der Lehrkraft zu ei- nem sogenannten inneren Lehrermodell eine bedeutende Rolle. Die Lehrerauto- nomie ergibt sich daher nach La Ganza aus vier Dimensionen: 1. Lehrer – internalisiertes Lehrermodell (teacher – internal teacher): Das internalisierte Lehrermodell wird durch die eigenen Lernerfahrungen und Erfahrungen mit Lehrern während der Schulzeit oder Ausbildung entwickelt. Die Ergebnisse der Studie von La Ganza zeigen, dass so- wohl negative als auch positive Erfahrungen zur Bildung dieses Lehrermodells beitragen, indem man diesem sogenannten „mentalen Mentor“ entweder möglichst entsprechen möchte oder bemüht ist, ein Negativ-Vorbild möglichst zu widerlegen (vgl. La Ganza 2008: 74-75). Das internalisierte Lehrermodell dient daher auch zur Orientierung ei- ner Entwicklung der eigenen Lehrerrolle. 2. Lehrer – Lerner (teacher – learner): Wie schon in dem Modell von Kumaravadivelu wird auch bei La Ganza die Lehrerautonomie durch die Kommunikation zwischen Lernern und Lehrern beeinflusst. So können sich Lehrer bei manchen Lernern freier fühlen, bestimmte kre- ative Unterrichtskonzepte auszuprobieren, als bei anderen. Dies kann auch dazu beitragen, die Ängste des Lehrers zu überwinden, Lernerau- Eva Dammers 142 tonomie fördernde Maßnahmen im Unterricht einzusetzen (vgl. La Ganza 2008: 75). 3. Lehrer – Institution (teacher – institution): Die Autonomie der Lehr- kraft steht auch in enger Beziehung zu den Verantwortlichen der Insti- tution, für die die Lehrkraft arbeitet, sowie zu Lehrkollegen (vgl. La Ganza 2008: 75-76). Die Beziehung befindet sich im Spannungsver- hältnis zwischen einer gewünschten Anleitung und Beratung durch den Institutsleiter (supervisor) einerseits und einer gewissen Freiheit, eigene Unterrichtskonzepte umzusetzen andererseits. 4. Lehrer – bürokratischer Apparat (teacher – bureaucracy): Die vierte Dimension im Modell von La Ganza ist die Beziehung zwischen dem Lehrer und dem Verwaltungsapparat im weiteren Sinne, mit dem sich der Lehrer konfrontiert sieht (vgl. La Ganza 2008: 77). Dies können auf oberster Ebene Entscheidungsträger aus Ministerien sein, aber auch individuelle Personen, die einen Einfluss auf das Institut haben, an dem die Lehrkraft tätig ist (im Falle von Kindern z.B. die Eltern). Das Modell von La Ganza ist ein sehr aufschlussreicher Ansatz zur Verdeutlichung der vielfältigen Einflussfaktoren auf die Autonomie einer Lehrkraft und damit ihres Lehrverhaltens. Es bezieht sich jedoch auf universitäre Sprachkurse mit er- wachsenen Lernern in Sydney, Australien.3 Lehrer aus BAMF geförderten Alpha- betisierungskursen sehen sich jedoch mit z.T. vollkommen anderen Bedingungen und damit Einflussfaktoren auf ihre Autonomie konfrontiert. Im Gegensatz zu universitären Sprachkursen sind die Teilnehmer von Alphabetisierungskursen meist eher lernunerfahren und verfügen daher über eine geringere Lernerautono- mie. Es liegt also nahe, dass für eine Betrachtung der Lehrerautonomie von Lehr- kräften in Alphabetisierungskursen das Modell von La Ganza modifiziert bzw. erweitert werden muss. Eine mögliche Erweiterung stellt Abb. 2 dar. Sie beschreibt neben den vier von La Ganza aufgestellten Dimensionen auch noch die Beziehung des Lehrers zu den im Unterricht verwendeten Materialien und dem Curriculum, die allerdings auch für Lehrer anderer Schul- und Kursformen von Bedeutung sind. 3 Eine erste Übersicht zum Deutschunterricht in Australien findet sich bei Kretzenbacher, Heinz (2010): Deutsch in Australien. In: Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta; Rie- mer, Claudia (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin; New York: De Gruyter. Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 143 Abb. 2: Lehrerautonomie (nach La Ganza 2008) Bezogen auf die Situation der Lehrkräfte in Alphabetisierungskursen lassen sich die in der Grafik dargestellten Interaktionsräume folgendermaßen charakterisieren: 1. Internalisiertes Lehrermodell: Zu bedenken ist, dass die Ausbildung der Lehrkräfte in Alphabetisierungskursen sehr heterogen ist (vgl. hierzu die Ergebnisse des Integrationspanels des BAMF, Schuller; Lochner; Rother 2011: 82). Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist die Herkunft der Lehrer. Laut des Integrationspanels weisen 32% der Lehrer in In- tegrationskursen eine andere Erstsprache als Deutsch auf. 36% sind nicht in Deutschland geboren (vgl. Schuller; Lochner; Rother 2011: 81). Es ist daher anzunehmen, dass sie während ihrer eigenen Schul- und Ausbildungszeit mit sehr unterschiedlichen Lehrermodellen kon- frontiert wurden. 2. Lehrer – Lerner: Teilnehmer von Alphabetisierungskursen sind oftmals sehr lernunerfahren. Das selbständige Lernen bereitet daher vielen Teilnehmern große Schwierigkeiten. Je nach Herkunftsland setzen sie zudem einen eher lehrergesteuerten Unterricht voraus und erwarten, dass der Lehrer ihnen vorgibt, was wie gelernt werden soll. Diese Er- wartungen können einen Einfluss darauf haben, inwieweit der Lehrer in den Lernprozess der Teilnehmer eingreift oder sie eigenständig ler- nen lässt. 3. Lehrer – Lehrwerk: In den letzten Jahren sind erfreulicherweise zahl- reiche Lehrwerke für die Alphabetisierung von Erwachsenen mit Mi- grationshintergrund erschienen. Viele von diesen Lehrwerken lassen sich kurstragend einsetzen (vgl. z.B. „Alphaplus“ von Hubertus; Yasa- ner 2011; „Schritte plus Alpha“ von Böttinger 2011). Wie Feldmeier anmerkt, ist mit jedem Lehrwerk auch eine Methode verbunden, die sich beim kurstragenden Einsatz maßgeblich auf das Lehrverhalten der Lehrkraft auswirkt (vgl. Feldmeier 2010: 86). 4. Lehrer – Institution: Ausrichter der Alphabetisierungskurse sind ent- weder private Träger, die durch das BAMF finanziert werden, oder Verbände und Organisationen wie z.B. karitative Einrichtungen, die Alphabetisierungsarbeit für Migranten leisten, die keine vom BAMF Eva Dammers 144 geförderten Kurse besuchen können (vgl. Feick; Pietzuch; Schramm 2013: 28). I.d.R. sind die Lehrer als Honorarkräfte beschäftigt, d.h., sie werden für die geleisteten Unterrichtsstunden bezahlt. Vorbereitungs- zeit, Konferenzen und Weiterbildungen werden nicht entlohnt und lie- gen in der eigenen Verantwortung des Lehrers. Da eine durchgängige Ausrichtung der Kurse von Seiten der Träger nicht garantiert werden kann – ein Kurs kann z.B. aufgrund geringer Teilnehmerzahlen abge- brochen werden – ist die Beschäftigung der Lehrkräfte nicht dauerhaft gesichert. Aufgrund der unsicheren Situation sind viele Lehrer an meh- reren Instituten gleichzeitig beschäftigt. Es ist anzunehmen, dass sich diese Beschäftigungsbedingungen auch in der Beziehung der Lehrer zu den Institutionen widerspiegeln. 5. Lehrer – Curriculum: Für die didaktische Umsetzung der Alphabetisie- rungskurse liegt kein einheitliches Curriculum vor, sofern es sich nicht um einen im Integrationskurssystem des BAMF durchgeführten Kurs handelt. Vielmehr besteht ein Nebeneinander von unterschiedlichen Curricula, wie z.B. das „Curriculum zur Durchführung von nieder- schwelligen Sprachkursen“ der Volkshochschule Essen (Sprenger; Rie- ker 2006) oder der „Orientierungsrahmen Alphabetisierung und Grundbildung“ (DVV 2007). Das BAMF hat im Jahr 2009 ein Curricu- lum für die von ihm geförderten, bundesweiten Alphabetisierungskurse herausgegeben, das zum ersten Mal „eine verbindliche Grundlage für die Gestaltung des Unterrichts“ bereitstellt (vgl. BAMF 2009: 19). Es ist offensichtlich, dass solche Veröffentlichungen das methodische Handeln der Lehrkräfte beeinflussen (vgl. Feldmeier 2010: 86). 6. Lehrer – Umfeld: Diese Dimension erfasst den von La Ganza be- schriebenen Interaktionsraum Lehrer – bürokratischer Apparat in ei- nem weiteren Sinne. Gemeint sind alle Beziehungen zwischen den Lehrern und ihrem gesellschaftlichen Umfeld wie z.B. das Verhältnis zu den Regionalkoordinatoren bei einem vom BAMF finanzierten Kurs oder auch das subjektiv empfundene Ansehen bzw. der Status des Lehrers in der Gesellschaft. Die sechs geschilderten Dimensionen haben einen Einfluss auf die Lehr-Lern- Konzepte, die bei Lehrkräften in Alphabetisierungskursen vorliegen. Sie werden im Rahmen dieser Arbeit als ‚subjektives Lehrerwissen‘ bezeichnet. 5 Lehrerautonomie und subjektives Lehrerwissen Mit Blick auf die Lehrerautonomie rückt die Perspektive der Lehrer als zentrale Akteure institutionellen Lehrens und Lehrens und damit die Erforschung ihres professionellen Wissens als Basis für unterrichtliches Handeln in den Mittelpunkt Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 145 des Interesses. Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) von Groeben et al. (1988) und darauf aufbauend die Erforschung subjektiver Theorien von Fremdsprachenlehrern (Henrici; Zöfgen 1998) legte einen wichtigen Grundstein für die Ergründung der Innensicht von Lehrern. Laut Scheele; Groeben handelt es sich bei Subjektiven Theorien um Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, die ein komplexes Aggregat im- pliziter Argumentationsstruktur darstellen sowie parallele Funktionen zu wissenschaftlichen Theorien in Bezug auf Erklärung, Prognose und Technologie erfüllen. (vgl. Scheele; Groeben 1998: 16) Ein weiterer Ansatz ist das von Bromme (1997) untersuchte ‚professionelle Leh- rerwissen‘, das fachliches Wissen, curriculares Wissen, Wissen über die Philosophie des Schulfaches, allgemein pädagogisches und fachspezifisch-pädagogisches Wis- sen umfasst. In der englischsprachigen Fachliteratur lassen sich ähnliche Wissens- konstrukte ausmachen, die den Schwerpunkt jedoch auf affektive Faktoren legen und mit „beliefs, assumptions and knowledge“ im Sinne von Einstellungen und Überzeugungen bezeichnet werden (vgl. Richards; Lockhart 1994). Da im Rahmen des Dissertationsvorhabens sowohl die Alltagstheorien der Lehrkräfte sowie ihr fachlich-pädagogisches Wissen als auch ihre Einstellungen in Bezug auf Lehren und Lernen untersucht werden sollen, ist es sinnvoll, die ver- schiedenen Ansätze miteinander zu verbinden und unter dem Begriff ‚subjektives Lehrerwissen‘ zusammenzufassen.4 In Anlehnung an Chan wird das subjektive Lehrerwissen im Rahmen dieser Forschungsarbeit definiert als die Gesamtheit der Ziele, Wertvorstellungen, Einstellungen, Kenntnisse und Überzeugungen des Fremdsprachenlehrers in Bezug auf die Inhalte und Prozesse des Fremdsprachen- unterrichts sowie der Wahrnehmung des Kontextes der Lehrtätigkeit und seiner Rolle im Klassenzimmer (vgl. Chan 2002: 26-27). Wie schon in Kapitel 3 erörtert wurde, ist ein wichtiges Merkmal des autono- men Lehrers die Fähigkeit zur Reflektion seiner eigenen Unterrichtspraxis und -er- fahrungen. Diese Feststellung geht auch konform mit dem Konzept des „reflective teaching“ von Zeichner; Liston (1996). Grotjahn bezeichnet die Fähigkeit zur Re- flektion als das zentrale Merkmal des professionellen Lehrers (Grotjahn 1998: 53). Dies gilt vor allem für die Reflektion der eigenen Subjektiven Theorien (Grotjahn 1998: 53). Der professionelle Lehrer ist sich seines subjektiven Wissens bewusst und kann seine eigenen Lehrleistungen und -erfahrungen analysieren, überwachen und evaluieren. Desto mehr die Lehrkraft fähig ist, ihr subjektives Wissen zu re- flektieren, desto autonomer kann sie handeln. Der professionelle, reflektierende Lehrer ist damit auch ein autonomer Lehrer (vgl. hierzu Chan 2002: 32). 4 Eine ähnliche Vorgehensweise lässt sich bei Hartinger; Kleickmann; Hawelka (2006) beobachten, die ebenfalls eine Zusammenfassung der Ansätze mit dem Begriff „Lehrervorstellungen“ vornehmen, sowie bei Chan (2002) mit dem Begriff „subjektives Wissen“. Eva Dammers 146 Grotjahn und Chan verweisen in diesem Zusammenhang auf die zentrale Bedeu- tung der Reflektion von subjektivem Wissen bei der Einführung von Innovationen bzw. curricularen Neuerungen im Unterricht (vgl. Chan 2002: 25, Grotjahn 1998: 53). Chan beschreibt ein Spannungsverhältnis, das durch Divergenzen zwischen den Prinzipien einer neuen Unterrichtsmethode und dem subjektiven Wissen der Lehrenden entstehen kann und bezeichnet dieses Spannungsverhältnis als „psy- chologische Knoten“ (vgl. Chan 2002: 25-26). Das Spannungsverhältnis lässt sich nur dann auflösen, wenn die Lehrkraft sich des eigenen subjektiven Wissens be- wusst ist, es reflektieren und gegebenenfalls revidieren kann (vgl. Chan 2002: 30). Da Portfolioarbeit und offene Unterrichtsmethoden in Alphabetisierungskur- sen bisher noch wenig zum Einsatz kommen (vgl. Noack; Peuschel; Feldmeier 2013: 151), kann die Einführung von offenen Unterrichtsmethoden und Portfolio- arbeit als eine Form von curricularen Neuerungen angesehen werden. Sie werden daher im folgenden Kapitel näher vorgestellt. 6 Offene Unterrichtsmethoden und Portfolioarbeit in Alphabetisierungskursen Für diejenigen Lehrkräfte, die sich stark an der Unterrichtsmethode ‚Frontalunter- richt‘ orientieren, kann die Implementierung Lernerautonomie fördernder Kon- zepte wie offene Unterrichtsmethoden und Portfolio eine große Herausforderung bedeuten und zu den von Chan bezeichneten Konfliktsituationen führen (vgl. Chan 2002: 25). Offene Unterrichtsmethoden und Portfolioarbeit werden in den letzten Jahren auch für den Lese- und Schreibunterricht mit Migranten stark disku- tiert (vgl. Dammers; Kuhnen; Feldmeier 2013, Sieder 2013, Feldmeier 2010: 95- 114 und für den niederländischen Raum: Stockmann 2006). Unter offenen Unterrichtsmethoden versteht man all jene Methoden, bei denen auf frontalen, lehrerzentrierten Unterricht verzichtet wird und eine Ausrichtung auf die Lernenden stattfindet (vgl. Toman 2012: 9, Peschel 2012: 8). Hierzu zählen z.B. die Projektarbeit, das entdeckende Lernen, die Freie Arbeit, der Wochenplan, das Stationenlernen und der Werkstattunterricht (vgl. Peschel 2012: 8). Die Lerner können selbst die Ziele und Inhalte des Unterrichts mitbestimmen und daher ihren Lernprozess eigenständig gestalten. Gerade im Hinblick auf die starke Heterogeni- tät in Alphabetisierungskursen bieten offene Unterrichtsmethoden die Möglichkeit, die Teilnehmer individuell zu fördern und binnendifferenzierend vorzugehen (vgl. Dammers; Kuhnen; Feldmeier 2013: 35-38). Bei Lehrkräften, die eher mit lehrer- zentriertem Unterricht vertraut sind, und lernungewohnten Teilnehmern ist es jedoch ratsam, den Grad der Offenheit von binnendifferenzierenden Maßnahmen nur langsam zu steigern und damit sowohl die Lerner als auch die Lehrer an eine stärkere Lernerzentrierung und Lernersteuerung heranzuführen (vgl. Feldmeier 2010: 96-99). Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 147 Portfolios stellen im Vergleich zum offenen Unterricht vielmehr ein didaktisch- methodisches Instrument als eine eigene Methode dar. Da es bei der Portfolioar- beit eher um die Anwendung verschiedener Prinzipien als um eine Methode geht, wird daher auch oftmals von „Portfoliounterricht“ als einem umfassenden Unter- richtskonzept gesprochen (vgl. Feldmeier 2010). Nach Winter lassen sich Portfo- lios als eine Sammlung von Dokumenten definieren, die unter aktiver Beteiligung der Lernenden zu Stande gekommen ist und etwas über deren Lernprozesse und Lernergebnisse aussagt (vgl. Winter 2010). Für die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache an erwachsene Migranten sind vor allem das Milestone Portfolio (Milestone 2003) und das Sprachen & Qualifikationsportfolio (2005) von Interesse. Die typischen Bestandteile eines Sprachenportfolios sind: Sprachenpass, Sprachen- biographie und Dossier. Der Sprachenpass dokumentiert alle (fremd-)sprachlichen Kenntnisse eines Lerners in allen Fertigkeiten und verschiedenen Kompetenzbereichen. Die Kennt- nisse werden anhand der Bewertungsskalen des GER durch Selbsteinschätzung festgehalten. Der Sprachenpass stellt daher – angelehnt an einen richtigen Pass – die sprachliche Identität eines Lerners dar. Die Sprachenbiographie erfüllt zwei Funktionen: Sie dient einerseits der Reflektion von Lernprozessen und andererseits der Ermittlung von individuellen Lernzielen. Im Dossier können dann Lerndoku- mente wie Arbeitsblätter oder auch Zeugnisse gesammelt werden, die die im Spra- chenpass und in der Sprachenbiographie gemachten Aussagen belegen. Für die Arbeit mit lese- und schreibungewohnten Lernern ist der Einsatz der beiden oben genannten Sprachenportfolios nicht ohne Weiteres möglich (vgl. hier- zu auch Stockmann 2006, Feldmeier 2010). Um den Zugang zur Portfolioarbeit für diese Zielgruppe zu erleichtern, sollte neben einer starken sprachlichen Vereinfa- chung und Visualisierung des Textinhaltes auch die Alltags- und Handlungswelt der Lerner berücksichtigt werden. Auch die für die Portfolioarbeit zentralen Ele- mente wie Selbstbeurteilung und -reflektion sollten vorab im Unterricht themati- siert und geübt werden. Feldmeier spricht in diesem Zusammenhang nicht mehr von Sprachenportfolio, sondern von Alphaportfolio (vgl. Feldmeier 2010: 110f.). In Bezug auf die Praxis lässt sich jedoch beobachten, dass der Einsatz von Portfolios in Alphabetisierungskursen zwar vom BAMF explizit empfohlen wird, es aber noch kaum Materialien bzw. Beobachtungsergebnisse zur tatsächlichen Umsetzung von Portfolioarbeit in dieser Kursform gibt. Das erste in diese Rich- tung entwickelte Portfolio ist das „Raamwerk Alfabetisering NT2“ aus den Nieder- landen (Cito 2008). Es enthält ein Raster zu Kompetenzbeschreibungen für die Alphabetisierung von Migranten in der Zweitsprache Niederländisch. Für den deutschsprachigen Raum liegt „Von A bis Z – Alpha-Portfolio-A1. Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene“ als ein speziell für Migranten konzipiertes Alpha- portfolio vor (Feldmeier 2012). Seit Dezember 2012 erfolgt in einem vom BMBF geförderten Projekt die Entwicklung und der Einsatz eines Alphaportfolios mit Arbeitsplatzbezug. Das Besondere an diesem Projekt ist die Verbindung von ar- Eva Dammers 148 beitsplatzbezogenen Zielen und der Kompetenzerfassung bzw. -reflektion durch Portfolios. Da sich die geplante Forschungsarbeit eng an das Projekt Alphaportfo- lio anlehnt, geht das nächste Kapitel genauer auf das Projekt ein. 7 Das Projekt Alphaportfolio Das Projekt Alphaportfolio beinhaltet die empirisch begründete Entwicklung, Optimierung und praxisbezogene Erprobung eines arbeitsplatzorientierten Alpha- portfolios sowie darauf aufbauender offener Unterrichtsmaterialien in Form von Lernstationen und Wochenplänen für die Niveaustufen A1 bis B1, genannt Alpha- werkstatt.5 Das Projekt findet seit Dezember 2012 in Kooperation mit der Westfäli- schen Wilhelms-Universität Münster statt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über den Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ finanziert.6 Im Rahmen der dreijährigen Projektlaufzeit wird ein Alphaportfolio entwickelt, das neben den mündlichen sowie Lese- und Schreibkompetenzen in allen von den Lernern be- herrschten Sprachen auch die arbeitsplatzbezogenen Kenntnisse und Erfahrungen der Teilnehmer miteinbezieht. Migranten verfügen trotz geringer Lese- und Schreibkenntnisse oftmals über berufliche Kenntnisse und Erfahrungen in ihrem Heimat-, aber auch im Einwanderungsland, die sich nicht formal durch Zertifikate oder Zeugnisse belegen lassen. Hier kann das Anlegen eines Alphaportfolios mit Arbeitsplatzbezug eine Möglichkeit bieten, arbeitsplatzorientierte Kompetenzen sichtbar zu machen und für künftige berufliche Ziele zu nutzen. Das Alphaportfolio wird durch Lernstationen ergänzt, die sich auf ganz konkrete berufliche Ziele wie z.B. Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege, Küchenhilfe oder Verkauf im Einzelhandel beziehen. Die Struktur der Lernstationen ist so angelegt, dass für jede der vier sprachlichen Fertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) und für jeden Schwierigkeitsgrad (Buchstaben-, Silben-, Wort-, Satz und Textebene) Aufgaben angeboten werden. Auf diese Weise kann ganz individuell je nach Lernstand an einem konkreten arbeitsplatzbezogenen Ziel gearbeitet werden. Das Verbindungsglied zwischen Alphaportfolio und den Lernstationen stellt der Wochenplan dar, in dem die in den Lernstationen zu bearbeitenden Aufgaben entsprechend der im Portfolio ermittelten Lernziele und -bedarfe festgehalten werden. Die Entwicklung und Erprobung der Materialien geschieht in Kooperation mit erfahrenen Experten der Alphabetisierungsarbeit eines Integrationskursträgers in Nordrhein-Westfalen. Hierzu zählen die Lehrkräfte, die durch den Einsatz der 5 Nähere Angaben zum Projekt siehe Projekthomepage: http://www.uni-muenster.de/Germanistik/ alphaportfolio. 6 Nähere Informationen zu der Förderlinie und weitere geförderte Projekte unter http://www.alpha bund.de. Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 149 Materialien in ihrem Unterricht wertvolle Erkenntnisse zu der tatsächlichen me- thodisch-didaktischen Umsetzung des Konzeptes beitragen, sowie eine Koordina- torin und zwei Beraterinnen des Trägers, die sowohl bei der Entwicklung der Ma- terialien als auch bei der Beratung der Lehrkräfte zur Seite stehen. Nicht zuletzt dienen die Lerner selbst als eine wichtige Datenquelle für die Arbeitsweise mit Portfolio und offenen Unterrichtsmethoden in Alphabetisierungskursen. 8 Die Rolle der Lehrkraft bei der Implementierung von Portfolioarbeit und offenen Unterrichtsmethoden in den Lese- und Schreibunterricht Bei der Einführung des arbeitsplatzorientierten Alphaportfolios und der Alpha- werkstatt in die Praxis wurde schnell deutlich, dass die Lehrkräfte eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Arbeit mit den Materialien spielen. Anhand der Unter- richtsbeobachtungen zeigte sich z.B., dass die gleiche Lernergruppe bei der einen Lehrkraft motiviert und selbstständig mit den Materialien arbeitete, bei der anderen Lehrkraft die Portfolioarbeit jedoch ablehnte. Auch Keller verweist auf die Bedeu- tung der Lehrkräfte für die Portfolioarbeit: „Für eine gelingende Einführung von Portfolios in einer Schule ist die Rolle der Lehrperson zentral, sie sind die Schlüs- selfiguren jeder Unterrichts- und Schulentwicklung“ (Keller 2012: 74). Auf die Bedeutung der Lehrkraft für die Wirkungsweise von offenem Unterricht weisen Bohl; Kucharz (2010: 74) hin. Breuer beschreibt mehrere Faktoren in Bezug auf die Lehrkraft, die die Imple- mentierung von Portfolioarbeit in den Unterricht unterstützen (vgl. Breuer 2009). Sie unterscheidet dabei zwischen intern und extern förderlichen Faktoren. Die internen Faktoren betreffen vor allem emotionale und organisatorische Aspekte, die sich direkt auf das Unterrichtsgeschehen beziehen und mit der methodisch- didaktischen Handlungsweise der Lehrkraft verbunden sind. Die externen Fakto- ren betrachten die Portfolioarbeit in einem systemischen Zusammenhang, wobei vor allem die schulischen Rahmenbedingungen, in denen die Portfolioarbeit einge- bettet ist, eine Rolle spielen (vgl. Breuer 2009: 188-191). Zu den intern förderlichen Faktoren gehört, dass der Lehrer den Fokus vor al- lem auf das angestrebte Lernziel richtet, das klar formuliert und unter Mitbestim- mung der Lernenden festgelegt werden sollte. Dabei sollte auf eine Transparenz der Beurteilungskriterien geachtet werden, um den Lernenden die Selbstevaluation zu erleichtern. Auch das Schaffen von günstigen logistischen Bedingungen wie das systematische Bereitstellen und Präsentieren der Materialien, die sichere Aufbe- wahrung der Portfolios, die Festlegung eines ausreichend zeitlichen Rahmens, die Organisation von Team- und Gruppenarbeit und das Anregen von Diskussionen und Reflektionen erleichtern den Zugang zur Portfolioarbeit (vgl. Breuer 2009: 188-189). Eva Dammers 150 Bei den extern förderlichen Faktoren geht es um institutionelle Bedingungen, mit denen sich Lehrer bei der Implementierung von Portfolioarbeit konfrontiert sehen. Für die Lehrer ist für eine erfolgreiche Einführung von Portfolioarbeit z.B. wichtig, dass Reformen von der Einrichtung begrüßt und unterstützt werden, dass sie von einer Gruppe von Lehrkollegen begleitet werden, die schon Erfahrung mit dieser Form von Unterricht haben, dass ihnen eine langfristige Strategie zur Verfügung steht und dass ihnen inhaltlich und zeitlich der notwendige Freiraum gelassen wird, um auf die Ziele und Lernbedürfnisse der Teilnehmer individuell eingehen zu können (vgl. Breuer 2009: 189-191). Die Lehrkraft sollte sich dessen bewusst sein, dass mit der Integration des Portfoliokonzeptes auch eine Veränderung des Unterrichts insgesamt einhergeht: „Wer Portfolioarbeit einführt, arbeitet notwendig auch an der Veränderung des Unterrichts“ (Keller 2012: 67). Generell ist eine Öffnung des Unterrichts erforder- lich, weshalb sich Portfolioarbeit und offene Unterrichtsmethoden wie Werkstatt- oder Stationenlernen gut miteinander verbinden lassen (Keller 2012: 69). In einem offenen Unterricht sind die Rollen der Lehrer und Lerner nicht klar festgelegt. Der Lerner nimmt als Mitgestalter und Mitbestimmer des Lernprozesses und der Lern- ziele eine aktivere Rolle als im Frontalunterricht ein. Für die Lehrkraft bedeutet das einen Rollenwechsel vom klassischen Wissensvermittler hin zu der Rolle eines Beobachters, Beraters, Trainers, Moderators oder auch Lernmedienproduzenten (vgl. Brinkmann 2000: 42f., Breuer 2009: 215). Der Perspektiven- und Rollenwechsel unterstützt die Reflektion der Lernpro- zesse auf Seiten der Lerner, aber auch auf Seiten der Lehrer. Durch die Inhalte und Reflektionen, die die Lerner in den Portfolios festhalten, werden die Lehrer auto- matisch mit den Ergebnissen des eigenen Unterrichts konfrontiert. Dies kann zum Anlass genommen werden, den eigenen Unterricht kritisch zu hinterfragen und bezüglich der fachlichen Ziele und der Lehr-/Lernphilosophie gegebenenfalls An- passungen vorzunehmen (vgl. Breuer 2009: 204, Jabornegg 2004: 298). Portfolio- arbeit unterstützt in dieser Hinsicht nicht nur die Reflektionskompetenzen der Lerner, sondern auch die der Lehrer. Es entsteht dabei eine Wechselwirkung: Für die Portfolioarbeit werden einerseits Reflektionskompetenzen vorausgesetzt, sie fördert aber auch die Reflektionsfähigkeit. Sieht man wie Chan (siehe Ausführungen Kapitel 5) die Reflektionsfähigkeit als einen wichtigen Faktor der Lehrerautonomie, so lässt sich sagen, dass Portfolioar- beit nicht nur einen Beitrag zur Lerner-, sondern auch zur Lehrerautonomie leisten kann. Es kann damit letztendlich auch als ein Entwicklungsinstrument für die Wei- terentwicklung der Lehrerprofessionalität genutzt werden (vgl. Breuer 2009: 197). Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 151 9 Erste Einblicke in das subjektive Lehrerwissen von Lehrkräften in Alphabetisierungskursen Um einen Zugang zum subjektiven Wissen der Lehrer zu erhalten, wurden u.a. Daten durch teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit den an dem Projekt Al- phaportfolio teilnehmenden Lehrkräften eines Integrationskursträgers aus Nord- rhein-Westfalen erhoben. Die Interviews wurden von der Interviewerin (in den Transkripten D08 genannt) vor Projektbeginn, ein halbes Jahr und ein Jahr nach Projektbeginn durchgeführt. Interviews nach Beendigung des Projektes stehen noch aus. Die Auswertung der Interviews erfolgt qualitativ-explorativ in Form von Fallstudien. Auf diese Weise kann sowohl die Einzigartigkeit und Komplexität sowie die Eingebundenheit der Fälle in ihren sozialen Kontext und die darin statt- findenden Interaktionen dargestellt werden (vgl. Schratz 2001: 423). Da es im Rahmen dieses Artikels nicht möglich ist, die subjektiven Wissenskonzepte aller Lehrkräfte vorzustellen, soll an dieser Stelle bespielhaft ein kleiner Einblick in das subjektive Wissen einer Lehrkraft gegeben werden. Die Lehrkraft H087 (37) lebt seit ca. zehn Jahren in Deutschland und kommt ursprünglich aus Russland. Sie hat ein Bachelor-Studium im Bereich DaF/DaZ in Deutschland abgeschlossen. Ihre bisherigen Unterrichtserfahrungen erwarb sie im Rahmen ihrer dreijährigen Lehrtätigkeit in Integrationskursen bei dem bereits oben erwähnten Integrationskursträger aus Nordrhein-Westfalen. In Alphabetisierungs- kursen hat sie bis vor Projektbeginn nicht unterrichtet; der durch das Projekt be- gleitete Alphabetisierungskurs ist ihr erster Kurs dieser Art. Das subjektive Wissen von H08 lässt sich nach der Definition von Richards; Lockhart in fünf Kategorien einteilen (vgl. Richards; Lockhart 1994):  Wissen über die Zielsprache und ihren Erwerb  Wissen über den Lehrberuf  Wissen über das Lernen  Wissen über das Lehren  Wissen über das Curriculum und den Kontext der Lehrtätigkeit Anhand der drei mit H08 geführten Interviews lassen sich Argumentationsstruk- turen ausmachen, die diesen fünf Kategorien zugeordnet werden können und Rückschlüsse auf ihr subjektives Lehrerwissen geben. Das Wissen über die Zielsprache kann bei H08 innerhalb zweier Konzepte be- schrieben werden. Das erste ist das Konzept des Lehrers als Native Speaker bzw. nicht-muttersprachlichen Fremdsprachenlehrers (vgl. Seidlhofer 1995). 7 Der Name wurde anonymisiert. Das Kürzel H08 hat keinerlei Bezug zum tatsächlichen Namen der Lehrkraft. Eva Dammers 152 Quelle 1: Interview 1, H08, 15.05.13 {02:41} H08 hm ja natürlich besonders spaß macht mir die vermittlung der spra- che ne weil da ich ja selbst die ausländerin bin ne weil ich auch äh genau so deutsch gelernt habe und ich finde das auch ganz wichtig wenn man zum beispiel selbst als ausländerin oder migrantin deutsch unterrichtet dann kann man vielleicht besser das unterrich- ten weil man das besser weiß wie das schwierig ist ne das is zum beispiel als muttersprachler is das vielleicht n bisschen anders als selbst die ausländerin auch dieser sprache auch zu vermitteln H08 verweist auf ihren eigenen Migrationshintergrund und damit auf ihr Wissen über den Erwerb der Zielsprache Deutsch, über das ein Lehrer nur dann verfügen kann, wenn er die Zielsprache selbst als Fremdsprache erworben hat. Auf diese Weise könne sich die Lehrkraft besser in die Rolle des Lernenden hineinversetzen und etwaige Schwierigkeiten beim Spracherwerbsprozess leichter nachvollziehen. Zudem betont sie die Bedeutung der Erstsprache des Lerners beim Erwerb der Zielsprache: Quelle 2: Interview 1, H08, 15.05.13 {03:28} H08 das macht mir auch natürlich spaß und ich hab so schon viel erfah- rung gesammelt und mit verschiedenen nationalitäten natürlich die sprache spielt dann also ne rolle macht den einfluss natürlich auf den erwerb In der Kategorie ‚Wissen über den Lehrberuf‘ zeigt sich, dass H08 praktische Er- fahrungen dem theoretischen Wissen vorzieht. So sieht sie ihr Bachelorstudium als ausreichende theoretische Qualifizierung für die Lehrtätigkeit an: Quelle 3: Interview 1, H08, 15.05.13 {01:44} H08 ne: ne: ich bin keine quereinsteigerin ich hab an der uni bielefeld studium gemacht deutsch als fremdsprache als hauptfach deutsch als fremdsprache und nebenfach linguistik also ich hab ein bachelor abschluss gemacht ja zum masterabschluss ja bin ich nicht gekom- men weil ich hab angefangen sofort nach dem abschluss zu arbei- ten und ja ich hab so entschieden dass es reicht mir eigentlich für den unterricht für die erfahrung Gleichzeitig äußert sie ihre eigene Motivation zur Teilnahme an dem Projekt durch den Wunsch, Erfahrungen zu sammeln und die Verbindung zwischen Theorie und Praxis zu schlagen: Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 153 Quelle 4: Interview 2, H08, 12.12.13 {17:59} D01 und könn sie das vielleicht sagen ham sie bestimmte erwartungen an das projekt oder welche erwartungen (-) verbinden sie jetz so mit diesem projekt {18:10} H08 ja erwartungen schon erfahrungen sammeln auch und sehen ja wie jetz das natürlich ankommt wie is es dieses das projekt überhaupt also für einsetzbar oder in unserem kurs oder für unsere teilnehmer ob das was bringt positives oder oder gar nicht oder vielleicht is es alles ja kann man nicht in diesen alphakursen [einwenden ] viel- leicht is es nur theorie natürlich is es alles interessant wie das funk- tioniert alles oder wie wird das (so) funktionieren Ihr Wissen über das Lernen zeigt sich bei H08 erstens bezüglich der Lernmotivati- on, deren Bedeutung H08 besonders hervorhebt: Quelle 5: Interview 1, H08, 15.05.13 {04:17} H08 °hh das schlimmste wenn die teilnehmer keine motivation natürlich haben ne dann kann man alles versuchen beim beibringen aber dann macht keinen spaß auch gegenseitig auch für die teilnehmer für mich auch ne Zweitens bewertet sie die Transparenz der Lernprozesse und -fortschritte als sehr wichtig, da sich dies auch auf die Motivation der Teilnehmer auswirkt: Quelle 6: Interview 3, H08, 10.09.14 {02:35} H08 dann ist es für die auch gut dass sie auch das auch selbst sehen dass sie durch sind okay vielleicht nicht alle so gut und perfekt hinge- kriegt haben aber trotzdem man sieht dass also die ergebnisse dass die auch irgendwas geschafft haben Durch die Arbeit mit dem Portfolio und den Lernstationen sieht sie eine positive Entwicklung der Lernerrolle ihrer Kursteilnehmer. Die Lernenden zeigen sich nun generell im Unterricht selbstständiger, was auch für die Lehrkraft eine Erleichte- rung bedeutet: Eva Dammers 154 Quelle 7: Interview 3, H08, 10.09.14 {31:49} H08 für mich ist auch so also ich sehe das auch anders dass die teilneh- mer auch selbstständiger geworden sind und dass auch für die ganz wichtig ist dass sie ja organisiert sind also soll ich sagen mh früher waren sie immer also wie gesagt also vielleicht einige auch nicht äh (--) ungewohnt überhaupt zu lernen also diesen prozess im unter- richt also und zuhören und dann irgendwie vielleicht dann auch in gruppen arbeiten aber jetzt für die ist das jetzt alles bekannt und die machen das eigentlich alles lockerer und einfacher für die was auch meiner arbeit leichter tut Andererseits vertritt H08 hinsichtlich ihres Wissens über das Lehren die Überzeu- gung, dass der Einstieg in die Portfolioarbeit nur mit einer Steuerung des Unter- richts durch die Lehrkraft möglich ist: Quelle 8: Interview 2, H08, 12.12.13 {14:06} H08 dann schon nicht gesteuert mit diesen materialien arbeiten sollten weil man muss von anfang an also wie gesagt in meinem unterricht wo ich das angefangen habe dann hab ich das alles erklärt alles ge- steuert also ohne meine hilfe würden sie das natürlich nicht schaf- fen Die Lehrerzentriertheit wird auch durch das Selbstverständnis der Lehrkraft bestä- tigt. Sie sieht sich selbst im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens und demnach auch die Verantwortung für den Lernprozess der Teilnehmer bei sich selbst: Quelle 9: Interview 1, H08, 15.05.13 {05:37} H08 ja ((lacht)) meine rolle ja ich steh natürlich im mittelpunkt im unter- richt und ich versuche immer auf die bedürfnisse ja:: von einzelnen ne komm weil manchmal gibt es auch die kurse oder die gruppen wo zum beispiel verschiedene die leute mit verschiedenen niveaus im unterricht sind und ich versuch dann mal natürlich jeden mit jedem da vielleicht einzeln oder binnendifferenzierte übungen ma- chen dass jeder vom unterricht was bekommt und nicht dass wenn jemand nicht versteht ja einfach weiter lernen es gibt vielleicht manchmal solche situationen aber ich versuche das immer so dass jeder was vom unterricht nimmt und natürlich weiterkommt Dass der Einstieg in die Portfolioarbeit jedoch nicht nur für die Lernenden, son- dern auch für die Lehrenden eine Herausforderung darstellt, macht H08 ebenfalls deutlich: Subjektives Lehrerwissen und Lehrerautonomie 155 Quelle 10: Interview 3, H08, 10.09.14 {25:35} H08 also für mich war es von anfang an schwierig und ich konnte mir gar nicht vorstellen wie ich das überhaupt das alles erklären soll wo die teilnehmer also kaum so gut deutsch verstehen und dann sollte ich schon also mit hehe mit dieser portfolio also irgendwas erklären das dass wir jetzt noch dazu zweimal in der woche damit arbeiten und wozu ist das alles also von anfang an fand ich natürlich schwie- rig Die anfängliche Unsicherheit und Unerfahrenheit von H08 in Bezug auf die Port- folioarbeit zeigt sich auch beim Wissen über das Curriculum. Der Einstieg in die Unterrichtsabläufe und die Struktur von Alphabetisierungskursen wird von H08 als Herausforderung angesehen: Quelle 11: Interview 3, H08, 10.09.14 {24:32} H08 ja auf jeden fall das war irgendwie für mich neuwelt also überhaupt alphakurse also ich habe da gerade angefangen fast mit der arbeit also in alphakursen das war so von anfang an schon dann also die- ses das projekt mit portfolio und eigentlich für mich war das alles auf einmal so viel weil irgendwie musste ich erstmal mit alpha überhaupt mit diesem ablauf also mit mit dem kurs zurechtkom- men und irgendwie für mich war das auch lernen dass das ganz an- ders als in einem integrationskurs zu unterrichten und dann kam also dass diese arbeit mit dem portfolio also von anfang an fand ich auch natürlich schwierig das weil mit organisation mit dem ablauf Die Einführung der neuen Unterrichtsmaterialien, dem Portfolio und den Lernsta- tionen, stellt in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Komplikation für die Lehrkraft dar. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, werden den Lehrkräften im Rahmen des Projektes zwei Teamteacherinnen (A. und E.) an die an die Seite ge- stellt, die sowohl als erfahrene Lehrkräfte methodisch-didaktisch als auch als Pro- jektkoordinatorinnen inhaltlich beratend die Lehrkräften im Portfoliounterricht unterstützen. Diese Maßnahme wird von H08 positiv gewertet: Quelle 12: Interview 3, H08, 10.09.14 {31:07} H08 wenn was neues dazu kommt und also mit den reflexionen oder wenn ich selbst nicht weiß dann natürlich brauche ich erstmal also mit den aufnahmen zum beispiel wie A. oder mit der reflexion E. war im unterricht also das dann natürlich braucht man eine hilfe man weiß ja selbst erstmal nicht muss aufgeklärt werden wie das geht und dann natürlich nächstes mal im nächsten unterricht läuft das schon Eva Dammers 156 Die Unterstützung durch die Teamteacherinnen wird demnach vor allem in der Einführungsphase benötigt, wenn sowohl für die Lehrkraft als auch für die Teil- nehmenden die Arbeit mit dem Portfolio, den Wochenplänen und den Lernstatio- nen noch ungewohnt ist. Mit dem Verständnis der Systematik und der Routine im Arbeitsprozess mit den Materialien steigt auch die Selbständigkeit im Unterricht auf Seiten der Lernenden sowie der Lehrenden. 10 Zusammenfassung Wie die ersten Analyseergebnisse in Bezug auf das subjektive Lehrerwissen von H08 verdeutlichen, stellt die Einführung von Portfolioarbeit und offenen Unter- richtsmethoden sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrenden eine Heraus- forderung dar, was sich auch aus der Theorie bestätigen lässt (vgl. Keller 2012: 67). Dies trifft besonders dann zu, wenn die Lehrkräfte eher einen lehrerzentrierten und -gesteuerten Unterricht praktizieren und die Lernenden noch lernungewohnt sind, wie es in Alphabetisierungskursen vermutlich der Fall ist. Es kann dann zu den von Chan beschriebenen Konfliktsituationen, den sogenannten ‚psychologi- schen Knoten‘ kommen (vgl. Chan 2002: 25-26). Im Falle von H08 erweist sich als zusätzliche Schwierigkeit, dass bisher wenig Erfahrung im Alphabetisierungsunter- richt vorliegt, so dass noch generell Unsicherheit im organisatorischen Ablauf und der methodisch-didaktischen Vorgehensweise besteht. Es erscheint daher ratsam, Lernende und Lehrende schrittweise an Portfolioarbeit und offenen Unterrichts- methoden heranzuführen, wie auch Feldmeier empfiehlt (vgl. Feldmeier 2010: 96). In diesem Zusammenhang ist der Aspekt der Steuerung ein wichtiger Faktor, auf den auch schon Breuer hinweist (vgl. Breuer 2009: 189). Sie beschreibt den Balanceakt zwischen notwendiger und ausreichender Steuerung im Portfoliounter- richt als die schwierigste Aufgabe der Lehrkraft (vgl. Breuer 2009: 189). Wie sich bei H08 zeigt, kann es bei lernungewohnten Teilnehmern daher u.U. notwendig sein, bei der Einführung der Portfolioarbeit eine stärkere Steuerung durch die Lehrkraft vorzunehmen, die dann mit zunehmender Routine in den Arbeitsabläu- fen verringert bzw. auf die Lernenden übertragen werden kann. Einen vielversprechenden Ansatz zur Unterstützung der Lehrkräfte insbeson- dere in der Einführungsphase der Portfolioarbeit stellt z.B. das Konzept des Team- teachings dar. Es bietet den Vorteil, dass die praktische Hilfestellung direkt im Unterricht erfolgt und damit möglichen Konfliktsituationen bei Einführung der neuen Unterrichtsformen unmittelbar entgegengewirkt werden kann. Auf diese Weise könnte ein Beitrag zur Professionalisierung der Lehrkräfte erfolgen, der sich auch förderlich auf wesentliche Bereiche der Lehrerautonomie auswirken würde. 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Sprachen haben – entgegen einer weit verbreiteten Sprechweise – keine Grammatik, sondern Strukturen. – Diese Auffassung, der etwa auch die jüngst er- schienene „Deutsche Grammatik“ von Ludger Hoffmann verpflichtet ist (2013),1 hatte der diesjährigen Grammatiksektion zugrunde gelegen, wo wir uns anhand authentischer Sprachverwendungen mit sprachlichen Strukturen befassen und die Erkenntnisse für eine Didaktik des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar machen wollten. Die hier abgedruckten Beiträge setzen diese Intention der Sektion auf je spezifische Weise um. Der Beitrag „Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositi- onaler Anschlüsse aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache“ von Max Möller (Berlin) befasst sich mit der Frage, welche Präpositionen bei präpositiona- len Anschlüssen (etwa bei Präpositionalobjekten, aber auch Adjektiven, Partizipien 1 Hoffmann, Ludger (2013) Deutsche Grammatik. Grundlagen für die Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache. Göttingen: ESV. Koordinationsteam TSP 3 162 etc.) gewählt werden, wobei er korpusbasiert deutlich macht, dass diese Wahlen durchaus muttersprachlichen Intuitionen zuwiderlaufen können. Mit der lernerseitigen Hypothesenbildung in einem notorisch ‚haarigen‘ Be- reich, nämlich dem Erwerb der deutschen Pluralformen, ist der Aufsatz „Eine empirische Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmar- kierungen durch erwachsene L2-Lerner und ihr Beitrag zur Pluralvermittlung“ von Fei Li (Shanghai) befasst, die den Prozess der Aneignung der Pluralformen bei chi- nesischen Lernern dokumentiert und interpretiert. Determination, also der sprachliche Zweckbereich, der im Deutschen durch den bestimmten, unbestimmten und den Nullartikel (und nicht etwa durch die so- genannten Artikelwörter wie dieser, mein, sein) bearbeitet wird, ist vergleichsweise sprachtyp- und sprachfamilienunabhängig realisiert oder nicht realisiert. So finden sich unter den indoeuropäischen flektierenden Sprachen sowohl Artikelsprachen (Alt- und Neugriechisch, Deutsch) als auch artikellose Sprachen (Latein, Polnisch, Russisch). Daher ist es besonders reizvoll, dass Anja Binanzer (Münster/Hildes- heim) in ihrem Beitrag „‚Es war einmal ein Hund und die Katze.‘ Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen“ dem Erwerb sprachlicher Mittel des Determinationsbereichs bei Schulkindern mit artikellosen, aber zugleich verschiedenen Sprachtypen angehörenden Erstsprachen (Türkisch/Russisch) nach- geht. Die Beiträge von Max Möller, Fei Li und Anja Binanzer mögen stellvertretend für die ausgezeichneten Vorträge zur Spracherwerbsforschung stehen, die wir in der Sektion gehört haben und die wir hier nicht abdrucken können, da sie Bestand- teile von im Entstehen begriffenen Doktorarbeiten sind. Winfried Thielmann für das Koordinationsteam Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache Max Möller (Berlin, Deutschland) 1 Einleitung Mit festen Präpositionen, seien sie von Verben oder von Adjektiven abhängig, ist das so eine Sache: entweder man kennt sie oder eben nicht. Mitunter wird es für DaF-Lernende zum munteren Ratespiel, wenn sie aufgefordert sind, beispielsweise fehlende Präpositionen in einen Lückentext einzusetzen. Doch auch muttersprach- liche Nutzer des Deutschen verhalten sich im Gebrauch von festen Präpositionen bisweilen flexibler, als man denken mag. Der folgende Beitrag thematisiert Schwankungen (vermeintlich) fester präpositionaler Anschlüsse, die sich in der Auswertung von Textkorpora zeigen. Nach dieser Einleitung wird im zweiten Abschnitt überblicksartig in die ver- schiedenen Arten fester und variabler präpositionaler Anschlüsse eingeführt. Es folgt eine systematische Annäherung an die Schwankung zwischen den Präpositio- nen auf und über bei solchen Adjektiven, die im weitesten Sinne auf psychisch- Max Möller 164 emotionale Zustände Bezug nehmen (wütend, eifersüchtig, stolz u.a.). In Abschnitt drei wird der Blick auf Partizipien 2 der sogenannten Experiencer-Objekt-Verben ge- richtet (enttäuscht, begeistert, verwirrt), bei denen sich Schwankungen zwischen von und über beobachten lassen. Abschnitt vier gibt schließlich einen Ausblick auf mögliche Anwendungsbezüge für DaF. 2 Präpositionale Anschlüsse – ein Überblick Bei den präpositionalen Anschlüssen konzentriere ich mich auf drei Phänomenbe- reiche: Erstens: freie gegenüber fester/gebundener Verwendung von Präpositio- nen. Zweitens: reguläre Schwankung zwischen zwei festen Präpositionen. Drittens: Vermeintlich irreguläre Schwankung zwischen zwei Präpositionen. 2.1 Freie und feste Verwendung von Präpositionen Natürlich gibt es Variationen zwischen präpositionalen Anschlüssen als ganz sys- tematischen Teil der Grammatik. Das ist bei Adverbialangaben der Fall, z.B. bei temporalen (vor einer Stunde/in einer Stunde) oder insbesondere bei Lokalanga- ben: 1. Der Hund sitzt auf/unter/neben der Treppe. Hier transportiert die Präposition eine transparente Eigenbedeutung, demnach bestimmt die Auswahl der Präposition über die lokale Verortung des Hundes. Anders ist der Fall bei Präpositionalobjekten, die von einem Verb oder einem Adjektiv abhängen. 2. Der Hund wartet auf sein Herrchen. Die Präposition ist fest oder auch gebunden, sie transportiert i.d.R. keine oder nur eine verblasste Eigenbedeutung, und es gibt keine Auswahlmöglichkeit. 2.2 Reguläre Schwankung zwischen zwei festen Präpositionen Eine dritte, jedem DaF-Lehrenden wohlbekannte Möglichkeit besteht in einer bedeutungsunterscheidenden Auswahl zwischen zwei festen Präpositionen. Das Paradebeispiel dieses eher seltenen Phänomens ist das Verb sich freuen auf/über: 3. Der Hund freut sich auf sein Herrchen. 4. Der Hund freut sich über sein Herrchen. In einer denkbaren Situation (3) sitzt der Hund in der Wohnung oder vor dem Supermarkt, das Erscheinen des Herrchens liegt in der Zukunft. Linguisten be- schreiben diese Relation als „Erwartung“ oder „Folge“. In einer Situation (4) ist das Herrchen präsent, die Relation hat Gegenwartsbezug und wird auch als kausal Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 165 beschrieben. Krause (2004: 67) spricht hier von „Arbeitsteilung“ zwischen den beiden Präpositionen. All diese Phänomene stellen für Lernende des Deutschen als Fremdsprache zwar Lernaufwand, aber keine unüberwindbare Herausforderung dar. Schwieriger wird es erst, wenn die Bedeutungsunterscheidung nicht mehr so glasklar ist wie im Falle von sich freuen auf/über. Wie verhält sich beispielsweise das Verb auf etwas schimpfen zur Variante über etwas schimpfen? Wörterbücher sind hier die erste Klärungshilfe. So enthält das Langenscheidt Wörterbuch DaF (Götz; Ha- ensch; Wellmann 2010) einen gemeinsamen Eintrag für auf/über jdn./etw. schimpfen, der mit Beispielen unterlegt wird: 5. „auf die rücksichtslose Fahrweise der anderen Verkehrsteilnehmer“ (Götz; Haensch; Wellmann 2010: 951) 6. „über den Lärm der Nachbarn“ (Götz; Haensch; Wellmann 2010: 951) Ein fassbarer Unterschied besteht hier nicht. Dennoch haben die meisten Nutzer des Deutschen eine Intuition darüber, ob sie eher auf das Wetter schimpfen oder über das Wetter schimpfen. Eine tragfähige Erklärung zu liefern, fällt dagegen schwer, wenn auch subtile Unterschiede zwischen den beiden Varianten sicher vorhanden sind. An dieser Stelle kommt die empirische Überprüfung mit Korpusdaten ins Spiel. Relativ leicht lässt sich herausfinden, dass beide Varianten im Gegenwartsdeut- schen gebräuchlich sind. So ergibt eine Stichprobe im Deutschen Referenzkorpus DeReKo (Institut für deutsche Sprache 2013) eine Verteilung von 27,5% für eine Wortfolge, in der die Phrase auf das Wetter in einem gewissen Abstand zu einer Form des Lemmas schimpfen steht (7) gegenüber 72,5%, die bei derselben Anfrage auf die Wortfolge über das Wetter fallen (8): 7. „Erika Hardt schimpft auf das Wetter, aber sie lacht.“ (HAZ, 14.12.2007) 8. „Warum schimpfen alle immer über das Wetter?“ (Braunschweiger Zei- tung, 22.08.2009) Bei einer Verteilung wie derjenigen zwischen schimpfen auf und schimpfen über kann man guten Gewissens von jeweils etablierten Verwendungen sprechen. Auch im Bereich von Adjektiven gibt es eine reguläre Schwankung zwischen auf und über, die sich beispielsweise für wütend auf und wütend über belegen lässt. Im Gegensatz zum Verb schimpfen scheint das Langenscheidt-Wörterbuch hier einen systematischen Unterschied vorzunehmen: 9. „wütend auf j-n/etw.: voller Wut gegenüber j-m/etw.“ (Götz; Haensch; Wellmann 2010: 1270) 10. „wütend über etw.: voller Wut wegen eines Vorfalls“ (Götz; Haensch; Wellmann 2010: 1270) Max Möller 166 Die Paraphrasen zeugen von einer stärkeren Gerichtetheit der wütend auf-Variante, während wütend über als rein kausal verstanden wird. Dass die hier implizierte Ein- schränkung von wütend über auf nichtpersonale Referenten nicht zu hundert Pro- zent dem Sprachgebrauch entspricht, lässt sich allerdings leicht beweisen: 11. „Der VfLer und wohl alle seine Landsleute sind wütend über Schiedsrichter Massimo de Santis aus Italien.“ (Braunschweiger Zeitung, 14.11.2005) Aber mit Korpora lassen sich auch ungewöhnliche Sprachverwendungen belegen, die DaF-Lehrende vielleicht im entsprechenden Lernertext schnell zum Rotstift greifen lassen. 2.3 Vermeintlich irreguläre Schwankungen zwischen zwei Präpositionen Der Titel des Aufsatzes ist bewusst gewählt, denn er provoziert sicher nicht nur bei geschulten DaF-Lehrenden die Reaktion: „Es muss ‚stolz auf das Ergebnis‘ hei- ßen.“ Spontan möchte man dem zustimmen, dennoch lässt sich schnell feststellen, dass es nicht immer stolz auf das Ergebnis heißt, jedenfalls nicht in einer systemati- schen Auswertung deutscher Zeitungskorpora: 12. „‚Einige von den Jugendlichen stehen heute zum ersten Mal auf der Bühne‘, sagte Fischer, ‚und wir sind sehr stolz über das Ergebnis.‘“ (Mannheimer Morgen, 2.06.2009) Vorbehalte gegenüber Korpusbelegen sind angebracht: Erstens handelt es sich um Zeitungssprache – die Textsortenbedingtheit lässt sich nicht wegdiskutieren. Zwei- tens, das weiß jeder Zeitungleser, sind Zeitungstexte nicht frei von holpriger Sprachbenutzung und selbstverständlich auch nicht von Fehlern. Deshalb ist die entscheidende Frage: Ist eine Benutzung wie stolz über musterhaft oder handelt es sich um einen vereinzelten Beleg, um eine irgendwie geartete Ausnahme oder gar um einen Fehler? Als musterhaft bzw. als Muster bezeichnen Fehrmann; Möller (2012: 13) „eine in der Verwendung eines Lexems mit einer gewissen Häufigkeit auftretende lexikalische oder grammatische Struktur.“ Diese auf Hunston; Francis (2000) beruhende Definition führt zu der Frage, ab wann eine „gewisse Häufig- keit“ vorliegt und wann Letztere für das Deutsche als Fremdsprache relevant wird. Zwei Hypothesen sollen deshalb im Folgenden überprüft werden: Die erste Hypothese besagt, dass sich bei Adjektiven, die sich im weitesten Sinne auf psy- chisch-emotionale Sachverhalte beziehen, eine mehr oder weniger systematische Schwankung zwischen von und über beobachten lässt, die noch einer Einordnung bedürfte. Die zweite Hypothese sagt voraus, dass die traditionelle Beschreibung zutrifft und sich die Rektion in den Fällen, in denen es nicht bereits anders be- schrieben (und empfunden) wird, eindeutig auf eine Präposition bezieht. Stolz über wäre dann allenfalls ein Ausrutscher, wenn nicht ein Fehler; wütend auf/über wäre entsprechend von der Beschreibung abgedeckt. Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 167 Neben dem eigenen Sprachwissen (also einem introspektiven Zugang) werden Korpusdaten zur Überprüfung herangezogen. Ein erster stichprobenhafter Ein- blick zeigt, dass Hypothese 1 nicht per se verworfen werden kann, denn Belege wie die folgenden zeigen unerwartete Verwendungen der Präposition über: 13. „Melanie und ihr Vater sind manchmal eifersüchtig über die enge Ver- bundenheit zwischen Mutter und Sohn.“ (Frankfurter Rundschau, 7.01.1999) 14. „‚Ich war überrascht und ein bißchen neidisch über ihre vielen Aktivitä- ten‘, lobte Peter Ruf, Leiter des Stadtmuseums“ (Mannheimer Morgen, 1.04.1996) Aber handelt es sich hier jeweils a) um noch angemessenen Sprachgebrauch und liegt b) eigentlich eine Austauschbarkeit mit der Präposition auf vor? Die Beispiele (13) und (14) lassen auch beim toleranten Sprachbenutzer gewisse Zweifel an der Wohlgeformtheit aufkommen. Austauschbarkeit mit auf liegt vor, allerdings drängt sich eine weitere Frage auf: Kann man überhaupt auf etwas anderes eifersüchtig bzw. neidisch sein als auf Personen? Auch wenn sich Eifersucht und Neid proto- typisch gegen Personen richten, so sind Ausdrücke wie eifersüchtig auf ihren Erfolg oder neidisch auf die Anerkennung im Sprachgebrauch nicht ungewöhnlich. Allerdings liegt dann wohl bereits eine gewisse interpretatorische Anpassung hin zum Kausa- len hin: eifersüchtig auf eine implizit gelassene Person/Personengruppe wegen des hier mittels auf-PP angeschlossenen Grundes. Da über-PPs, wie am Beispiel sich freuen auf/über gesehen, kausalen Charakter besitzen, wäre eine Arbeitsteilung auch bei Adjektiven wie neidisch und eifersüchtig ökonomisch, und dass in (13) und (14) jeweils unpersönliche Bezugsgrößen mit der über-PP benannt werden, spricht auch für einen möglicherweise bewusst gewählten Kausalbezug. Anders gelagert sind dagegen (15) und (16): 15. „‚Deswegen bin ich nicht böse über unser Abschneiden, obwohl wir den Sprung in das Regionalpokalfinale verpasst haben‘, meinte Tomas- zewski.“ (Braunschweiger Zeitung, 19.09.2006) 16. „Marco Meiners (FDP) war sauer über die Vorwürfe der Bürger:“ (Braunschweiger Zeitung, 24.01.2013) Hier kann über sicher nicht durch auf ersetzt werden: *nicht böse auf unser Abschneiden, *er war sauer auf die Vorwürfe. Es liegt eindeutig eine bewusste und bedeutungsunter- scheidende Wahl der Präposition über vor: Über benennt die Ursache, auf alternativ den Adressaten der Emotion. Folgender Unterschied wird deutlich: Die Präposition auf ist bei den Adjektiven neidisch und eifersüchtig die prototypische, was Sprachwissen und Wörterbücher be- stätigen. Kommt es im Einzelfall zur Benutzung von über, so bleibt der Ausdruck interpretierbar. Dagegen ist die Variation bei böse und sauer systematischer Natur: Max Möller 168 Böse auf und böse über realisieren unterschiedliche Bedeutungsbezüge und müssen klar voneinander unterschieden werden. Bezieht man nun den Faktor der Frequenz ein, so ergibt sich ein Bild, das den Sprachgebrauch in ein klareres Licht rückt. Um zu überprüfen, inwieweit neben wütend auch bei den Adjektiven stolz, eifersüchtig, neidisch, böse und sauer eine muster- hafte auf-/über-Schwankung vorliegt, wurden aus dem Korpus Braunschweiger Zeitung (2005-2013), einem Teilkorpus des DeReKo, jeweils 50 Belege zufällig ausgewählt, in denen die betreffenden Adjektive jeweils mit einer regierten PP auftreten. Die gewählten Präpositionen verteilten sich innerhalb dieser Probe wie folgt: Tab. 1: Anteil der Präpositionen auf und über innerhalb einer Stichprobe von 50 im Korpus Braunschweiger Zeitung (2005-2013) auf über eifersüchtig 100% 0% neidisch 100% 0% stolz 98% 2% böse 70% 30% wütend 64% 36% sauer 58% 42% Zur Bewertung der Daten dieser vergleichsweise kleinen Erhebung: Die oben an- geführten Belege, in denen eifersüchtig und neidisch mit über verwendet werden, sind tatsächlich absolute Einzelfälle und damit als nicht musterhaft im Sinne von Fehrmann; Möller (2012) zu verstehen. Die 2% für die Verwendung von stolz über, die innerhalb einer Stichprobe von 50 genau einem Beleg entsprechen, bestätigen sich aber auch bei einer weitergehenden Belegsuche. Hier liegt zu einem gewissen Grad eine Variation im zeitungssprachlichen Gebrauch vor. Die Befunde für böse, wütend und sauer belegen die regulären Schwankungen, die oben dargestellt wurden. 2.4 Fazit Was uns intuitiv als korrekt/natürlich, aber auch als eher falsch/unangemessen erscheint, korrespondiert mit der Vorkommensfrequenz. Und eine reguläre Schwankung zwischen auf und über liegt für einige Adjektive mit psychisch-emo- tionalem Bezug definitiv vor. Dennoch zeigen die Beispiele eifersüchtig, neidisch und stolz, dass Rektion im traditionellen Sinne gegenüber einer Parallelexistenz von Mustern dominieren kann. Die Distribution von auf und über ist dabei „nicht im- mer vorhersehbar“ (Krause 2004: 67). Aber liegt immer eine Regelüberschreitung vor, wenn beispielsweise stolz über anstelle des deutlich dominierenden Musters stolz auf verwendet wird? An dieser Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 169 Stelle spreche ich von systematischer Musterüberschreitung, denn mit der verwen- deten Präposition verändert sich auch die Interpretation des Ausdrucks. Verwen- dungen wie stolz über lassen sich, sofern sie in einer gewissen Frequenz vorliegen, als Übergänge in ein benachbartes Muster verstehen. In diesem Nachbarmuster stellt ein Adjektiv wie sauer oder wütend mithilfe der Präposition über regulär und systematisch eine Kausalrelation her, die nuancenhaft von der mittels der Präposi- tion auf hergestellten Relation abweicht. Dass dabei mit auf eher auf Personen refe- riert wird, mit über eher, aber wie gezeigt nicht ausschließlich, auf gegenständliche bzw. abstrakte Referenten, liegt in der Natur dieser Ausdrucksnuancen begründet. Nun soll noch der Kontrast der Präpositionen von und über am Beispiel partizipialer Formen thematisiert werden. 3 Partizipien 2 und der von-/über-Kontrast Für den folgenden Abschnitt werden drei Komponenten in Beziehung zueinander gesetzt: a) Das sogenannte Zustandspassiv (ZP), b) Die P2 sogenannter EXP- Objekt-Verben (EO-Verben), c) Präpositionale Anschlüsse im ZP und bei P2 von EO-Verben. Ausgangspunkt sind beobachtbare Schwankungen der präpositionalen Anschlüsse in der Konstruktion aus sein und den betreffenden P2, z.B. bei enttäuscht sein oder irritiert sein: Neben der in passivischen Strukturen erwartbaren Präposition von tritt hier die von den oben thematisierten Adjektiven bekannte Präposition über auf. Eine ausführliche Behandlung des Themas erfolgt in Möller (in Vorb.). 3.1 Das sogenannte Zustandspassiv In der traditionellen Sicht ist das Zustands- oder sein-Passiv eine Struktur, die bei transitiv-resultativen Verben den Resultatszustand ausdrückt. Um von einem Zu- standspassiv zu sprechen, muss immer eine Form des Vorgangspassivs vorliegen, die auf den Prozess fokussiert: 17. Jemand deckt den Tisch. (Vorgang, agenszugewandt) 18. Der Tisch wird gedeckt. (Vorgang, agensabgewandt) 19. Der Tisch ist gedeckt. (Resultatszustand) Diese traditionelle Sicht wird in den meisten aktuellen Grammatiken vertreten (z.B. Duden 2009: 552ff.) und findet ihren Niederschlag in DaF-Lehrwerken. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist die Frage jedoch umstritten, inwieweit es sich bei der Struktur um ein Passiv handelt, da die Verbalkategorie Passiv ein verba- les Partizip erfordert. Zahlreiche Gründe sprechen jedoch dafür, in der betreffen- den Struktur ein adjektivisches P2 zu verorten. In dieser u.a. von Rapp (1997) und Maienborn (2007) vertretenen Sichtweise ist das sogenannte Zustandspassiv eine Kopulakonstruktion aus sein und einem Partizipialadjektiv. Max Möller 170 Wie auch immer man sich in dieser Frage positioniert: Als präpositionaler An- schluss kommt in der Struktur nur das für die Agens-Phrase im Passiv typische von, allenfalls auch durch infrage: 20. Die Suppe wird von Maja gewürzt.  Maja agiert 21. Die Suppe ist von Maja gewürzt.  Maja zeichnet für den Zustand verantwortlich 3.2 Experiencer-Objekt-Verben EO-Verben sind solche transitiven Verben, die das Hervorrufen einer psychisch- emotionalen Wirkung aufseiten eines wahrnehmungsfähigen Referenten, i.d.R. einer Person, in der Terminologie der Semantik eines Experiencer (EXP) verbali- sieren. Die Verben werden bisweilen auch als Wirkungsverben bezeichnet (Rapp 1997, Handwerker; Madlener 2009): 22. Etwas motiviert/begeistert/enttäuscht mich (= EXP) Von diesen Verben lässt sich i.d.R. eine Form aus sein und P2 bilden: 23. Ich bin motiviert/begeistert/enttäuscht. Diese dem sogenannten Zustandspassiv formal gleiche Struktur wird in Gramma- tiken meist explizit hervorgehoben (Duden 2009: 555), denn im Gegensatz zu Beispielen wie (19) drückt sie kein Resultat eines vorangegangenen Prozesses aus, das vom Verb ausgedrückte Geschehen kulminiert nicht in einem Punkt: Jemand deckt den Tisch, der Tisch wird also gedeckt und irgendwann ist das Resultat er- reicht: Der Tisch ist gedeckt. Aber: Jemand enttäuscht eine andere Person, diese wird aber nicht enttäuscht, bis sie irgendwann als Resultat enttäuscht ist. Die schwierige und vom einzelnen Verb ebenso wie vom Kontext abhängige Interpre- tation dieser Partizipien thematisiert Möller (in Vorb.). In Abgrenzung zum Zu- standspassiv wird die Struktur als sein-Konverse bezeichnet (Duden 2009: 555, Zifonun; Hoffmann; Strecker 1997: 1817ff.). Hervorgehoben wird dann, dass diese P2 das potenzielle Aktivsubjekt in der Konverse „mit einer anderen Präposition als in der normalen Agensphrase“ (Duden 2009: 555) aufgreifen, nämlich in Beispie- len wie an etwas interessiert sein oder über etwas irritiert sein. 3.3 Präpositionale Anschlüsse bei P2 von Experiencer-Objekt-Verben Mit der Fokussierung auf die Andersartigkeit des präpositionalen Anschlusses fällt unter den Tisch, dass viele P2 von EO-Verben durchaus auch oder sogar bevor- zugt von wählen, z.B. von jdm./etw. beeindruckt sein, von jdm./etw. genervt sein. Daneben tritt im Gegensatz zur Präposition an, die eine Idiosynkrasie des P2-Adjektivs inte- ressiert darstellt, erneut über musterhaft auf: Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 171 24. „Schauspieler Peer ist maßlos von Sarah enttäuscht.“ (Hamburger Mor- genpost, 25.01.2011) 25. „‚Es gibt keine Entschuldigung (…)‘, ist der US-Amerikaner immer noch enttäuscht über den kraftlosen Auftritt.“ (Mannheimer Morgen, 1.04.2011) Hinsichtlich einer möglichen Systematik lassen sich Befunde festhalten, die in Möl- ler (in Vorb.) aus einer Korpusdatenerhebung hervorgehen: Einige P2 bevorzugen eindeutig die Präposition von (z.B. von etwas beeindruckt, genervt, entzückt), andere be- vorzugen eindeutig die Präposition über (z.B. über etwas empört, bestürzt, betrübt). Da- neben gibt es aber auch P2, bei denen keine klare Präferenz für eine Präposition aus den Daten hervorgeht. Zu diesen P2 zählen u.a. überrascht, irritiert und enttäuscht. Woran liegt das? Befund 1: Statistisch signifikant ist der Zusammenhang zwischen der Frequenz der Nutzung des Basisverbs (also z.B. in normalen Aktiv-Verwendungen wie das beeindruckt mich) und dem Vorkommen der Präposition von am P2: Je mehr sich die Verwendung zahlenmäßig in Richtung partizipialer Strukturen wie Ich bin betrübt verschiebt, desto eher wird dort die Präposition über angeschlossen. Diese Befunde zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Art der Nutzung eines Typs (zu einem Type gehören hier alle Verwendungen als Verb und als P2 eines Lexems wie z.B. beeindrucken) und der am P2 bevorzugten Präposition. Befund 2: Aufseiten der P2, bei denen keine klare Präferenz in der Auswahl der Präposition beobachtet werden kann, lassen sich auch semantische Kriterien be- stimmen. So bevorzugen Schreiber am P2 enttäuscht immer dann die Präposition von, wenn sie sich auf personale Referenten beziehen und zumindest potenziell Agentivität vorliegt (s.o. im Bsp. 24). Allerdings gilt dieses semantische Kriterium nur, solange das P2 nicht eine lexikalische Präferenz zugunsten der Präposition über besitzt (26): 26. „Wir sind bestürzt über den Richter“ (Tiroler Tageszeitung, 3.07.1998) Die Präposition von konserviert in abgeschwächter Weise die Gerichtetheit, die in einer Agens-Patiens-Relation vorliegt. Über stellt dagegen eine statisch-kausale Relation her, die auch mit dem ‚Bedecken‘ mit einer Emotion umschrieben wird: „über with emotional predicates to express abstract covering of an object of emo- tional concern“ (Meex 2001: 26). Die Zusammenhänge sind jedoch insgesamt weit komplexer als hier dargestellt und von idiosynkratischen Verwendungen, speziellen Interpretationen und Über- gängen zu Lexikalisierungen durchzogen. So kann beispielsweise das P2 beleidigt in Äußerungen wie (27) nicht auf einen Vorgang des Beleidigens bezogen werden: 27. Klaus ist schon wieder (*von Martin) beleidigt. Max Möller 172 Auch P2 wie aufgeregt oder gereizt sind nicht 1:1 auf ihre Basisverben beziehbar, mit verrückt (*das verrückt mich) oder gelassen (*das lässt mich) liegen auch zu potenziellen Basisverben intransparente Pseudo-P2 vor (vgl. Möller in Vorb.). 3.4 Fazit Auch bei P2, die sich bedeutungstransparent auf Basisverben des Gegenwartsdeut- schen beziehen lassen, kommt es zu präpositionalen Schwankungen, die einer ge- wissen Systematik unterliegen. Der Status der Präposition über gerät mit den Er- kenntnissen der Abschnitte 2 und 3 in ein neues Licht: So dringt über im Sprachge- brauch jeweils in den von anderen Präpositionen (auf bzw. von) besetzten konstruk- tionellen Rahmen ein. Diese Verwendungen reihen sich in eine ganze Gruppe von EXP-Subjekt-Strukturen ein (Bsp. aus Möller in Vorb.), die jeweils mit über auf den Grund/die Ursache der emotionalen Reaktion referieren. 28. Ich freue, ärgere, wundere mich über … (reflexives Verb ohne sein- Konverse) 29. Ich empöre mich über … (reflexives Verb mit sein-Konverse) 30. Ich staune über … (intransitives Verb) 31. Ich bin glücklich, traurig über … (Adjektiv) 32. Ich empfinde Ärger über … (empfinden + Nomen) Der Eindruck drängt sich auf, dass über im Gebrauch des Gegenwartsdeutschen auf dem Weg ist, eine Art Jokerfunktion zur Benennung des Stimulus in psychisch- emotionalen Kontexten mit EXP-Subjekt-Struktur einzunehmen. Doch ist Vor- sicht geboten. Nicht von ungefähr weist Rostila (2005: 163) darauf hin, dass die meisten „Präpositionalobjekt-Präpositionen im heutigen Deutsch erst zusammen mit ihren Regentien lexikalisiert sind.“ Denn auch die folgenden Beispiele gehören in diese Reihe und ernüchtern die aufkeimende Hoffnung nach Ordnung im Prä- positionendschungel: 33. Ich bin wütend auf … 34. Ich ängstige mich vor … 35. Ich bin verrückt nach … 36. Ich bin besessen von … Gerade im Psych-Ausdrucksbereich ist das Nebeneinander verschiedener Präposi- tionen, die alle ihre eigene Systematik besitzen, typisch. 4 Und das Deutsche als Fremdsprache? Um das Auswendiglernen von Verben und Adjektiven mit festen Präpositionen, das sei vorweggenommen, wird man auch in Zukunft nicht herumkommen. Aus den gewonnen Befunden lassen sich dennoch zwei Denkanstöße ableiten, die ich Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 173 einerseits auf ein mögliches Korrekturverhalten, andererseits auf die Bewusstma- chung der Thematik im Unterricht für Fortgeschrittene beziehen möchte. Die Erkenntnisse, die scheinbar irreguläre Schwankungen im präpositionalen Anschluss betreffen, sehe ich eher in der Kategorie „Hintergrundwissen für Leh- rende“. Natürlich soll auch in Zukunft niemand in seiner A1-Klasse stolz über als gleichberechtigte Variation neben stolz auf unterrichten. Das Wissen um solche Phänomene, denen auf ihre Weise eine gewisse Systematik unterliegt, sollte aber im Zweifelsfall zu einer größeren Fehlertoleranz oder einer sanfteren Korrektur be- stimmter Fehlermuster führen: Verwendet eine Lernerin in einem Text mehrfach stolz über, liegt in der Frequenz kein natürlicher Sprachgebrauch vor. Nicht auszu- schließen ist aber, dass sie die entsprechende Form gehört oder sogar gelesen hat. Wo beginnt dann etwas falsch zu sein? Ob sich Phänomene wie die Variationsbreite präpositionaler Anschlüsse bei Partizipien 2 von EO-Verben in einen möglichst sogar handlungsorientierten Un- terricht integrieren lassen, möchte ich gar nicht erst diskutieren. Vorwürfe, es han- dele sich um ein Thema aus dem DaF-Elfenbeinturm, dürfen gerne vorgebracht werden. Allerdings findet auch dort Unterricht statt, beispielsweise in Kursen der Auslandsgermanistik mit Fokus auf linguistische Aspekte des Deutschen oder auch in einem Grammatikkurs für Studierende der Germanistik in den Niveaustufen C1 und C2 am Sprachenzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. In solch spezifi- schen Kursszenarien können Lernende zu Spracherforschern gemacht werden, reale Nutzungsfrequenzen und muttersprachliche Gebrauchsnuancierungen er- schlossen werden (vgl. zum theoretischen Hintergrund und der Bedeutung von frequenten Mustern im Spracherwerb Ellis 2012). Insbesondere Daten aus Korpora eignen sich zum Entdecken verborgener Sys- tematiken. Fehrmann; Möller (2012) skizzieren am Beispiel der Struktur machen + Adjektiv (etwas von etwas abhängig machen, sich schlau machen, die Finanzierung attraktiver machen), wie musterhafte Strukturen mit Unterstützung der Lehrperson erkannt und erschlossen werden können – die Grenzen zwischen Grammatik und Wort- schatz sind hier fließend. Ähnliches lässt sich auch auf präpositionale Anschlüsse projizieren. Möller (2012) stellt zudem dar, wie in einem auslandsgermanistischen Kurs Korpora an der Schnittstelle zwischen Sprachlernprozess und ersten Schrit- ten in die linguistische Analyse eingesetzt wurden. Darüber hinaus lässt sich die Aufmerksamkeit von Lernenden auch mit bereits existierenden Ressourcen auf die Präpositionen lenken. So befindet sich auf der Handwerker; Madlener (2009) beiliegenden DVD eine Reihe von Videos, in denen deutsche Muttersprachler insbesondere Partizipien 1 und Partizipien 2 von Experi- encer-Objekt-Verben verwenden − es handelt sich um bewusst zu Lernzwecken manipulierten Input. Die hochfrequente Nutzung der Partizipien ist gewollt, die Verwendung der präpositionalen Anschlüsse ist aber in keinerlei Weise gesteuert worden und folgt ausschließlich dem Sprachgefühl der jeweils auftretenden Perso- nen. So lassen sich allein in der Videosequenz 2 zu den P2 („Fahrpreiserhöhung“) Max Möller 174 folgende Anschlüsse in natürlichen Kontexten heraushören: erfreut über (2x), beein- druckt von, überrumpelt von, abgeschreckt von, schockiert (je einmal von und über), amüsiert über, angenervt von, daneben aber auch die im Korpus in niedrigerer Zahl auftreten- den Alternativ-Präpositionen durch und wegen sowie ein Kausalsatz (deprimiert, weil …). Diese unterschiedlichen Ausdrucksweisen von Kausalität bilden die Viel- falt dessen ab, was eine Muttersprachlerin hier als natürlich empfindet und natürli- cherweise nutzt. Allein der Einsatz eines oder mehrerer solcher Videos könnte bereits einen Zweck erfüllen: Aufmerksamkeitsfokussierung und Bewusstmachung eines Phä- nomens, das sich jenseits eines traditionellen Wörter-und-Regel-Verständnisses bewegt. Im Sinne der Lernerautonomie genügt bereits der Anstoß, um die selektive Wahrnehmung neugieriger Sprachbeobachter anzuregen und somit den vielleicht besten Weg einer Annäherung an solch versteckte Eigenheiten des Sprachge- brauchs zu bahnen. Literatur Dudenredaktion (2009) (Hrsg.): Duden. Die Grammatik. Bd. 4, 8., überarb. Aufl. Mannheim u.a.: Duden. Ellis, Nick C. (2012): What can we count in Language, and what counts in lan- guage acquisition, cognition, and use? In: Gries, Stefan Th.; Divjak, Dagmar (Hrsg.): Frequency Effects in Language Learning and Processing. 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Krause, Maxi (2004): Konkurrenz, Komplementarität und Kooperation im Be- reich der Präpositionen und Verbalpartikeln. In: Linguistik Online 18 (1), 35-69. (http://www.linguistik-online.de/18_04/krause.html) (30.06.14). Stolz über das Ergebnis? Variierende Gebrauchsmuster präpositionaler Anschlüsse 175 Maienborn, Claudia (2007): Das Zustandspassiv. Grammatische Einordnung – Bildungsbeschränkungen – Interpretationsspielraum. In: Zeitschrift für germanisti- sche Linguistik 35, 83-114. Meex, Brigitta (2001): The Spatial and Non-Spatial Senses of the German Preposi- tion über. In: Cuyckens, Hubert; Zawada, Britta (Hrsg.): Polysemy in Cognitive Linguistics. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins, 1-35. Möller, Max (2012): Schablone und Kontinuum. Zum Potenzial einer DaF- Konstruktionsgrammatik. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Akten des XII. Interna- tionalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 15. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 383-389. Möller, Max (in Vorb.): Verwirrt (ge)worden? Partizipien 2 von Experiencer-Objekt-Verben zwischen verbaler und adjektivischer Verwendung. Tübingen: Narr. Rapp, Irene (1997): Partizipien und semantische Struktur. Tübingen: Stauffenburg. Rostila, Jouni (2005): Zur Grammatikalisierung bei Präpositionalobjekten. In: Leuschner, Torsten; Mortelmans, Tanja; De Groodt, Sarah (Hrsg.): Grammati- kalisierung im Deutschen. Berlin; New York: De Gruyter, 135-167. Zifonun, Gisela; Hoffmann, Ludger; Strecker, Bruno (Hrsg.) (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin: De Gruyter. Eine empirische Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen durch erwachsene L2-Lerner und ihr Beitrag zur Pluralvermittlung Fei Li (Shanghai, China) 1 Einleitung Das deutsche Pluralsystem erweist sich als besonders komplex. Es verfügt über eine Menge von Pluralallomorphen, über deren Anzahl und Zuweisungsregeln auch deutsche Linguisten uneins sind. Dabei haben die meisten Zuweisungsregeln zudem noch mehr oder minder Spezialfälle und Ausnahmen. So ist nicht verwun- derlich, dass der Erwerb des deutschen Pluralsystems, bei dem auch fortgeschritte- ne Lerner oft Fehler machen, L2-Lernenden große Schwierigkeiten bereitet. Vor diesem Hintergrund versucht die vorliegende Arbeit, eine Antwort auf die folgen- den Fragen zu geben: Wie erwerben erwachsene chinesische L2-Lerner das deut- sche Pluralsystem? Und wie kann man das deutsche Pluralsystem einfacher und deutlicher vermitteln, um den Lernern die Aneignung zu erleichtern? Dabei geht es Fei Li 178 nicht nur darum, die Anzahl der Regeln zu reduzieren, sondern auch darum, sie so zu erläutern, dass die Lerner den Gebrauch der Pluralformen besser verstehen und umsetzen können. 2 Theoretischer Hintergrund 2.1 Die Pluralmarkierungen am deutschen Substantiv und ihre Zuweisungen Die Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit sind die acht Pluralmarker des Deut- schen: -en, -n, -e, -s, -er, -"e, -"er, und -"ø.1 Es handelt sich hier um fünf overte Plu- ralmarker (-en, -n, -e, -s, -er), die segmental sind und bei der Pluralbildung an den Wortstamm angefügt werden, und um einen nicht-overten Pluralmarker -"ø, der nicht segmentierbar ist. Die Pluralmarker -er und -e können mit einem Umlaut kombiniert werden. In diesem Fall wird der Vokal der Singularform durch den entsprechenden Umlaut ersetzt. Beim Pluralmarker -er muss der Umlaut immer gebildet werden, sofern dies möglich ist. Tabellarisch lassen sich die acht deutschen Pluralmarker wie folgt gruppieren: Tab. 1: Die in dieser Arbeit untersuchten acht Pluralmarker des Deutschen (vgl. Zifonun 2004: 5) Pluralmarker Beispiele segmental -en -n -e -s -er Uhren, Banken, Frauen Geschichten, Eulen, Pflanzen Tage, Hunde, Jahre Autos, Omas, Parks Kinder, Bilder, Felder nicht segmental -"ø Vögel, Mütter, Brüder segmental ﹢Umlaut -"e -"er Flöhe, Hände, Bälle Bücher, Lämmer, Löcher Was die Zuweisung der deutschen Pluralallomorphe anbelangt, ist zu sagen, dass sie hauptsächlich auf der Genuszugehörigkeit und/oder dem Auslaut des Substan- tivs basiert. Das Genus bestimmt innerhalb der Auslautregel die folgende Plural- bildung: Feminina wählen generell -(e)n als Pluralmarker, Maskulina und Neutra hingegen -(e). Diese Regel decke „den zentralen, produktiven Bereich der Pluralbil- dung im Kernwortschatz“ ab (Zifonun 2004: 7). 1 Da es in vielen Fällen schwer zwischen Nullmorphem und Nullmarkierung zu unterscheiden ist, wurde das Nullmorphem (wie z.B. der Lehrer – die Lehrer) hier außer Acht gelassen. Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 179 Die Auslautregel wird vorwiegend erreicht durch die komplementäre Verteilung silbischer Pluralsuffixe an finalbetonten Singularformen gegenüber nichtsilbischen Suffixen bzw. Null-Suffixen an Substantiven mit einem Schwa-Auslaut (wie z.B. die Konkurrenz – die Konkurrenzen, die Geschichte – die Geschichten). Die Vorhersagbarkeit, die auf morphophonemischen Eigenschaften basiert, erhöht sich, solange es sich um Derivationssuffixe (wie -ung für Feminina und das Einsetzen des -en als Plural- marker), deren Pluralformen ausnahmslos vorhersagbar sind, handelt. Bei den nicht abgeleiteten Wörtern mit einem Pseudosuffix (-er, -el, -en und -e) ist die Plural- zuweisung auch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Dabei ist bei- spielsweise -el meistens ein Signal für Maskulina und Neutra, während -er und -en ein Signal für Maskulina sind. In beiden Fällen selegieren Wörter das Nullmor- phem als Pluralmarker. Kurze Wörter, die keinen charakteristischen Wortausgang haben, sind die unregelmäßigsten. Einen Sonderstatus hat das Allomorph -s, dessen Zuweisung weder an katego- riale Eigenschaften der Basis noch an eine spezifisch phonologische Umgebung gebunden ist. Dies bezieht sich darauf, dass der Pluralmarker -s sowohl bei nicht assimilierten Lehnwörtern (wie Ketchups, Details), nichtreimenden Kunstwörtern (wie Fnöhks, Pnefs), Nachnamen (wie Meiers, Müllers), Abkürzungen (wie Unis, GmbHs) und Eponymen (wie Fausts, Hamlets) als auch bei Vollvokal (wie Autos, Taxis), Konsonanten (wie Chefs, Streiks), betonten Silben (wie Karussélls, Kartóns) und unbetonten Silben (wie Kóteletts, Apártments) auftreten (vgl. Marcus et al. 1995, zit. n. Sonnenstuhl-Henning 2003: 96). Darüber hinaus ist das Allomorph -s keines- falls genusabhängig. Es führt bei der Pluralbildung auch nicht zur Resilbifizierung und hebt die Auslautverhärtung nicht auf. Dies zeigt sich vorwiegend bei der Plu- ralbildung von Kurzwörtern, Abkürzungen, jungen Lehnwörtern, Eigennamen, Onomatopoetika, Substantivierungen bzw. Wörtern, die auf ihrer letzten Silbe „fremd“ ausgesprochen werden (vgl. Wegener 1995, 1999). So wird der Plural auf -s von manchen Sprachwissenschaftlern auch als Defaultplural oder Notplural, der „immer dann anwendbar [wird], wenn der Zugriff auf eine gespeicherte Form nicht möglich ist“ (Sonnenstuhl-Henning 2003: 96), bezeichnet. Vertreter dieser Behauptung nehmen an, dass der systematische Erwerb2 der substantivischen Plu- ralmarkierungen im Deutschen immer mit dem Erwerb des s-Plurals als Default beginnen würde, was gleichzeitig zur übermäßigen Übergeneralisierung des Defaults führen könnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass die oben genannten Zuweisungsregularitäten zahlreiche Ausnahmen aufweisen und in den meisten Fällen lediglich eine Tendenz der Pluralbildung zeigen. Beispielsweise decke die 2 „Systematisch“ bedeutet hier, dass der jeweilige Pluralmarker nicht lediglich als Chunk oder rein zufällig angewendet wird. Beispielsweise konnten die Versuchspersonen in meiner Untersuchung die Pluralform des Wortes Student sehr schnell beherrschen und fast immer fehlerfrei verwenden, weil das Wort Student im Uni-Kontext eine sehr hohe Tokenfrequenz hat. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die Lerner den en-Plural beherrschten, weil sie die Pluralform des Wortes Student möglicherweise lediglich ganzheitlich memorierten. Fei Li 180 Regel „Feminina wählen generell -en als Pluralmarker“ nur 73% der Feminina im gesamten Grundwortschatz ab, während die Maskulina etwa bei 89% der gesamten Fälle und die Neutra nur bei 74% der gesamten Fälle das Pluralallomorph -e wäh- len (vgl. Duden 1995: 240). Dieses Problem schließt hier unmittelbar an: Wenn die Zuweisung des deutschen Plurals so komplex und ausnahmenreich ist, wie erwirbt sie ein (L2-)Lerner? Dabei stellt sich auch die Frage, inwiefern die aus linguisti- schen Analysen resultierenden Ergebnisse mit den Ergebnissen aus psycholinguis- tischen Experimenten übereinstimmen. Beim gesteuerten L2-Lernen stellt sich nicht nur die Frage nach der korrekten Bildung von Pluralformen, sondern auch diejenige, wie die Lerner die Regelhaftigkeiten der Pluralbildung wahrnehmen und als System verinnerlichen. 2.2 Frühe Ergebnisse aus der L1- und L2-Erwerbsforschung Die empirischen Studien aus der L1- und L2-Erwerbsforschung, deren Untersu- chungsgegenstand der Erwerb des deutschen Pluralsystems ist, weisen ein breites Spektrum von Fragestellungen, Methoden und Forschungsergebnissen auf. Wäh- rend viele empirische Studien den (L1- oder L2-)Erwerbsprozess als Untersu- chungsgegenstand (Clahsen et al. 1992, Bittner; Köpcke 1999, Schaner-Wolles 1999, Szagun 2001, Köpcke 1987, Wegener 2005, Christen 2000) wählten, wurde auch eine bestimmte Menge von anderen Studien durchgeführt, die durch Akzep- tanz-Experimente die Natürlichkeit von Pluralformen an Kunstwörtern bei er- wachsenen Muttersprachlern (Marcus et al. 1995), bei deutschsprachigen Kindern (Bartke; Marcus; Clahsen 1995) oder bei erwachsenen Deutschlernern (Hahne; Müller; Clahsen 2006) überprüften, durch Elizitationstechniken die Produktion von Pluralbildungen von monolingual aufgewachsenen deutschen Kindern (Bartke 1998) oder von erwachsenen Deutschlernern (Ković; Westermann; Plunkett 2008) untersuchten, in Reaktionszeitstudien den Einfluss der Inputfrequenz auf unter- schiedliche Plurale nachwiesen (Sonnenstuhl; Huth 2002) oder mithilfe neuer bild- gebender Verfahren die physiologische und neuroanatomische Evidenz für die mentale Repräsentation der monologischer Flexion erbrachten (Penke; Krause 2002). Die vielfältig gestalteten empirischen Untersuchungen in der L1- und L2- Erwerbsforschung liefern eine Menge von widersprüchlichen Ergebnissen. Im Rahmen der L1-Erwerbsforschung liegt die Übereinstimmung im Folgen- den: Erstens ist die Nullmarkierung der am häufigsten auftretende Fehlertyp bei L1-erwerbenden Kindern, und nicht etwa die anderen produktiven Fehlertypen wie die Übergeneralisierung oder die Doppelmarkierung. Dies deutet darauf hin, dass fehlendes Bewusstsein hinsichtlich der funktionalen Differenzierung zwischen Singular und Plural und/oder mangelnde Automatisierung die wichtigsten Ursa- chen der lernersprachlichen Fehler sind. Zweitens zeigen der Erwerb der regulären, hochfrequenten, transparenten Pluralmarker und der Erwerb der irregulären, nied- rig frequenten, intransparenten Pluralmarker deutliche Unterschiede. Dabei wird Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 181 der Erwerb des er-Plurals generell als Ergebnis der ganzheitlichen Speicherung der jeweiligen Wortform angesehen. Die wichtigste Kontroverse zwischen den Unter- suchungsergebnissen zeigt sich in den verschiedenen Status des en- und des s- Plurals. Während manche Forscher (Clahsen et al. 1992, Bartke 1998) eine über- mäßige Übergeneralisierung des s-Plurals beobachteten, fanden andere Sprachwis- senschaftler keine übermäßige Übergeneralisierung des s-Plurals (Bittner; Köpcke 1999, Schaner-Wolles 1999), oder zumindest keine kategorien- und phonologieun- abhängige Übergeneralisierung des s-Plurals heraus (Szagun 2001). Im Unterschied dazu wurde in den Daten der Letzteren der (e)n-Plural, der im Sprachinput eine hohe Type- und Tokenfrequenz hatte, am häufigsten überproportional übergenera- lisiert. Ähnlich wie beim L1-Erwerb ergaben sich bei den Untersuchungen im L2- Erwerb auch unterschiedliche Ergebnisse. Während manche Sprachwissenschaftler (Hahne; Müller; Clahsen 2006) den Sonderstatus des s-Plurals bei erwachsenen Deutschlernern mit Russisch als Muttersprache herausfanden, zeigten die Ver- suchspersonen anderer Studien (Köpcke 1987, Wegener 2005, Christen 2000) kei- ne Bevorzugung des s-Plurals. Im Unterschied zu den Ergebnissen aus der L1- Erwerbsforschung ist eins bei der L2-Erwerbsforschung aber klar, nämlich dass (mindestens) in bisherigen L2-Erwerbsstudien mit Spontandaten keine überpro- portional häufige Übergeneralisierung des Pluralmarkers -s herauszufinden war. Selbst wenn das Pluralsuffix -s übergeneralisiert wurde, überschritt sein Übergene- ralisierungsgrad in keinem Fall den des Suffixes -en. Dabei wurde -s vor allem bei fremd auslautenden Lexemen übergeneralisiert. Aber für die Hypothese, dass beim L2-Erwerb nicht der s-Plural, sondern der en-Plural am schnellsten beherrscht und somit am häufigsten übergeneralisiert wird, fehlt bis jetzt wegen der bisherigen geringen Anzahl von empirischen Untersuchungen (nur drei Studien von Köpcke 1987, Wegener 2005 und Christen 2000) noch hinreichende Evidenz. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisherige L1- und L2-Erwerbs- forschung verschiedene, sogar widersprüchliche Evidenz bei der Erforschung des Pluralerwerbs erbrachte. Dies könnte das Ergebnis der unterschiedlichen, oft un- vergleichbaren Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, Methoden und Erklärungs- konzepte der einzelnen Untersuchungen sein, könnte aber auch darauf zurückzu- führen sein, dass der L2-Erwerb biologisch und psychisch anders als der L1-Er- werb verläuft. Dies führt dazu, dass die Ergebnisse aus der L1- und L2-Erwerbs- forschung nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Um eine klare Erklärung dafür zu geben, ist aber noch weitere empirische Evidenz erforderlich. Fei Li 182 3 Empirische Untersuchung 3.1 Ziele der empirischen Untersuchung Diese Untersuchung zielt darauf ab, einen Einblick in den Erwerb des deutschen Pluralsystems durch erwachsene chinesische Lerner in universitären Sprachkursen zu liefern. Dabei sind folgende Aspekte relevant:  Mögliche Fehlertypen in den lernersprachlichen Produkten  Ihre Verteilung in lernersprachlichen Produkten  Mögliche Ursachen für die Fehler 3.2 Versuchspersonen und -materialien Für die empirische Studie wurde eine Gruppe von vier erwachsenen chinesischen Lernern und Lernerinnen herangezogen, die in unterschiedlichen Kursen an der Tongji Universität in Shanghai Deutsch lernten. Die für diese Untersuchung wich- tigen Informationen über die Probanden werden in der unten stehenden Tabelle gegeben. Tab. 2: Informationen über Name, Geschlecht, Alter, Herkunft, vorher gelernte Fremd- sprachen, Kursart, Anzahl und Zeitraum der Datenerhebungen der vier Versuchspersonen Nr. Na- me Ge- schl. Alter Herk. gelernte Fremd- spr. Kurs Anz. der Aufn. Zeitraum der Aufn. 1 ZF w. 22 Jiangxi, Sc. Englisch, Japa- nisch (Grund- kennt- nisse) 2 16 01.08.2010 – 24.05.2011 2 ZYN w. 20 Tian- jin, Nc. Englisch 1 16 23.10.2010 – 14.07.2011 3 CK m. 21 Fujian, Sc. Englisch 3 16 14.11.2010 – 16.07.2011 4 WTC m. 22 Shang- hai, Sc. Englisch 3 16 10.08.2010 – 21.04.2011 Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 183 Die ersten vier Spalten stellen jeweils die Nummer (i), den Namen (ii), das Ge- schlecht (iii, w.: weiblich, m.: männlich) und das Alter der Probanden (iv) dar. Die fünfte Spalte (v) gibt die Herkunft der Probanden an (Sc.: Südchina, Nc.: Nordchi- na). Die sechste Spalte (vi) gibt an, welche anderen Fremdsprachen die Probanden vor dem Deutschlernen gelernt hatten. Außer ZF, die ein Jahr lang im universitä- ren Kontext Japanisch gelernt hatte, hatten alle anderen Probanden nur Englisch im schulischen Kontext gelernt. Die siebte Spalte (vii) bietet Informationen zu den unterschiedlichen Arten von Kursen, die die Probanden besuchten. Dabei wird hier zwischen drei Arten unterschieden: Kurs 1 wurde speziell für die Bachelorstu- denten und -studentinnen im Fach Logistik an der Tongji Universität angeboten; Kurs 2 war für die Masterstudenten und -studentinnen an der Tongji Universität; Kurs 3 wurde von allen Lernwilligen (Studenten oder Berufstätigen) am Studien- kolleg an der Tongji Universität besucht. Bei den drei Arten von Kursen wurden unterschiedliche Lehrmaterialien verwendet und unterschiedliche Progressionen vorgesehen. Die letzten zwei Spalten (viii und ix) zeigen jeweils die Zahl und den Zeitraum der gesamten Datenerhebungen an. Die Daten der Lerner bestanden generell aus zwei Teilen: Der erste Teil war freies Sprechen. Dabei wurden alle Themen, z.B. aktuelle Ereignisse in China oder auf der Welt, Filme, Spiele, kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und China, Familie, Liebe, Freundschaft oder Gewalt diskutiert. Manchmal wurde der Teil des freien Sprechens in Form einer Sprachlernberatung gestaltet. Der zweite Teil war immer aufgabenbasiertes Sprechen.3 Dabei wurde eine sprachliche Aufga- be mit der Verfasserin dieser Arbeit zusammen erledigt. Zu den Aufgaben gehör- ten Computerspiele, Unterschiede in Bildern herausfinden, Geschichtenerzählun- gen oder andere Arten von sprachlichen Spielen. In jedem Gespräch wurden die gesamten Kontexte für alle Pluralallomorphe und die Kontexte für das jeweilige Pluralallomorph gezählt. 3.3 Durchführung und Transkription Die Daten wurden alle zwei bis drei Wochen erhoben. Nur in speziellen Fällen, wie Krankheit oder Semesterferien, wurden Erhebungstermine verschoben. Aber der Zeitraum zwischen zwei aufeinander folgenden Terminen war nicht länger als vier Wochen. Für jeden Lerner stand ein vom Umfang her vergleichbares Korpus zur Verfü- gung. Alle Aufnahmen hatten eine Dauer von 40 bis 90 Minuten. Die Rahmenbe- dingungen und die Hauptbezugspersonen waren in allen Aufnahmen gleich. Unter diesen Voraussetzungen kann man die Daten aller Korpora als vergleichbar be- 3 Da sich manche Versuchspersonen manchmal, insbesondere in der frühen Phase des Deutschler- nens, weigerten, sich im ersten oder zweiten Teil der Gespräche zu äußern, entstanden bei einigen Versuchspersonen Datenlücken. So wurden die gesamten Rohdaten der einzelnen Versuchspersonen hier nicht hinsichtlich der Zweiteilung zwischen der Zeitphase des Spontangesprächs und der Zeit- phase des aufgabenbasierten Gesprächs separat analysiert. Fei Li 184 trachten. Alle Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen und später transkri- biert. Alle Gespräche wurden lautschriftlich transkribiert. Alle Wörter wurden so niedergeschrieben, wie sie ausgesprochen wurden. 3.4 Ergebnisse 3.4.1 Die Verteilung der Produkte in den Ergebnissen Wie Abb. 1 und Abb. 2 zeigen, nimmt der Anteil der richtigen Anwendungen den ersten Platz der gesamten lernersprachlichen Produkte ein (51% nach Token und 49% nach Type), gefolgt von Nullmarkierung (wie z.B. ein Freund – viele *Freund4). An dritter Stelle steht die Übergeneralisierung (wie z.B. ich habe viele *Freunden). Am geringsten trat der Fehlertyp Doppelmarkierung, die nur 1% nach Token/Type der gesamten Produkte ausmacht, bei den vier Versuchspersonen auf (wie z.B. viele *Eiers (bedeutet Eier) sind hier). Abb. 1: Die Verteilung der lernersprachlichen Produkte (nach Token) 4 Das Zeichen * kennzeichnet falsche Wortformen. Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 185 Abb. 2: Die Abbildung der lernersprachlichen Produkte (nach Type) Im Bereich der richtigen Anwendung weist der Pluralerwerb der einzelnen Lerner, wie Tab. 3 und 4 zeigen, die größte Variabilität auf. Am unterschiedlichsten sind die Rangpositionen der Pluralallomorphe -(")er, -s und des Umlautes. Während das Pluralallomorph -s bei ZF nach Token, bei ZYN nach Token und Type die erste Stelle der Rangliste der richtigen Anwendung belegt, steht -s bei WTC nach Token auf dem letzten, und nach Type auf dem vorletzten Platz. Bei CK belegt -s auch einen mittleren oder eher hinteren Platz. Das Pluralallomorph -(")er nimmt generell einen vorderen Platz ein. Eine Ausnahme ist der Erwerb des (")er-Plurals bei ZF, die einen mittleren Platz einnimmt. Variabel ist auch die Position des Umlautes, der generell einen hinteren, manchmal aber einen vorderen Platz besetzt. Tab. 3: Ranglisten der richtigen Anwendungen (nach Token) CK: -(")er > -en > -n > Umlaut > -s > -(")e (87,5%) (65,7%) (59,6%) (53,8%) (52,9%) (50%) ZF: -s > Umlaut > -en > -(")er > -n > -(")e (61,5%) (60,9%) (54,4%) (44,1%) (36,6%) (36,2%) ZYN: -s > -(")er > -en > Umlaut > -(")e > -n (79,4%) (70,2%) (67,7%) (64,3%) (59,3%) (44,7%) WTC: -(")er > -en > -n > -(")e > Umlaut > -s (54,5%) (47,2%) (41,8%) (41,3%) (30%) (27,6%) Fei Li 186 Tab. 4: Ranglisten der richtigen Anwendungen (nach Type) CK: -(")er > -en > -s > -n > Umlaut > -(")e (78,8%) (64,9%) (54,5%) (53,5%) (50%) (46,2%) ZF: Umlaut > -s > -(")er > -en > -(")e > -n (53,8%) (46,2%) (45,5%) (40,7%) (37,1%) (35,2%) ZYN: -s > Umlaut > -(")er > -en > -(")e > -n (77,3%) (75%) (65,5%) (62,3%) (57,1%) (43,3%) WTC: -(")er > -n > -en > -(")e > -s > Umlaut (65,8%) (45,2%) (41%) (39,1%) (38,9%) (28,6%) Die Variabilität der Rangpositionen der Pluralallomorphe -(")er, -s und des Umlau- tes weist darauf hin, dass ihr Erwerb sich auf intentionale, bewusste oder bewusst- seinsfähige kognitive Handlungen oder Teilhandlungen von Individuen bezieht, und nicht universeller Natur ist. In Bezug auf -(")er und Umlaut wird angenommen, dass ihr Erwerb durch lexikalische Speicherung in Form von Auswendiglernen erfolgt. So ist zu vermuten, dass eine hohe Richtigkeitsquote der beiden Plurale eng damit verbunden ist, ob die Lerner die (")er- und Umlaut-Pluralformen ausrei- chend speichern und abrufen können. Um die niedrige Quote der richtigen An- wendung beim s-Plural zu erklären, greift Wegener (2008: 103) auf den intralingua- len phonophonetischen Transfer zurück. Danach beeinflusst die große Menge von Schwa-Pluralformen im Deutschen das Herausbilden von Schemata für s-Plural- formen, was letztendlich dazu führt, dass die Lerner Pluralschemata mit einem Vokal als Auslaut auf die s-Pluralformen übertragen und s-Pluralformen eher sin- gularisch verwenden. Eine andere mögliche Erklärung dafür wäre, dass s-Plural- formen trotz ihrer geringen Anzahl von Typen der trochäischen Wortstruktur des Deutschen mit betonter und nachfolgender unbetonter Silbe nicht entsprechen und daher eher durch Dekomposition als durch ganzheitliche Memorierung im Gedächtnis des Lerners gespeichert werden. So ist der Abrufbarkeit von s-Plural- formen eng mit der Automatisierung der jeweiligen Pluralform verbunden. Ein wichtiger Beleg dafür, dass die Pluralbildung von der trochäischen Wortstruktur profitiert, ist, dass der Umlaut bei (")er-Pluralformen in meiner Daten nicht selten ausgelassen wurden (wie *Worter, *Hauser, *Glasser (bedeutet Gläser), *Lander). Dies zeigt, dass in vielen Fällen nicht die ganzen (")er-Pluralformen, sondern ausschließ- lich die trochäischen er-Pluralformen ganzheitlich memoriert wurden. Meine Un- tersuchung legt auch nahe, dass der Erwerb des s-Plurals von der Frequenz beein- flusst wird. Dies zeigt sich dadurch, dass s-Pluralformen mit einer niedrigen Fre- quenz (wie Akkordeons) in den Daten generell nicht overt markiert wurden, wäh- rend hochfrequente s-Pluralformen (wie Autos) meist richtig markiert wurden. Relativ stabil sind die Rangpositionen von -en, -n und -(")e. Dabei steht -en gene- rell vor -n und -(")e, und -n meistens vor -(")e. Dies stimmt mit der Behauptung Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 187 überein, dass der Erwerb dieser drei Pluralallomorphe bestimmten Regelhaftigkei- ten unterliegt. Die Nullmarkierung (s. Tab. 5 und 6) ist bei allen Lernern der am häufigsten vorkommende Fehlertyp. Selbst bei Nomen mit Derivationssuffixen oder Vollvo- kalen als Auslaut, die deutliche Anzeiger des en- oder des s-Plurals sind, wurden die Pluralformen von den Lernern oft nicht overt markiert. Dies weist darauf hin, dass man beim Pluralerwerb zwischen Erwerb als Funktion und Erwerb als Formen- wissen unterscheiden muss. Während es sich beim Ersteren um die (nicht) overte Markierung der Pluralform handelt, geht es beim Letzteren um die Frage, ob das zielsprachengerechte Pluralallomorph bei Pluralbildungen ausgewählt wird. Tab. 5: Ranglisten der Nullmarkierungen (nach Token) CK: -s > -n > -en > Umlaut > -(")e > -(")er (47,1%) (35,1%) (33,3%) (30,8%) (22,6%) (6,8%) ZF: -n > -s > -(")e > Umlaut > -en > -(")er (60,2%) (51%) (46%) (39,1%) (38,6%) (23,5%) ZYN: -n > Umlaut > -en > -(")e > -s > -(")er (51%) (35,7%) (27,8%) (27,6%) (20,6%) (15,7%) WTC: -s > Umlaut > -n > -en > -(")e > -(")er (72,4%) (70%) (55,7%) (48,1%) (37,8%) (31,2%) Tab. 6: Ranglisten der Nullmarkierungen (nach Type) CK: -s > -n > -en > -(")e > Umlaut > -(")er (45,5%) (40,4%) (35,1%) (25,4%) (25%) (13,5%) ZF: -n > -s > -(")e > -en > Umlaut > -(")er (60%) (53,8%) (50,8%) (45,8%) (38,5%) (27,3%) ZYN: -n > -en > -(")e > Umlaut > -s > -(")er (50,4%) (29,9%) (27,1%) (25%) (22,7%) (19%) WTC: Umlaut > -s > -en > -(")e > -n > -(")er (71,4%) (61,1%) (59%) (54,7%) (51,2%) (23,7%) Die Ranglisten der Nullmarkierungen bei den vier Lernern weisen viele Ähnlich- keiten auf. Abgesehen vom Umlaut nach Type bei WTC wurde entweder -s oder -n am häufigsten nicht overt markiert. Die hohe Quote der Nullmarkierung beim Erwerb des s-Plurals deutet darauf hin, dass der s-Plural trotz der Eindeutigkeit der Regel für den s-Plural den Lernern wegen seiner geringen Typefrequenz und Si- gnalstärke Schwierigkeiten bereitet. Die Ursache der hohen Quote der Nullmarkie- rung beim n-Plural liegt in der Konkurrenz zwischen n- und e-Plural. Viele Singu- Fei Li 188 larformen, die mit -n pluralisiert werden sollten (wie Stunde, Straße), blieben in den Daten in Pluralkontexten singularförmig. Die höchste Übereinstimmung zeigt die Rangposition des (")er-Plurals, der bei allen Lernern an letzter Stelle steht. Wie bereits erklärt, geht die niedrige Quote der Nullmarkierung beim Erwerb des (")er- Plurals auf die ganzheitliche Memorierung von (")er-Pluralformen zurück. Sehr große Übereinstimmung gibt es bei den Ranglisten der falschen Anwen- dung (s. Tab. 7 und 8). Abgesehen vom Umlaut bei CK wurden bei allen Lernen- den entweder -(")e oder -(")er am häufigsten durch andere Pluralsuffixe ersetzt. Dies geht wahrscheinlich auf die Unklarheit der Pluralzuweisung bei Nomen ohne deut- liche Endung als Anzeiger der Pluralbildung zurück. Davon sind die meisten ein- silbige Wörter. Das Pluralallomorph -s wurde bei allen Lernern nie durch andere Pluralallomorphe ersetzt. Niemals haben die Lerner Fehler wie *Autoen, *Unie, die den deutschen Silbenstrukturen nicht entsprechen, gemacht. Kaum wurde der Umlaut falsch verwendet. Nur bei CK wurde der Umlaut oft mit -n oder -en kom- biniert, um die Pluralform doppelt zu markieren (wie *Blätten (bedeutet Blätter), *Vögen (bedeutet Vögel)). Selten wurden -en und -n durch andere Pluralallomorphe ersetzt. Die Ursache liegt wahrscheinlich in der Klarheit der Pluralzuweisung bei en- und n-Pluralformen. Tab. 7: Ranglisten der falschen Anwendungen (nach Token) CK: -(")e > Umlaut > -(")er > -n > -en > -s (27,4%) (15,7%) (5,7%) (5,3%) (1%) (0%) ZF: -(")er > -(")e > -en > -n > Umlaut/-s (32,4%) (17,7%) (7%) (3,2%) (0%) ZYN: -(")er > -(")e > -en > -n > Umlaut/-s (14%) (13,1%) (4,5%) (4,3%) (0%) WTC: -(")e > -(")er > -en > -n > Umlaut/-s (20,9%) (14,3%) (4,7%) (2,5%) (0%) Tab. 8: Ranglisten der falschen Anwendungen (nach Type) CK: -(")e > Umlaut > -(")er > -n > -en/-s (28,5%) (25%) (7,7%) (6%) (0%) ZF: -(")er > -en > -(")e > -n > Umlaut/-s (27,3%) (13,6%) (12,1%) (4,8%) (0%) ZYN: -(")e > -(")er > -en > -n > Umlaut/-s (15,7%) (15,5%) (7,8%) (6,3%) (0%) WTC: -(")e > -(")er > -n > -en/Umlaut/-s (21,9%) (10,5%) (3,6%) (0%) Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 189 3.4.2 Zu den Übergeneralisierungen Was die Übergeneralisierung anbelangt, ist bei allen Lernern gleichermaßen festzu- stellen, dass das Pluralallomorph -en für Pluralbildungen ganz offensichtlich bevor- zugt wurde. Dabei wurden en-Übergeneralisierungen und richtige Pluralformen, die normalerweise einen e-Plural verlangten, oft parallel gebraucht. Dieses parallele Anwenden dauerte bei allen Lernern bis zum Ende der Datenerhebung. Abgese- hen von CK, bei dem das Pluralsuffix -s kaum übergeneralisiert wurde, wurde -s bei den anderen drei Lernern auch häufig übergeneralisiert. Die Pluralallomorphe -(")e, -n und Umlaut wurden bei allen Lernenden nur in vereinzelten Fällen übergenerali- siert. Dabei entstanden die (")e-Übergeneralisierungen oft bei Nomen mit einem Konsonanten als Auslaut (wie *Persone), die n-Übergeneralisierungen bei Nomen mit einem Schwa als Auslaut (wie *Kinden, Singularform: *Kinde). Neben der Über- generalisierung des Umlautes als des einzigen Pluralmarkers (wie *Kätze) war die Kombination von Umlaut und -(e)n (wie *Blätten, *Vögen, *Hösen, *Öhren, *Äffen) in den Daten auch zu beobachten. Dies würde des Weiteren bedeuten, dass die Ler- ner dazu neigten, durch eine Doppelmarkierung die Pluralzuweisung zu garantie- ren. Das Pluralsuffix -(")er wurde am meisten richtig markiert und bei allen Ler- nenden nie übergeneralisiert. Dies bestätigt noch einmal die Behauptung, dass die Lerner bei der Bildung des (")er-Plurals keinen klaren Regeln folgen und sich eher auf Auswendiglernen stützen. Eine wichtige Besonderheit ist dabei, dass sich die Lerner trotz ihrer unter- schiedlichen Kompetenzniveaus beim Pluralerwerb in Bezug auf die Anzahl von falschen Anwendungen und von Übergeneralisierungen nicht stark voneinander unterschieden. Tab. 9: Die Quote der richtigen Anwendungen, der Nullmarkierungen, der falschen An- wendungen und die absolute Zahl der Übergeneralisierungen bei den einzelnen Versuchs- personen Quote der richtigen A. (Token/ Type) Quote der Nullm. (Token/ Type) Quote der falschen A. (Token/ Type) Anzahl der Überg. (Token/ Type) CK 61,2%/56,3% 27%/31,3% 11,8%/13,3% 51/34 ZYN 59,5%/56,5% 32,3%/33,1% 8,2%/10,4% 44/37 WTC 43,3%/43,8% 45,6%/45,8% 11,1% 10,4% 58/34 ZF 41,8%/39,1% 45,5%/47% 12,7%/11,1% 100/55 Wie Tab. 9 zeigt, weichen die Anzahl der Übergeneralisierung und die Quote der falschen Anwendung bei den einzelnen Lernern mit Ausnahme von ZF, bei der viele s-Übergeneralisierungen internationale Wörter und viele e-Übergeneralisie- Fei Li 190 rungen auf das Anfügen des Sprossvokals -e ans Wortende zurückzuführen waren,5 nicht stark voneinander ab, obwohl der Beherrschungsgrad des Pluralerwerbs so- wie die Quote der Nullmarkierung bei den einzelnen Lernern deutlich unterschied- lich sind (s. Tab. 3-6). Selbst fortgeschrittene Lerner wie CK machten eine Vielzahl von Übergeneralisierungsfehlern. Dieses Phänomen bestätigt noch einmal eine gängige Behauptung im L2-Erwerb, dass produktive, kreative Fehler ein wichtiger Anzeiger der aktiven, bewussten und selbstreflexiven Auseinandersetzung des Lerners mit Lernstoff und unvermeidbar sind. Eine eingehende Analyse der Über- generalisierungen der einzelnen Lerner zeigt, dass die vier Lerner mit unterschiedli- chen Kompetenzniveaus im Bereich des Pluralerwerbs unterschiedliche Plurala- llomorphe übergeneralisierten. Tab. 10 verweist darauf, dass die Anzahl von en-Übergeneralisierungen vom Lerner CK, der in meiner Untersuchung das deutsche Pluralsystem am besten beherrschte, bis zur Lernerin ZF, die in meinen Daten am schlechtesten abschnitt, eine sinkende Tendenz zeigt, während die Anzahl von s-Übergeneralisierungen eine umgekehrte Tendenz aufweist. Dabei waren ein großer Anteil der s-Übergene- ralisierungen internationale Wörter (*Assistens, *Problems, *Komputers) oder reimten sich auf ihre englischen Entsprechungen oder irgendein englisches Wort (*Worts, *Dings, *Italiennudels, *Kartes, *Eis). In diesem Zusammenhang ist zu vermuten, dass fortgeschrittene Lerner eher Strategien wie intralinguale Regelgeneralisierung be- nutzen, während sich weniger fortgeschrittene Lerner wegen mangelnden L2- Wissens oft an interlinguale Hilfsmittel wenden. Tab. 10: Die Übergeneralisierung verschiedener Pluralallomorphe bei den einzelnen Ler- nern (in Prozent und in absoluten Zahlen) -en Token/ Type -s Token/ Type -(")e Token/ Type -n Token/ Type Umlaut Token/ Type CK 43/29 (84%/85%) 1/1 (2%/3%) 1/1 (2%/3%) 2/1 (4%/3%) 4/2 (8%/6%) ZYN 22/18 (50%/49%) 15/12 (34%/32%) 3/3 (7%/8%) 1/1 (2%/3%) 3/3 (7%/8%) WTC 27/17 (47%/50%) 18/14 (31%/41%) 5/1 (9%/3%) 6/1 (10%/3%) 2/1 (3%/3%) 5 Da das Chinesische ein relativ beschränktes Inventar an phonotaktisch möglichen Silben hat und seinen Auslaut in den meisten Fällen mit einer offenen Silbe bildet, wird oft ein sog. „Sprossvokal“ bei der Artikulation in Konsonantenhäufungen eingefügt (wie *Pe.fe.lichte statt Pflicht), um phonotak- tisch aus chinesischer Sicht mögliche Silben zu bilden. Die verwendeten Sprossvokale seien meist [ə], manchmal [ɔ] oder [ʊ] (vgl. Wang 1988: 78f., Hunold 2009: 75). Dies erkläre auch, warum deutsche Wörter von chinesischen Lernern oft getrennt in Silben gelesen und ausgesprochen werden, etwa *be.leg.en statt belegen, oder *ge.ling.en statt gelingen (vgl. Wang 1988: 78). Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 191 -en Token/ Type -s Token/ Type -(")e Token/ Type -n Token/ Type Umlaut Token/ Type ZF 33/15 (33%/27%) 39/19 (39%/35%) 24/17 (24%/31%) 2/2 (2%/4%) 2/2 (2%/4%) 3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in meiner Untersuchung hochfrequente Formen früher als niederfrequente Formen, transparente, trochäische, durch Suffi- xe markierte Formen früher als intransparente, nicht trochäische, durch Wurzelfle- xion erfolgte Formen erworben wurden. Dabei wurde das Pluralsuffix -en, aber nicht das Suffix -s, am häufigsten übermäßig übergeneralisiert. Die Antwort auf die Frage, ob das Pluralsuffix -s auch überproportional übergeneralisiert wurde, hing vom Niveau der Versuchspersonen in der L2 ab. Während fortgeschrittenere Ler- ner wie CK lediglich das Pluralsuffix -en übermäßig übergeneralisierten, übernutzen weniger fortgeschrittene Lerner wie ZF neben der überproportionalen Übergene- ralisierung des Pluralsuffixes -en auch das Pluralsuffix -s, was auf das strategische Anwenden von internationalen Wörtern zurückzuführen war. 3.6 Didaktische Implikationen Basierend auf den Untersuchungsergebnissen werden vier Typen der Pluralzuwei- sungsregeln jeweils mit bei diesem Typ am häufigsten vorkommenden Fehlern zusammengefasst. Tab. 11: Die phonologieorientierten Zuweisungsregeln des deutschen Pluralsystems Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 -en -(")e -en -n -s -"er -(")ø Anmerkung: Der Stamm vieler e- Pluralformen wird umge- lautet wie Hände, Bäume, Hähne. Anmerkung: Dazu gehören auch einige Nomen auf Pseudosuffixe -er/el wie Schultern, Muskeln, Nudeln; Ausnahmen: Präfix- bildungen mit Ge- (Getriebe, Gebirge); Einzelfall: Käse. Anmerkung: Dazu gehören auch Eigenna- men, nominali- sierte Phrasen, Konjunktionen und Abkürzun- gen wie Meiers, Abers, GmbHs. Anmerkung: Dazu gehören auch manche Nomen auf Pseudosuffixe -el/en wie Vögel, Gärten. Ausnahmen: Der Stamm mancher Nomen auf Pseu- dosuffix -er wird nicht umgelautet wie Hocker, Pullover. Fei Li 192 Typ 1 erfasst en-Pluralformen ohne feminine Derivationssuffixe und "e-Pluralfor- men, die traditionell nicht anhand vom Auslaut erklärt werden können. Dazu ge- hören auch die schwachen Maskulina. Da die Strukturen der Singularformen der beiden Plurale einander ähnlich sind, hilft die gemeinsame Behandlung der beiden Plurale, durch kontrastive Analysen ihre gegenseitige Übergeneralisierung zu ver- meiden. Nach Typ 2 können alle Singularformen mit femininen Derivationssuffi- xen und auf Schwa auslautende Singularformen beschrieben werden. Zu Typ 3 gehören alle s-Pluralformen, deren Singularformen vollvokalisch auslauten oder Fremd- bzw. Lehnwörter sind. Typ 4 fasst den "(er)-Plural zusammen. Da der Um- laut beim er-Plural immer gebildet wird, wenn er möglich ist, wird hier nicht zwi- schen -er und -"er differenziert. Wenn Singularformen schon auf Pseudosuffix -er auslauten, wird der Stamm oft – insbesondere bei hochfrequenten Wörtern – um- gelautet wie Mütter, Väter, Brüder, Töchter. Die am häufigsten vorkommenden Fehler bei den vier Pluraltypen lassen sich wie folgt tabellarisch darstellen: Tab. 12: Die typischen Fehler beim Erwerb des deutschen Pluralsystems Nullm. Überg. Ersetzung Doppelm. Typ 1 + + + (+) Typ 2 + (+) (+) Typ 3 + + Typ 4 (+) (+) (+) Bei Typ 1 tritt der Fehlertyp der Nullmarkierung sowohl beim en-Plural als auch beim (")e-Plural oft auf. Dabei wird das Pluralallomorph -en oft auf Singularformen, deren Pluralformen mit -(")e gebildet werden, übergeneralisiert. In vereinzelten Fällen kommt auch die umgekehrte Übergeneralisierung vor. Bei Typ 2 und Typ 3 tritt vor allem auch der Fehlertyp der Nullmarkierung auf. Während das Plurala- llomorph -n in vereinzelten Fällen bei Singularformen auf Pseudosuffix -el/-er übergeneralisiert wird, wird das Pluralallomorph -s oft auf Nomen ohne Derivati- onssuffix oder ohne Schwa-Laut übergeneralisiert. Beim letzten Typ treten am seltensten Fehler auf. In Fällen, in denen die (")er-Pluralformen nicht genügend automatisiert werden, werden die (")er-Pluralformen singularisch verwendet oder durch die Übergeneralisierung der Pluralsuffixe -en oder -s ersetzt. Bei Typ 1, 2 und 4 sind Doppelmarkierungen auf -(e)ns, -es oder -ers in vereinzelten Fällen zu beob- achten. Untersuchung des Erwerbs der deutschen substantivischen Pluralmarkierungen 193 Literatur Bartke, Susanne (1998): Experimentelle Studien zur Flexion und Wortbildung. Pluralmor- phologie und lexikalische Komposition im unauffälligen Spracherwerb und im Dysgramma- tismus. Tübingen: Niemeyer. Bartke, Susanne; Marcus, Gary F.; Clahsen, Harald (1995): Acquiring German Noun Plurals. In: Proceedings of the 19th Annual Boston University Conference on Lan- guage Development 1, 60-69. Bittner, Dagmar; Köpcke, Klaus-Michael (1999): Acquisition of the German Plural Markings. A Case Study in Natural and Cognitive Morphology. In: Schaner- Wolles, Chris; Rennison, John; Neubarth, Friedrich (Hrsg.): Naturally! Linguis- tics Studies in Honour of Wolfgang Ulrich Dressler Presented on the Occasion of his 60th Birthday. Torino: Rosenberg & Sellier, 47-58. Christen, Helen (2000): „Hünde und Kätze“ – Der Erwerb der substantivischen Pluralmarkierungen. 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Die Schwierigkeit besteht darin, dass in deut- schen Artikelwörtern einerseits verschiedene grammatische Kategorien (Genus, Kasus, Numerus) fusionieren und sie andererseits auch die Funktion übernehmen, Nomen auf semantisch-pragmatischer Ebene zu determinieren. Die Funktionen von Artikelwörtern sind insbesondere für Lerner artikelloser Erstsprachen schwer zu erschließen, da die von ihnen symbolisierten grammatischen Funktionen in den 1 Ich bedanke mich bei Anke Michel, die die diesem Beitrag zugrunde liegenden Daten ausführlich mit mir diskutiert hat. Für wertvolle Hinweise zur Determination im Russischen und Türkischen dan- ke ich den TeilnehmerInnen des Linguistischen Kolloquiums der Universität Bamberg am 07.05.2014 sowie Jana Gamper und Zeynep Kalkavan-Aydin. Andreas Bittner gilt Dank für die gemeinsame Besprechung einer früheren Version dieses Beitrags. Anja Binanzer 196 Erstsprachen der Lerner (sofern vorhanden) i.d.R. durch andere sprachliche Mittel gekennzeichnet werden. Ein Transfer aus der Erstsprache ist nicht oder nur einge- schränkt möglich. Im vorliegenden Beitrag werden schriftsprachliche Daten von Grundschulkin- dern mit den Erstsprachen Türkisch und Russisch in der Zweitsprache Deutsch im Hinblick auf die Verwendung von Indefinit- und Definitartikeln ausgewertet. Die empirischen Analysen zeigen, dass die Probanden in Abhängigkeit von ihrer Erst- sprache mehr oder minder Schwierigkeiten im Erwerb der Kennzeichnung defini- ter und indefiniter Referenz in der Zweitsprache aufweisen. Anhand der ziel- sprachlichen und nicht-zielsprachlichen Verwendungen werden didaktische Über- legungen zur Vermittlung der Verwendungsweisen von Indefinit- und Definitarti- keln angestellt. Zum einen können für Sprecher beider Gruppen Lernwege für den Erwerb von indefiniter und definiter Referenz anhand von in der Zielsprache vor- zufindender schematischer Geschichtenanfänge wie „Es war einmal …“ erschlossen werden. Zum anderen werden für die Sprecher des Türkischen zudem Transfer- möglichkeiten aus der Erstsprache mit einbezogen, wodurch für diese Lernergrup- pe auch ein kontrastiv basierter Vermittlungsweg sichtbar wird. 2 Determination im Deutschen, Türkischen und Russischen Im Deutschen kann der Sprecher durch die Verwendung verschiedener Artikel- wörter dem Hörer gegenüber indizieren, ob der durch das Artikelwort determinier- te Begriff im gemeinsamen Diskurs als unbekannt oder bekannt angenommen wird (Hentschel; Weydt 2013: 213). Zur Einführung unbekannter Referenten (2a) ver- wendet er dazu Indefinitartikel, zur Fortführung bekannter Referenten Definitarti- kel (2b).2 2. a. Dort läuft eine Katze. b. Die Katze jagt eine Maus. c. Eine Katze jagt eine Maus. Der Definitartikel in (2b) indiziert, dass es die Katze aus (2a) ist, die eine Maus jagt. Folgte auf (2a) (2c) müsste angenommen werden, dass es sich um eine für den Hörer unbekannte, bisher noch nicht in den Diskurs eingeführte Katze handelt. Weder das Türkische noch das Russische verfügt über Determinationsmittel wie sie im Deutschen durch die Opposition der Artikelwörter wie in (2) illustriert gegeben sind. In beiden Sprachen ist das Kontextwissen ausschlaggebend, aus dem der Determinationsgrad der Referenten erschlossen wird. Dennoch gibt es zur Kennzeichnung von Indefinitheit und Definitheit auch syntaktische, morphologi- sche, prosodische und lexikalische Mittel. Einen zusammenfassenden Überblick 2 Auf weitere Verwendungsweisen von Artikelwörtern wie z.B. generische Verwendungen oder spezi- fischer und nicht-spezifischer Gebrauch sei an dieser Stelle verwiesen, ihr Erwerb wird in diesem Beitrag aber nicht besprochen. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 197 über diese verschiedenen sprachlichen Mittel gibt Tab. 1 (eigene Darstellung basie- rend auf den Ausführungen zum Türkischen von Hansen 1995, Selmani 2011 und Bassarak; Jendraschek 2004, zum Russischen von Gladrow 1979, 2001, Kovtun 2003, Leiss 1994 und Jachnow 2004). Lexikalische Mittel sind in beiden Sprachen durch adjektivisch verwendbare Pronomen gegeben. Als lexikalisches Äquivalent zu deutschen Artikeln kann im Türkischen das Zahlwort bir in adjektivischer Verwendung gewertet werden, das wie im Deutschen als Indefinitartikel fungieren kann (vgl. Hansen 1995: 32). In der von Hansen durchgeführten Studie zu Übersetzungen aus dem Deutschen ins Türkische wird der deutsche Indefinitartikel ein tatsächlich in 72% der Fälle durch bir wiedergegeben (Hansen 1995: 54). Gladrow (1979: 239) bestimmt für das Russische unter den Indefinitpronomen odin als das dem deutschen Indefinitartikel ein adäquateste lexikalische Mittel zur Kennzeichnung von Indefinitheit, die Satzstellung und Satzintonation nehmen jedoch „einen zentralen Platz im Gesamtsystem der formellen Mittel zur Widerga- be der Determination“ (Gladrow 1979: 240) ein, die dann von lexikalischen oder pronominalen Mitteln unterstützt bzw. überlagert werden können. Tab. 1: Sprachliche Mittel der Determination im Türkischen und Russischen Türkisch Russisch prosodisch  Satzakzent syntaktisch  Wortstellung morphologisch  Akkusativ -(y)i  derivierte Adjektive auf -ki  Possessivsuffixe  Akkusativ/Genitivalternation  Verbalaspekt lexikalisch  Zahlwort bir  Demonstrativpronomen  Indefinitpronomen  Demonstrativpronomen  Possessivpronomen 3 Artikelverwendungen im sukzessiven DaZ-Erwerb Kaltenbacher; Klages (2006), Kostyuk (2005), Lemke (2008), Marouani (2006), Montanari (2010) und Wegener (1995) dokumentieren bei ihren kindlichen Ler- nern unterschiedlicher Erstsprachen im Vor- und Grundschulalter, dass der Inde- Anja Binanzer 198 finitartikel vor dem Definitartikel erworben wird.3 Sobald aber neben indefiniten auch definite Artikelformen verwendet werden, sind die Lerner schnell in der Lage, die unterschiedlichen Artikeltypen auf semantisch-pragmatischer Ebene zur Kenn- zeichnung von indefiniter und definiter Referenz zu nutzen. Die flexionsmorpho- logisch unterschiedlichen Ausprägungen nach Genus, Kasus und Numerus bleiben in dieser Phase noch unberücksichtigt bzw. unanalysiert. Der Phase der Artikel- verwendung geht eine Phase voran, in der Nomen in obligatorischen Kontexten noch keine Artikel vorangestellt werden. Erst in einem zweiten Schritt wird die eingliedrige Nominalgruppe (NGr) um ein Artikelwort erweitert und das Schema der zweigliedrigen NGr [DET+NOMEN] etabliert. Die von der Zielsprache abweichenden Artikelverwendungen (auf semantisch- pragmatischer Ebene) lassen sich durch folgende Befunde zusammenfassen: Paral- lel zur Verwendung zweigliedriger NGr sind zuweilen auch noch artikellose NGr zu verzeichnen (Kaltenbacher; Klages 2006, Jeuk 2006, Montanari 2010). Jeuk (2006, 2008) beobachtet dies häufiger bei Kindern, deren Erstsprachen artikellose Sprachen sind, als bei Kindern, deren Erstsprachen Artikelsprachen sind. Lemke (2008: 244) kommt zwar zu dem Ergebnis, dass alle seine Probanden unabhängig von der Erstsprache bereits nach kurzer Kontaktdauer mit dem Deutschen als Zweitsprache „sehr früh […] erkennen“, in welchen Kontexten Artikel obligato- risch verwendet werden müssen. Dennoch vermutet Lemke bei seinem Probanden mit englischer Erstsprache aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit der deutschen und englischen NGr einen positiven Transfer aus der Erstsprache, da dieser Pro- band die Verwendung obligatorischer Artikelwörter schneller als die Kinder mit türkischer, russischer oder arabischer Erstsprache beherrscht (Lemke 2008: 243). Bei seinem Probanden mit türkischer Erstsprache stellt Lemke zudem einen hohen Anteil fehlender obligatorischer Artikelwörter in Akkusativkontexten fest (Lemke 2008: 193), während diese in Nominativkontexten kaum noch fehlen. Zu einem anderen Ergebnis kommt Montanari (2010: 160), da sie zwischen ihren 15 Proban- den mit verschiedenen, auch artikellosen Erstsprachen, keine Unterschiede (mehr) feststellt. Ihre Probanden sind allerdings schon im Alter von fünf bis sechs Jahren und weisen eine mindestens zweijährige Kontaktdauer mit dem Deutschen auf. In Gesprächskontexten, in denen Narrationen nach Abbildungen durch kindli- che DaZ-Lerner elizitiert wurden, beobachten Montanari (2010) und Kalkavan (2012) außerdem eine Übergeneralisierung des Definitartikels zur Einführung un- bekannter Referenten. Dies führen beide Autorinnen jedoch auf die für Hörer und Sprecher gemeinsame visuelle Perzipierbarkeit der Referenten auf den Abbildun- gen zurück, infolgedessen die Referenten auf den Bildern den Gesprächspartnern gegenüber als bekannt vorausgesetzt werden können. 3 Diese Erwerbsreihenfolge wird auch im monolingualen Erstspracherwerb beobachtet (vgl. z.B. Be- wer 2004, Bittner 1998, Mills 1986, Schlipphak 2008, Szagun et al. 2007). Abgesehen vom Zeitpunkt, ab dem Artikel verwendet werden (DaM zwischen 1,6 und 2,0 Jahren und DaZ je nach Zweitsprach- kontaktbeginn entsprechend später), kann die Erwerbsreihenfolge artikellose NGr > indef. Artikel > def. Artikel für Erst- als auch Zweitsprache als identisch beschrieben werden. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 199 Die Ergebnisse der genannten Studien zum Artikelerwerb in der Zweitsprache Deutsch eröffnen verschiedene Überlegungen für meine nachfolgende Datenaus- wertung: 1. Die meisten der genannten Studien treffen Aussagen über Kinder im Vorschulalter. Die Probanden der vorliegenden Studie befinden sich bereits im Alter von sieben bis neun Jahren und weisen eine längere Kontaktdauer mit der Zweitsprache Deutsch auf. Es stellt sich deshalb erstens die Frage, ob auch in diesem Alter noch Artikelelisionen zu be- obachten sind. 2. Die zitierten Studien zeigen, dass die unterschiedlichen Artikeltypen im Sinne der Form-Funktionszuschreibung ,Indefinitartikel = unbekann- ter Referent‘ und ,Definitartikel = bekannter Referent‘ bereits nach re- lativ kurzer Kontaktdauer mit der Zweitsprache Deutsch zielsprachlich verwendet werden. Den oben genannten Studien liegen hauptsächlich mündliche Gesprächskorpora zugrunde, während das Datenkorpus dieser Studie schriftbasiert ist. Deshalb wird zweitens danach gefragt, ob DaZ-Lerner auch bei der schriftlichen Textproduktion, bei der „die unterstützende Funktion des situativen und sozialen Kontexts“ (Ott 2006: 199) entfällt, die unterschiedlichen Artikeltypen im Sinne der ge- nannten Form-Funktionszuschreibung verwenden. 3. Es gibt Hinweise darauf, dass Lerner artikelloser Erstsprachen größere Schwierigkeiten in der Artikelverwendung aufweisen als Lerner mit Ar- tikelsprachen als Erstsprachen. Spezifische Unterschiede in Abhängig- keit der konkreten artikellosen Erstsprache der Lerner werden nicht immer detailliert besprochen. Hier wird deshalb drittens danach ge- fragt, ob zwischen Kindern mit türkischer und russischer Erstsprache differenzierter zu beschreibende Unterschiede in der Artikelverwen- dung auszumachen sind. 4. Viertens wird untersucht, welche Rolle formelhafte Einleitungen spie- len, wie sie beispielsweise in Märchen vorkommen (Es war einmal …). Durch die Verwendung eines solchen lexikalisierten Textmusters wird nicht nur auf semantisch- pragmatischer Ebene ein noch nicht näher bestimmter Kontext für das zu erzählende Geschehen eröffnet, son- dern auch eine bestimmte grammatische Struktur, d.h. eine durch einen Indefinitartikel eröffnete NGr, eingefordert. Auch das in dem schema- tischen Geschichtenanfang enthaltene unpersönliche „es“ indiziert zu- sätzlich die Unbestimmtheit des noch zu konstituierenden narrativen Settings. Damit sind durch die Formel „Es war einmal …“ unabhängig vom Kontextwissen Hinweise darauf gegeben, dass die Referenten in der Zielsprache indefinit eingeführt werden müssen. Es gilt zu prüfen, ob DaZ-Lerner in schriftlichen Kontexten solche Formeln und in Ab- Anja Binanzer 200 hängigkeit davon häufiger Indefinitartikel verwenden als bei Texteröff- nungen ohne derartige formelhafte Einleitungen. 4 Probanden und Testdesigns Zur Untersuchung der genannten Fragen wurden drei Probandengruppen aus dritten und vierten Klassen fünf verschiedener Grundschulen in NRW getestet. Die drei Gruppen weisen unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen auf: Eine Probandengruppe setzt sich aus 14 Kindern mit türkischer Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache zusammen. Die zweite DaZ-Gruppe besteht aus 24 Kindern mit russischer Erstsprache. Als Kontrollgruppe fungierte eine aus zehn Kindern bestehende monolingual Deutsch sprechende Gruppe. Von den Probanden der beiden DaZ-Gruppen wurde mit dem C-Test4 der all- gemeine Sprachstand in der Zweitsprache Deutsch ermittelt. Diese Sprachstands- diagnose fand zu Beginn und zum Abschluss der Erhebung statt, die sich über den Zeitraum eines halben Jahres erstreckte. Der Vergleich der beiden DaZ-Gruppen zeigt (Tab. 2), dass die Kinder mit russischer Erstsprache im C-Test zu beiden Testzeitpunkten um ca. 5% besser abschneiden als die Kinder mit türkischer Erst- sprache. Tab. 2: C-Test-Ergebnisse in der Zweitsprache Deutsch t1 t2 Median 68,5 77,9 L1 Türkisch 65,3 75,0 L1 Russisch 70,4 79,6 Dieses Ergebnis ist unter der Berücksichtigung der soziobiographischen Daten, die ebenfalls von allen Kindern erhoben wurden, hervorzuheben. Aus den sprachbio- graphischen Interviews geht nämlich hervor, dass die Kinder mit russischer Erst- sprache insgesamt eine kürzere Aufenthaltsdauer in Deutschland aufweisen, vor- schulisch weniger Zweitsprachkontaktmöglichkeiten, etwa durch den Besuch eines deutschen Kindergartens, hatten, und die Erstsprache in den Familien dominanter ist als bei den Kindern mit türkischer Erstsprache. Da also die Faktoren Zweit- sprachkontaktdauer und -häufigkeit nicht der Grund für das bessere Abschneiden der Kinder mit russischer Erstsprache sein können, legt dieses Ergebnis den Schluss nahe, dass die Kinder mit russischer Erstsprache aufgrund der typologi- schen Nähe ihrer Erstsprache zum Deutschen über bessere Voraussetzungen für 4 Zum C-Test als objektives Testformat und zu dessen Einsatz im Bereich Deutsch als Zweitsprache vgl. Baur; Meder 1994, Eckes; Grothjahn 2006, Grießhaber 1999, Grothjahn 2002, Kniffka; Linne- mann 2009. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 201 den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache verfügen als die Kinder mit türkischer Erstsprache. Die Datengrundlage der Erhebung bilden zwei unterschiedliche Datentypen. Zum einen wurde ein von allen Probanden zu einem Bildimpuls verfasster Text im Hinblick auf die Artikelverwendungen ausgewertet. Das Bild zeigte einen Hund und eine Katze als Liebespaar. Die Probanden sollten erzählen, „was mit Hund und Katze passiert ist“. Entsprechend sind es zwei Referenten, die bei der Erstnennung in die Geschichte eingeführt und bei Wiederaufnahme fortgeführt werden müssen. Der Bildimpuls lag den Probanden während des Verfassens der Geschichte vor, so dass die beiden Referenten der zu erzählenden Geschichte während der Bearbei- tung der Aufgabe für die Kinder visuell perzipierbar waren.5 Das Bild war nicht mit einer Überschrift versehen. Des Weiteren wurde drei Mal ein Lückentest (Abb. 1) durchgeführt, bei dem die Probanden dazu aufgefordert waren, in pränominale Lücken Indefinit- oder Definitartikel einzutragen. Jeder der drei Lückentests enthielt drei Nomen, die im ersten, den Text eröffnenden Satz, einmal eingeführt und im Folgesatz wieder fortgeführt werden mussten. Die Anzahl der Datenpunkte beträgt pro Proband also 18 NGr.6 Abb. 1: Beispiel für einen Lückentest Alle Lückentests beginnen mit der formelhaften Einleitung „Es waren einmal …“, wodurch in der Zielsprache signalisiert wird, dass die darauf folgenden Referenten als unbekannt gekennzeichnet werden müssen. Alle drei Lückentests sind betitelt. 5 Gerade die Tatsache, dass den Kindern das Bild von der Versuchsleiterin übergeben wurde und während der Textproduktionsphase vorlag, birgt die Gefahr, dass die Kinder die Referenten in der für die Versuchsleiterin zu schreibenden Geschichte als bekannt voraussetzen. Die nachfolgend aus- zuwertenden Geschichten zeigen aber, dass die Mehrzahl der Probanden bereits derart weit entwi- ckelte Textkompetenz aufweist, dass sie die mündliche und schriftliche Kommunikationssituation zu unterscheiden wissen und sich in der Texteröffnung an einem unwissenden Leser orientieren, indem sie das Setting (Akteure, Ort und Zeit des Geschehens, vgl. Schwarz-Friesel 2007) der zu erzählenden Geschichte für den Leser mit adäquaten sprachlichen Mitteln als unbekannt einführen. 6 Im Lückentest wurde, wie aus der Abb. 1 ersichtlich, auch der Erwerb der Adjektivflexion im Hin- blick auf Genuskongruenz (Binanzer in Vorb.) untersucht, diese Ergebnisse sind für die vorliegende Fragestellung zum Erwerb definiter und indefiniter Referenz jedoch nicht relevant und werden des- halb hier nicht einbezogen. Nur wenige nicht auswertbare Lösungen wurden aus der Datenauswer- tung ausgeschlossen, wenn die Probanden z.B. die Lücken nicht oder nicht mit einem Artikel, son- dern einer anderen Lösung füllten. Anja Binanzer 202 Die Überschrift des oben angeführten Beispiels lautete z.B. „Eine Familie“. Alterna- tiv wurden im Titel die darin vorkommenden Referenten genannt, wobei diese aber nicht durch einen Artikel determiniert waren (z.B. Hund, Katze, Mäuschen). 5 Datendarstellung und -diskussion Die nun folgende Auswertung der Daten gliedert sich in vier Abschnitte, nämlich in a) Artikelverwendungen in obligatorischen Kontexten, b) Artikelverwendungen in Einführungskontexten, c) Artikelverwendungen in Fortführungskontexten und d) die Datendiskussion. a) Artikelverwendungen in obligatorischen Kontexten Ob die DaZ-Kinder Artikel in NGr verwenden, in denen die Determination durch ein Artikelwort obligatorisch ist, wurde nur für die frei zu schreibenden Texte aus- gewertet, zumal im Lückentest die Verwendung von Artikelformen qua Testdesign vorgegeben war. Für die Texte wurden alle in den Geschichten vorkommenden NGr ausgewertet, d.h., dass nicht nur die NGr berücksichtigt wurden, in denen die beiden Referenten Hund und Katze vorkamen. Außerdem wurden hier auch andere Artikelwörter wie Demonstrativartikel, Negationsartikel, Possessivartikel und prä- positionale Kontraktionen, die in obligatorischen Kontexten verwendet wurden, berücksichtigt. Tab. 3 zeigt prozentual, dass unabhängig von den sprachlichen Voraussetzungen nahezu alle Nominalgruppen, die obligatorisch durch ein Artikel- wort determiniert werden müssen, mit einem solchen versehen wurden. Tab. 3: Artikel in obligatorischen Kontexten Bildimpuls D (n 114) T (n 142) R (n 243) in % 100 100 98,4 Diese Auswertung berücksichtigt nur, ob die Kinder in obligatorischen Kontexten überhaupt Artikel nutzen, jedoch noch nicht, ob die unterschiedlichen Artikeltypen, Indefinit- und Definitartikel, semantisch-pragmatisch eine zielsprachliche Verwen- dung finden. Dieser Frage wird in den nächsten Abschnitten nachgegangen. b) Artikelverwendung in Einführungskontexten Für beide Testsets (Bildimpulstexte, Lückentest) wurde analysiert, welchen Artikel- typ die Kinder in Einführungskontexten verwendeten. Tab. 4 veranschaulicht, dass die Kinder mit russischer Erstsprache in beiden Tests deutlich häufiger als die Kinder mit türkischer Erstsprache von der Zielsprache abweichend den Definitar- tikel benutzen. In der Tabelle grau hinterlegt sind die Zellen, in denen der ziel- sprachliche Artikel gewählt wurde. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 203 Tab. 4: Artikelverwendungen in Einführungskontexten D T R n indef. def. n indef. def. n indef. def. Bildimpuls 19 95 5 26 87,5 12,5 40 57,9 42,1 Lückentest 81 90,1 9,9 120 79,2 20,8 194 63,4 36,6 Während die Kinder mit türkischer Erstsprache sowohl beim Lückentest als auch bei den selbst verfassten Texten zur Einführung von unbekannten Referenten mindestens zu 80% Indefinitartikel gebrauchen, ist dies bei den Kindern mit russi- scher Erstsprache in nur ca. 60% der NGr der Fall. Die Kontrollgruppe verwendet der Erwartung gemäß bei beiden Datensets in mindestens 90% der Fälle Indefinit- artikel. c) Artikelverwendung in Fortführungskontexten Die gleiche Auswertung wurde für Fortführungskontexte vorgenommen. Bei der Zweitnennung von Referenten sind insgesamt weniger Abweichungen von der Zielsprache zu verzeichnen, wie Tab. 5 zeigt: Tab. 5: Artikelverwendungen in Fortführungskontexten D T R n indef. def. n indef. def. n indef. def. Bildimpuls 17 0 100 23 4,2 95,8 30 3,6 96,4 Lückentest 81 7,4 92,6 120 17,8 81,7 195 4,1 96,9 Beide DaZ-Gruppen verwenden in Fortführungskontexten insgesamt mindestens zu 80% Definitartikel. Der Vergleich der beiden Testsets zeigt, dass v.a. die Kinder mit türkischer Erstsprache beim Lückentest häufiger auf den Indefinitartikel zu- rückgreifen als bei den frei geschriebenen Texten. Werden die Ergebnisse des Lü- ckentests und des Textes zum Bildimpuls zusammengefasst, verwenden aber beide DaZ-Gruppen in ca. 90% der Fälle in Fortführungskontexten zielsprachlich den Definitartikel. d) Diskussion Als erstes Ergebnis wird konstatiert, dass beide DaZ-Gruppen in der dritten und vierten Klasse in schriftlichen Texten nicht mehr zu Artikelelisionen neigen. Im Hinblick auf die semantisch-pragmatische Funktion, Definitheit und Inde- finitheit durch die entsprechenden Artikeltypen zu kennzeichnen, zeigen die Daten aber, dass die Kinder mit russischer Erstsprache im Gegensatz zu den Kindern mit türkischer Erstsprache die Form-Funktionszuordnung ‚Indefinitartikel = unbe- kannter Referent‘ und ‚Definitartikel = bekannter Referent‘ noch nicht abschlie- ßend erworben haben. Während für die Kinder mit der Erstsprache Türkisch beide Anja Binanzer 204 Artikeltypen in ihrer Funktion weitgehend festgelegt sind, übergeneralisieren die Kinder mit russischer Erstsprache den Definitartikel in Einführungskontexten. Zum gleichen Ergebnis für DaF-Lerner mit russischer Erstsprache kam auch Be- wer (2006), deren Datengrundlage auf narrativen Texten beruht, die zu einer Bild- folge verfasst wurden. Nachfolgend wird danach gefragt, wie diese Ergebnisse zu erklären sind. Erstens wird der Frage nachgegangen, ob Transfermöglichkeiten aus den Erst- sprachen vorhanden sind, da es sowohl im Türkischen als auch im Russischen schematische Geschichtenanfänge gibt. Es gilt zu eruieren, durch welche sprach- lichen Mittel in diesem Kontext die Indefinitheit der einzuführenden Referenten in den Erstsprachen gekennzeichnet wird. Zweitens wird untersucht, ob die nicht zielsprachlichen Verwendungen von Definitartikeln häufiger vorkommen, wenn die Kinder ihre Geschichten nicht durch einen schematischen Geschichtenanfang eröffnen. Dieser Annahme liegt die Überlegung zugrunde, dass der schematische Geschichtenanfang „Es war ein- mal …“ und der auf ihn folgende Indefinitartikel holistisch als Chunk (Ellis 2013: 368) gespeichert sein könnten, also beim Lerner mental nach folgender Struktur verankert ist: [Es war einmal + INDEFINITARTIKEL]. Bestätigt sich diese An- nahme, kann daraus geschlossen werden, dass die Verwendung von Indefinitarti- keln in Folge eines schematischen Geschichtenanfangs nicht zwingend aufgrund des sprachlichen Wissens, unbekannte Referenten durch den Indefinitartikel ein- führen zu müssen, sondern auch automatisiert, unanalysiert und mustergeleitet erfolgen könnte. 5.1 Schematische Geschichtenanfänge in den Erstsprachen Sowohl im Türkischen als auch im Russischen werden für Märchenanfänge sche- matische Einleitungsformeln verwendet, die als Äquivalente zur deutschen Formel „Es war einmal …“ gewertet werden können. Im Türkischen kommen die Formeln „Bir varmis bir yokmus …“ („Es war einmal, es war keinmal …“) oder „Bir zamanlar … mış …“ („Es war einmal …“) häufig vor. Im Russischen gibt es den schematischen Geschichtenanfang „Жили были …“ (‚Žili byli …‘), der ebenfalls dem deutschen „Es waren einmal …“ entspricht und in der wörtlichen Übersetzung „Es lebten und waren …“ lautet. Außerdem gibt es die Formeln „Мнoгo-много лєт назад“ (‚Mno- go-mnogo let nasad …‘ – „Vor vielen vielen Jahren …“) und „Давно зто было …“ (,Davno eto bylo …‘ – „Vor langer Zeit …“). In den türkischen Texteröffnungsformeln ist das Zahlwort bir enthalten, das in diesem Beitrag einleitend als ein lexikalisches Determinationsmittel für das Tür- kische genannt und dessen Funktion als äquivalent zum Deutschen Indefinitartikel herausgestellt wurde. In der Folge der türkischen Einleitungsformeln müssen auch die einzuführenden Referenten durch das Zahlwort bir determiniert werden, wie nachfolgendes Beispiel illustriert: Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 205 1. Bir zamanlar bir prens varmış. Es war einmal ein Prinz. Der russischen Formel „Жили были …“ folgt jedoch kein obligatorisches lexikali- sches Determinationsmittel, wie Beispiel (2) zeigt:7 2. Жили были старик да старуха. Žili byli starik da starucha. Es lebten und waren ein alter Mann und eine alte Frau. Die Kinder mit türkischer Erstsprache können in der Zweitsprache Deutsch also auf eine in ihrer Erstsprache vorzufindende lexikalische bzw. grammatische Struk- tur zurückgreifen, was für die Kinder mit russischer Erstsprache nicht in gleichem Maße möglich ist. 5.2 Schematische Geschichtenanfänge und Artikelverwendungen im Deutschen In allen drei Probandengruppen kommen in den frei geschriebenen Texten sche- matische Geschichtenanfänge vor. Die DaZ-Probanden verwenden nicht nur die im Lückentext eingesetzte Formel „Es waren einmal …“, sondern auch andere Vari- anten z.B. „Eines Tages …“ oder „Es ist …“ (vgl. Tab. 6). Auch diese formelhaften Einleitungen eröffnen einen noch nicht näher bestimmten Kontext für das zu er- zählende Geschehen und erfordern in der Zielsprache wie die Formel „Es war einmal …“ die Verwendung von Indefinitartikeln. Tab. 6 zeigt außerdem, ob die Probanden ihre Geschichte mit einem Titel ver- sehen. Dieses Analysekriterium ist in den Fällen von Relevanz, in denen die Re- ferenten Katze und Hund bereits durch den Titel als Akteure der Geschichten ein- geführt werden. Die Bekanntheit der Referenten durch deren Nennung im Titel kann durch einen schematischen Geschichtenanfang, der die Einführung der Refe- renten als unbekannt einfordert, wieder aufgehoben werden. Bei denjenigen Pro- banden, die entsprechend verfahren und die explizit zwischen Titel und Textan- fang unterscheiden, ist davon auszugehen, dass sie bereits über elaboriertes Text- strukturwissen verfügen. 7 Kovtun (2003: 343f.) weist darauf hin, dass auch in russischen und ukrainischen Märchenanfängen das Zahlwort odin (ein) fakultativ verwendet werden kann und führt dafür ein Beispiel aus dem Ukrai- nischen an: Shyw-buw odyn korol – Es war einmal ein König (im Russischen entsprechend: Žil-bil odin korol). Durch die (fakultative) Verwendung von odin kennzeichnet der Sprecher gegenüber dem Hö- rer, dass er selbst Kenntnis über den zu determinierenden Referenten hat, es aber zu diesem Zeit- punkt nicht für nötig erachtet, das Objekt dem Hörer gegenüber näher zu spezifizieren. Anja Binanzer 206 Tab. 6: Verwendung von Geschichtentiteln und schematischen Geschichtenanfängen (SG) und Artikelverwendungen zur Einführung von Referent 1 und 2 L1 Türkisch Prob. Titel SG Ref. 1 Ref. 2 LAN Die Katze und der Hund nein Eigen- name Eigen- name LAI Der Hund und die Katze nein def. def. SÖK Die Katze und der Hund Eines Tages def. indef. MIZ Katze und Hund Es war einmal indef. indef. LÖC nein Es war einmal indef. indef. LRL nein Es war einmal indef. indef. MIN nein Waren einmal indef. indef. RAR nein Es waren einmal indef. indef. KZN nein Es war einmal indef. indef. MGN nein Es war einmal indef. indef. NOT nein Es war einmal indef. indef. VAN nein Es war einmal indef. def. RUU nein nein indef. indef. MER nein nein indef. def. L1 Russisch Prob. Titel SG Ref. 1 Ref. 2 NOF Eine Katze rettet ein Hund Eines Tages indef. indef. AES Dicke Freunde Es ist indef. indef. MINX Es geschah plötzlich Eines Tages indef. indef. NEJ Das Abenteuer Es war einmal indef. indef. NRS Die Katze und der Hund Es war einmal indef. indef. LLH nein Es war mal indef. indef. RAIX nein Es war einmal indef. indef. NIK nein Eines Tages indef. indef. NOS nein Eines Tages indef. def RXX nein Eines Tages indef. die schönste Katze LAS Katze und Hund nein def. indef. NII nein nein indef. indef. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 207 L1 Russisch Prob. Titel SG Ref. 1 Ref. 2 RHE nein nein indef. indef. NAR nein nein def. def. RAI nein nein def. def. AAI nein nein def. def. KAM nein nein def. def. NAR X nein nein def. def. CAR nein nein def. def. KET nein nein def. def. LER nein nein Eigen- name Eigenna- me NET nein nein Eigen- name Eigenna- me Auf die Kontrollgruppe wird nachfolgend nicht weiter eingegangen, da die mono- lingual deutschsprachigen Kinder in neun von zehn Texten schematische Ge- schichtenanfänge verwenden8 und in ihrer Folge bis auf eine Ausnahme die Refe- renten Hund und Katze zielsprachlich indefinit einführen. Von den Kindern mit türkischer Erstsprache verwenden zehn von 14 Kindern einen schematischen Geschichtenanfang. In dessen Folge werden in den meisten Fällen sowohl der erste als auch der zweite Referent indefinit eingeführt. Die Aus- nahmen werden nun im Einzelnen besprochen, wobei die Rolle der Geschichtenti- tel in die Dateninterpretation einfließt. Dadurch wird gezeigt, dass die definiten Einführungen in diesen Geschichten durchaus zielsprachlich sind. So ist z.B. der Text der Probandin SÖK mit einem Titel, nämlich „Die Katze und der Hund“ , versehen, wodurch die Akteure der Geschichte bereits eingeführt werden und die Referenten nicht mehr obligatorisch durch Indefinitartikel als un- bekannt gekennzeichnet werden müssen: 8 Andere Studien zum Vergleich: Augst et al. (2007: 59) untersuchten in einer Längsschnittstudie 117 Texte von monolingual deutschsprachigen Kindern der Klassen 2-4 mit dem Ergebnis, dass die Ver- wendung formelhafter Einleitungen von Klasse 2 mit 39% zu Klasse 4 auf 56% stieg. Ballis (2008: 20) kam bei der Untersuchung von 109 Texten, die von Kindern mit türkischer und russischer Erst- sprache und Deutsch als Zweitsprache der Klassen 5-7 geschrieben wurden, zu dem Ergebnis, dass sie durchschnittlich zu 78,9% derartige Texteröffnungen wählen. Die Ergebnisse werden leider nicht nach den Erstsprachen differenziert. Anja Binanzer 208 Die Katze und der Hund Eines Tages ging die Katze in einen Wald spatzieren und wo sie frölich spazierte wa auf dem Boden ein Großes loch und die Katze hat das nicht gesehen und Plötzlich ist sie rein gefallen da Hatte sie angs gehabt und dan Hatte sie so laut geschien aber keine hat sie gehört nur einer hat sie gehört und das war ein Hund. (SÖK, L1 Türkisch) Im ersten Teil der Geschichte ist die definit determinierte Katze alleinige Akteurin, der Hund wird erst später in die Geschichte eingeführt. Seine Einführung stellt gleichzeitig den Planbruch der Geschichte dar, da der Hund als plötzlicher Retter der Katze in das Geschehen eingeführt wird, weshalb er an dieser Stelle ziel- sprachlich indefinit determiniert wird. Auch die Probanden LAN, LAI und MIZ versehen ihre Geschichten mit Ti- teln, wobei LAN und LAI dazu definite Artikel gebrauchen (z.B. Die Katze und der Hund) . In ihren Geschichten werden die beiden Akteure sodann durch Eigenna- men bzw. definite Artikel eingeführt, ohne dass ein schematischer Geschichtenan- fang verwendet wird, der die Bekanntheit der Akteure aufheben könnte. Im Titel von MIZ werden die Akteure artikellos benannt (Katze und Hund), in Folge des darauf verwendeten Geschichtenanfangs „Es war einmal …“ werden Hund und Katze beide zielsprachlich indefinit eingeführt. Nur bei den beiden Probanden VAN und MER erfolgt die Einführung des zweiten Referenten nicht zielsprach- lich, nämlich definit. Von den Kindern mit russischer Erstsprache verwenden nur zehn von 22 Kin- dern9 einen schematischen Geschichtenanfang, in dessen Folge nahezu in allen Geschichten beide Referenten zielsprachlich indefinit eingeführt werden. Aus- nahmen stellen die beiden Probanden NOS und RXX dar, in deren Geschichten der zweite Referent definit determiniert wird. In der Geschichte von RXX wird dieser jedoch durch ein superlatives Attribut spezifiziert (die schönste Katze), wo- durch der Referent unikalen Status erhält und die Verwendung des Definitartikels also zielsprachlich ist. In den Geschichten von NOF und NRS werden beide Refe- renten bereits durch den Titel genannt, der ebenfalls von ihnen verwendete sche- matische Geschichtenanfang hebt deren Bekanntheitsstatus jedoch wieder auf, weshalb die indefinite Einführung von Hund und Katze zielsprachlich ist. Hervorzuheben bleibt im Vergleich zu den Kindern mit türkischer Erstsprache, dass in der Mehrzahl der Geschichten, in denen keine schematischen Geschichten- anfänge und auch keine Titel verwendet werden, beide Referenten nicht zielsprach- lich, nämlich durch Definitartikel eingeführt werden (NAR, RAI, AII, KAM, NARX, CAR, KET). Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass nur die Kinder mit türkischer Erstsprache im Deutschen häufig schematische Geschichtenanfänge verwenden, 9 Bei der Erhebung des frei geschriebenen Textes waren nur 22 der ansonsten insgesamt 24 Kinder mit russischer Erstsprache anwesend. Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 209 obwohl beide DaZ-Gruppen formelhafte Texteröffnungen aus ihren Erstsprachen kennen. Allerdings gilt nur für die Kinder mit türkischer Erstsprache, dass ihnen auch das Muster [Formelhafte Einleitung+INDEFINITARTIKEL+NOMEN] zur Einführung unbekannter Referenten aus ihrer Erstsprache bekannt ist, das auf das Deutsche übertragen werden kann. Im Russischen wird der indefinite Status der einzuführenden Referenten im Gegensatz dazu nicht eigens lexikalisch symbo- lisiert, sondern ist nur durch den schematischen Geschichtenanfang gegeben. Weshalb die Kinder mit russischer Erstsprache im Deutschen seltener auf die ge- nannte Einleitungsformel zurückgreifen, kann aus kontrastiver Perspektive dem- nach nicht erklärt werden. Dass aber die Kinder mit türkischer Erstsprache infolge von schematischen Geschichtenanfängen Referenten häufiger zielsprachlich mit- tels indefinitem Artikel einführen, kann auf die Transfermöglichkeit aus der Erst- sprache zurückgeführt werden, da ihnen ein Äquivalent zum Indefinitartikel, der in diesem Kontext auch im Türkischen verwendet werden muss, bekannt ist. In den Geschichten der Kinder mit russischer Erstsprache ist zudem eine Kor- relation zwischen der Verwendung bzw. Nichtverwendung schematischer Ge- schichtenanfänge und der Verwendung indefiniter bzw. definiter Artikel festzustel- len. Bedienen sich die Kinder einer formelhaften Texteröffnung, führen sie die Re- ferenten indefinit ein. Eröffnen sie ihre Geschichten nicht durch eine solche For- mel, führen sie die Referenten definit ein. Für die Kinder mit türkischer Erstsprache kann nicht abschließend beantwortet werden, ob sie die Indefinitartikel infolge schematischer Geschichtenanfänge auf- grund der bekannten Struktur aus ihrer Erstsprache oder aufgrund des holistisch gespeicherten Chunks in der Zielsprache weitgehend beherrschen. Für die Kinder mit russischer Erstsprache ist die Annahme, dass die holistisch gespeicherte For- mel, die in ihrer Folge den Indefinitartikel triggert, dagegen sehr plausibel, da dia- metrale Ergebnisse hinsichtlich der Nicht-Verwendung schematischer Geschich- tenanfänge und Definitartikeln und der Verwendung schematischer Geschichten- anfänge und Indefinitartikeln vorliegen. Weitere Hinweise darauf, dass deutsche formelhafte Einleitungen gemeinsam mit dem Indefinitartikel als Chunk gespeichert werden, sind zum einen dadurch ge- geben, dass einige Probanden – sowohl mit russischer als auch türkischer Erstspra- che – das Verb sein im formelhaften Geschichtenanfang „Es war einmal …“ nicht kongruent im Plural verwenden, wenn beide Akteure der Geschichte noch im glei- chen Satz eingeführt werden. Die Geschichteneröffnung lautet in diesen Fällen also „Es *war einmal ein Hund und eine Katze“ (gegeben bei den Probanden LLH, RAIX, NEJ, NRS, LÖC, LRL, KZN, MIZ). Zum anderen wird die Annahme durch die Ergebnisse des Lückentests ge- stützt. Tab. 7 zeigt, bei welchem der drei hintereinander einzuführenden Referen- ten der nicht zielsprachliche Definitartikel infolge der formelhaften Einführung „Es waren einmal …“ am häufigsten verwendet wurde. Anja Binanzer 210 Tab. 7: Artikelverwendungen in Abhängigkeit von der syntaktischen Entfernung zum schematischen Geschichtenanfang D (n 90) T (n 120) R (n 200) in % indefinit definit indefinit definit indefinit definit Referent 1 86,7 13,3 95,0 5,0 77,6 22,4 Referent 2 76,7 23,3 72,5 27,5 49,3 50,7 Referent 3 83,3 16,7 67,5 32,5 53,0 47,0 Deutlich zu sehen ist – und zwar für alle drei Probandengruppen –, dass der erste Referent, der direkt auf die Formel „Es waren einmal …“ folgt, am häufigsten ziel- sprachlich durch einen Indefinitartikel determiniert wird. Bei den DaZ-Gruppen ist ein deutlicher Einbruch von ca. 20% Unterschied zum zweiten Referenten zu kon- statieren. Diesen führen die türkischsprachigen Probanden nur noch zu ca. 70%, die russischsprachige Gruppe nur noch zu ca. 50% indefinit ein. Der dritte Refe- rent wird ähnlich oft wie der zweite Referent definit determiniert. Die meisten von der Zielsprache abweichenden Artikelverwendungen in Einführungskontexten sind somit auf den zweiten und dritten Referenten der Texte verteilt. Sie sind nicht mehr gleichermaßen in den Chunk [Es war einmal + INDEFINITARTIKEL] eingebunden und werden deshalb häufiger als der erste Referent durch einen Defi- nitartikel determiniert. Die Ergebnisse beider Testsets deuten somit in die gleiche Richtung, mit dem Unterschied, dass bei den frei zu schreibenden Texten infolge eines schematischen Geschichtenanfangs fast immer beide Referenten – und nicht nur der erste Refe- rent – zielsprachlich indefinit eingeführt werden. Dieser Unterschied wird aber auf das unterschiedliche Testformat – rein produktiv vs. rezeptiv-produktiv – zurück- geführt. 6 Fazit und didaktischer Ausblick Die Auswertung der frei zu schreibenden Texte hat gezeigt, dass die Kinder beider DaZ-Gruppen unabhängig von ihren sprachlichen Voraussetzungen (sei es die Erstsprache, sei es den allgemeinen Sprachstand in der Zweitsprache Deutsch be- treffend) immer dann, wenn es erforderlich ist, Nominalgruppen durch ein Artikel- wort determinieren. Elisionen von Artikelwörtern, wie z.B. von Jeuk (2006, 2008) für noch jüngere Grundschulkinder mit Deutsch als Zweitsprache beobachtet, stellen eine Ausnahme dar. Auch im Hinblick auf die Beherrschung der Form- Funktionszuordnung der deutschen Artikeltypen liegen für schriftliche Kontexte nun andere als in den genannten Zweitspracherwerbsstudien für mündliche Kon- texte dokumentierte Ergebnisse vor (vgl. Abschnitt 2). Obwohl die Kinder mit türkischer Erstsprache bei der allgemeinen Sprach- standsmessung in der Zweitsprache Deutsch zu beiden Testzeitpunkten um ca. 5% Artikelverwendungen kindlicher DaZ-Lerner mit artikellosen Erstsprachen 211 unter den Ergebnissen der Kinder mit russischer Erstsprache liegen, nutzen sie Indefinitartikeln zur Einführung unbekannter Referenten deutlich häufiger ziel- sprachlich als die Kindern mit russischer Erstsprache, die in Einführungskontexten den Definitartikel deutlich häufiger übergeneralisieren. Durch den kontrastiven Vergleich mit türkischen und russischen Einleitungsformeln wurde aufgezeigt, dass infolge türkischer schematischer Geschichtenanfänge das Zahlwort bir zur Deter- mination neu einzuführender Referenten wie im Deutschen der Indefinitartikel verwendet wird, während das Russische in diesen Kontexten keine obligatorische Verwendung von lexikalischen Determinationsmitteln vorsieht. Der Unterschied zwischen den beiden DaZ-Gruppen kann also dadurch erklärt werden, dass die Kinder mit türkischer Erstsprache über eine Transfermöglichkeit aus der Erstspra- che verfügen, auf die die Kinder mit russischer Erstsprache nicht gleichermaßen zurückgreifen können. Die Analyse der nicht-zielsprachlichen Verwendungen des Definitartikels hat gezeigt, dass die russischsprachigen Kinder in der freien Textproduktion den Defi- nitartikel dann verwenden, wenn sie ihre Texte nicht durch eine formelhafte Ein- leitung wie „Es war einmal …“ eröffnen. Dagegen gebrauchen sie infolge schemati- scher Geschichtenanfänge nahezu in allen Fällen, wie die Kinder mit türkischer Erstsprache, zielsprachlich den Indefinitartikel. Dieser Befund wurde dahingehend gedeutet, dass der schematische Geschichtenanfang „Es war einmal …“ und der direkt auf ihn folgende Indefinitartikel holistisch als Chunk gespeichert sein könn- ten und die Verwendung des Indefinitartikels infolge schematischer Geschichten- anfänge nicht zwingend aufgrund des sprachlichen Wissens, unbekannte Referen- ten durch den Indefinitartikel einführen zu müssen, sondern zunächst auch auto- matisiert, unanalysiert und mustergeleitet erfolgen kann. In genau dieser unanalysierten, mustergeleiteten Artikelverwendung liegt das didaktische Potential schematischer Geschichtenanfänge zur Vermittlung indefini- ter und definiter Referenz. Auf der Basis der ggf. unanalysierten Verwendung die- ser grammatisch zielsprachlichen Struktur kann den Lernern die Regelhaftigkeit, die ihr zugrunde liegt, bewusst gemacht und mustergeleitete Sprachverwendung in explizites Sprachwissen überführt werden. So können die zielsprachlich indefiniten Einführungen infolge schematischer Geschichtenanfänge genutzt werden, um die unterschiedlichen Artikelfunktionen begreiflich zu machen, wenn in diesem Kon- text sodann auch die Fortführungen der bereits eingeführten Referenten durch den Definitartikel thematisiert werden. Schematische Geschichtenanfänge können so nicht nur als spezifische Einleitungsformeln zum Erwerb von Textmustern genutzt werden (Ballis 2008, Kostrzewa 2013), sondern bieten sich für eine integrative Vermittlung von Textmustern und grammatischen Strukturen an. Zum Gebrauch von Indefinit- und Definitartikel hat z.B. Hlebec (2013) einen Unterrichtsvorschlag für die Schulklassen 5-7 ausgearbeitet. Darin wird ebenfalls auf implizites Sprachwissen über die Verwendungsweisen der Artikeltypen in Ab- hängigkeit von geteiltem bzw. nicht-geteiltem Kontextwissen von Sprecher und Anja Binanzer 212 Hörer aufgebaut, das den Schülern bewusst gemacht werden soll. Wird diese Un- terrichtseinheit in Tandems, bestehend aus DaM- und DaZ-Schülern durchgeführt, können die DaM-Schüler mit den DaZ-Schülern gemeinsam die Form-Funktions- zuordnungen erarbeiten, sollten die DaZ-Schüler ggf. noch nicht über dieses impli- zite Sprachwissen verfügen. Im Ausblick des Beitrags wird auf die Möglichkeit des kontrastiven Sprachvergleichs in mehrsprachigen Klassen verwiesen, der sich an- hand schematischer Geschichtenanfänge wie hier aufgezeigt damit verbinden lässt. Literatur Augst, Gerhard; Disselhoff, Katrin; Henrich, Alexandra; Pohl, Thorsten; Völzing, Paul-Ludwig (2007): Text − Sorten − Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Ballis, Anja (2008): Formelhafter Sprachgebrauch in Schülertexten der Sekundar- stufe I – Eine quantitative und qualitative Analyse von Märchen. In: Deutsch als Zweitsprache 1, 16-23. Bassarak, Armin; Jendraschek, Gerd (2004): Türkisch. 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Themenschwerpunkt 4: Unterschiedliche sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern? Zu diesem Themenschwerpunkt wurden im Call for Papers grundlegende Fragen gestellt: Kommunizieren Maschinenbauer anders als Historiker? Benötigen nicht- muttersprachliche Studierende für ein Studium in den MINT-Fächern andere Sprachkenntnisse als für ein Studium der Geschichte? Gibt es spezifische sprachli- che Anforderungen, die für die jeweilige Studienvorbereitung in DaF auf unter- schiedliche Fachdisziplinen bzw. in den verschiedenen Schwerpunktkursen von Studienkollegs zu beachten sind? Es wurden somit Beiträge aufgerufen, die sich der fachspezifisch sprachlichen Verfasstheit von Schul- bzw. Studienfächern aus der Perspektive der Sprach- und Fach-Didaktik, der linguistischen Forschungen zur Wissenschaftssprache oder aus der Praxis der Studienvorbereitung und Stu- dienbegleitung an deutschen Hochschulen nähern sollten. Auf der Tagung näher- ten sich die Referentinnen und Referenten den konkreten Problemen der wissen- schaftlichen Kommunikation dann aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den wissenschaftssprachlichen Alltag und setzten eigene Akzente auf eine fachspezifi- sche bzw. fachübergreifende Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache im akademischen Kontext. In seinem Vortrag „Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern, Ver- mittlungskonzepte und Kursorganisation: Eine Einführung in den TSP 4“ über- Koordinationsteam TSP 4 216 prüfte Christian Krekeler zunächst den von Konrad Ehlich eingeführten Begriff „alltägliche Wissenschaftssprache“ darauf hin, ob sich auf dieser Grundlage eine disziplinbergreifende Sprachvermittlung begründen lässt. Das Konzept der AWS wurde aus linguistischer Sicht anhand von Forschungsergebnissen sowie in seiner didaktischen Umsetzung, d.h. als Grundlage für Vermittlungsprozesse, vorgestellt. Schließlich bewertete der Referent die disziplinübergreifende Sprachvermittlung und stellte es dafür in einen Zusammenhang mit organisatorischen Fragen. Sein Beitrag mündete in dem Appell, unterschiedliche sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern möglichst zu berücksichtigen. Lena Kreppel berichtete in ihrem Vortrag „Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule“ von Erfahrungen an der Westfä- lischen Hochschule (Gelsenkirchen, Recklinghausen, Bocholt). Sie zeigte, dass dort der Bedarf an fachspezifischen Sprachkursen nicht nur bei Deutsch als Fremdspra- che-Lernern, sondern auch bei jenen Studienanfängern besteht, die Deutsch als Zweit- oder Muttersprache gelernt haben. In ihrem Beitrag erläuterte sie die Erfah- rungen aus Deutschkursen im Studiengang Wirtschaftsrecht, zeigte Vorgehen und Herausforderungen auf und stellte methodisch-didaktische Herangehensweisen für fachspezifische Angebote zur Diskussion. Viktoria Steinberg stellte in ihrem Beitrag „Wissenschaftssprache als interkultu- relles Sprachphänomen“ die These auf, dass die einschlägigen nationalen For- schungen sich auf Stil- und Strukturbesonderheiten der jeweils eigenen nationalen Wissenschaftssprache konzentrierten. Dabei seien in verschiedenen nationalen Wissenschaftssprachen durchaus gleiche oder ähnliche Sprachelemente und Satz- konstruktionen zu finden, etwa wissenschaftsübliche Fügungen oder bestimmte Wortfamilien und Wortfelder. Deshalb könne man durchaus von einer allgemeinen Wissenschaftssprache über die Sprachgrenzen hinaus sprechen. Cai Hong untersuchte in ihrem Vortrag den „Fremdsprachengebrauch sowie -bedarf der chinesischen Arbeitskräfte am Arbeitsplatz“. Sie stellte auf der Grund- lage einer empirischen Erhebung die fremdsprachlichen Anforderungen dar, die sich in verschiedenen Unternehmensbereichen ergeben. Daraus leitete sie ein Cur- riculum für spezifische Sprachlernangebote ab. Ksenija Fazlic-Walter und Wolfgang Wegner fragten in ihrem Vortrag „Gibt es ein ‚MINT-Deutsch‘?“ und stellten die Anforderungen an das Curriculum DaF in T-Kursen eines Studienkollegs vor. Basierend auf Erhebungen unter Absolventen sowie Dozenten der naturwissenschaftlichen Fachbereiche des Studienkollegs Karlsruhe wurden im Vortrag die sprachlichen Anforderungen in den naturwissen- schaftlichen Fächern vorgestellt und mit dem Curriculum im Fach Deutsch vergli- chen. Im Zentrum stand dabei die Frage, ob ein Lehrplan, der den Kann- Beschreibungen des GER folgt, jene Kenntnisse vermittelt, die für ein erfolgrei- ches Lernen in den MINT-Fächern notwendig sind. Darüber hinaus wurde der Frage nachgegangen, inwieweit neben der Vermittlung der alltäglichen Wissen- schaftssprache nach Konrad Ehlich fachspezifische Sprachkenntnisse vermittelt Themenschwerpunkt 4 217 werden müssen und können. Abschließend wurden Vorschläge dafür gemacht, studienvorbereitende und studienbegleitende Sprachkursangebote enger zu ver- zahnen. Arne Krause stellte in seinem Beitrag „(Scheinbar) Ähnliche Gegenstände – ähnliche sprachliche Verfahren? Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung in Mathematik, Physik und Maschinenbau“ authentische mündliche Hochschulkom- munikation anhand von Transkripten vor. Dabei verdeutlichte er die Rolle der Ge- meinsprache als eine bedeutende Ressource der Wissensvermittlung gerade bei der mündlichen Hochschulkommunikation. Die Gemeinsprache sei demnach eine unabdingbare Voraussetzung, um fachsprachliche Elemente zu begreifen. Im Bei- trag wurde anschaulich gezeigt, wie in der konkreten mündlichen naturwissen- schaftlichen Wissensvermittlung gemeinsprachliche Mittel eingesetzt werden, um fachspezifische Inhalte zu erklären. Somit seien die sprachlichen Anforderungen an DaF-Lerner in der fachspezifischen Studienvorbereitung nicht auf das Erlernen und Verstehen von fachsprachlichen Elementen beschränken. Silvia Demmig näherte sich dem Phänomen fachspezifischer wissenschaftlicher Kommunikation in ihrem Beitrag im Kontext der neueren Diskussion um „Bil- dungssprache“. Anstatt die Handlungsfelder Schule, Studienvorbereitung, Studium als abgegrenzte Gebiete zu betrachten und dafür jeweils unterschiedliche sprachli- che Anforderungen anzunehmen, schlug sie vor, diese Handlungsfelder als ein ein- heitliches Kontinuum zu sehen und die Frage der fachlichen Spezifik in ihnen neu zu diskutieren. Sie stellte Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Konstruktvalidität der DSH-Prüfung vor, die nahelegen, dass das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“, wenn es aus der Sicht des individuellen kommunikativen Handelns be- trachtet wird, eher fachübergreifend zu definieren ist. Eka Narsia und Tamar Chakhnashvili stellten in ihrem Vortrag „Zur Förde- rung der Textkompetenz im Fachsprachenunterricht“ Ergebnisse einer Untersu- chung wissenschaftlicher Artikel aus den Bereichen Wirtschaft und Recht vor. Dazu waren korpusbasierte, qualitativ ausgerichtete Textanalysen durchgeführt worden. Das Ziel der Referentinnen war es festzustellen, mit welchen spezifischen sprachlichen Mitteln die Fachtextsorte ‚wissenschaftlicher Artikel‘ im jeweiligen Fach-Bereich gestaltet wird. Sie plädierten dafür, in der Studienvorbereitung spezi- fische sprachliche Anforderungen der unterschiedlichen Fachdisziplinen zu beach- ten und im FSU die Lese- und Schreibkompetenz mit authentischen fachspezifi- schen Texten zu üben. Mattheus Wollert für das Koordinationsteam Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern, Vermittlungskonzepte und Kursorganisation: Eine Einführung in den TSP 4 Christian Krekeler (Konstanz, Deutschland) 1 Übersicht Der von Ehlich eingeführte Begriff „alltägliche Wissenschaftssprache“ hat die Diskussion um die Sprachvermittlung für den Sprachgebrauch im Studium maß- geblich geprägt. Auch die Abkürzung „AWS“ ist mittlerweile recht verbreitet. Ge- meint sind sprachliche Elemente, die neben der Fachterminologie in unterschiedli- chen Disziplinen weitgehend ähnlich sind. Man geht davon aus, dass diese Ele- mente in mehreren Disziplinen verwendet werden. Mit dieser Argumentation lässt sich eine disziplinübergreifende Sprachvermittlung begründen. In diesem Beitrag wird das AWS-Konzept einer neuerlichen Betrachtung unterzogen. Dazu werden folgende Fragen formuliert: Christian Krekeler 220 1. Ist ein disziplinübergreifender Ansatz für die Kursorganisation hilf- reich? Das AWS-Konzept bezieht seine Attraktivität auch aus dem praktischen Nutzen für die Planung von Sprachkursen, denn es ist häu- fig schwierig, gesonderte Sprachkurse für verschiedene Disziplinen an- zubieten. 2. Ist das Konzept der AWS aus linguistischer Sicht zutreffend? Zur Fra- ge, wie unterschiedlich die sprachlichen Anforderungen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen sind, gibt es in der Literatur divergie- rende Auffassungen. Einige Forschungsansätze und Ergebnisse werden in diesem Beitrag skizziert. 3. Überzeugt das Konzept der AWS als Grundlage für Vermittlungspro- zesse? Ein Blick auf Lehrmaterialien verdeutlicht, wie Wissenschafts- sprache disziplinübergreifend vermittelt werden kann und welche Probleme sich ergeben. Die hier vorgestellten Überlegungen münden letztlich in den Appell, die unter- schiedlichen sprachlichen Anforderungen in den verschiedenen Fächern nach Möglichkeit zu berücksichtigen. 2 Die Alltägliche Wissenschaftssprache (AWS) Der Begriff AWS wurde 1993 von Ehlich in die Diskussion eingebracht. Er schreibt: Die AWS „ist jenseits der terminologischen wissenschaftssprachlichen ‚Gipfel‘ die alles verbindende wissenschaftliche Sprache des Alltags von Forschung und Lehre, die wissenschaftliche Alltagssprache“ (Ehlich 2000: 52). Zur AWS zäh- len demnach „die fundamentalen sprachlichen Mittel […], derer sich die meisten Wissenschaften gleich oder ähnlich bedienen“ (Ehlich 1993: 33). Interessant ist der Hinweis auf die „terminologischen wissenschaftssprachli- chen ‚Gipfel‘“ als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen: Die Terminologie ist eine markante lexikalische Eigenschaft von Fachsprachen, und es besteht durchaus die Gefahr, dass in der Fachfremdsprachendidaktik eine einseitige Konzentration auf die Terminologie erfolgt. Das AWS-Konzept ist in diesem Sinne auch als ein Gegenentwurf zu einer Terminologiefixierung der linguistischen und didaktischen Beschäftigung mit Fachsprachen zu verstehen. Die Konzentration auf die sprachli- chen Gemeinsamkeiten lenkt den Blick darauf, dass die Terminologie nicht die einzige Besonderheit von Fachsprachen ist: In der wissenschaftlichen Fachkom- munikation sind bestimmte Wörter, Wendungen und Strukturen anzutreffen, die nicht der Terminologie zuzurechnen sind. Als typische AWS-Formulierungen nennt Ehlich: „es ist bereits darauf hingewiesen worden“ und „die Erkenntnis hat sich durchgesetzt“. Diese Wendungen sind weniger offensichtlich Teil einer spezi- fischen Fachsprache, sie sind weniger sichtbar als die „terminologischen Gipfel“, die bei der Analyse von Fachsprachen sofort ins Auge springen. Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern 221 Das AWS-Konzept ist nicht nur in der deutschsprachigen Fachdiskussion ver- breitet. Dudley-Evans; St John (1998) gehen analog davon aus, dass es eine ge- meinsame Basis von Wissenschaftssprachen gebe. Sie sprechen von einem „com- mon core of academic language“. Im Gegensatz zur Diskussion in der deutsch- sprachigen Literatur scheint das Konzept allerdings weniger verbreitet zu sein. Mit dem AWS-Konzept ist auch der Hinweis verbunden, dass zur wissen- schaftlichen Sozialisation an der Hochschule nicht nur zählt, die fachspezifische Terminologie zu verwenden, sondern auch, sich generell einer wissenschaftlichen Ausdrucksweise zu bedienen. Das gilt nicht nur für ausländische Studierende, son- dern auch für Studierende mit Deutsch als Erstsprache, wie Steinhoff in seinen Textanalysen verdeutlicht. Am Beispiel der Wendung „im Folgenden soll unter- sucht werden“, die in einem Expertentext verwendet wird, erläutert Steinhoff, dass es sich bei der AWS um eine „umfunktionalisierte“ Alltagssprache handelt, deren Gebrauch erworben werden muss (Steinhoff 2007: 80f.). Die Ausdrücke könnten häufig nicht durch andere Wendungen ersetzt werden. So ist der Ausdruck „soll daher folgend dargestellt werden“, den Steinhoff im Text einer Studentin antrifft, unangemessen. In Ehlichs Beschreibung der AWS wird bereits die für diesen Beitrag zentrale Frage angesprochen, ob die zur wissenschaftlichen Fachkommunikation verwende- ten sprachlichen Mittel fachübergreifend eingesetzt werden oder ob es Unterschie- de zwischen den Disziplinen gibt. Ehlich geht davon aus, dass die AWS in den Disziplinen „gleich oder ähnlich“ verwendet wird. Diese Einschätzung wird von Graefen geteilt: Die Bezeichnung ‚Alltägliche Wissenschaftssprache‘ erfaßt, grob gesagt, denjenigen Anteil der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Spra- che, der in allen Fächern bekannt, verwendbar und – mehr oder weniger frequent – auch in Gebrauch ist. (Graefen 2000: 191) Im weiteren Verlauf des Beitrags wird das AWS-Konzept aus den drei genannten Perspektiven betrachtet: der organisatorischen, der linguistischen und der didakti- schen. Wie kann das Konzept für die Kursorganisation genutzt werden? Lässt sich das AWS-Konzept aus linguistischer Sicht begründen? Ist es geeignet, um Vermitt- lungskonzepte zu bekräftigen? 3 Organisation und AWS Das AWS-Konzept dient häufig als Begründung für eine disziplinübergreifende Sprachvermittlung. Es ist für viele Institutionen nicht einfach, fachlich homogene Lerngruppen zusammenzustellen. Kurse mit Lernenden aus verschiedenen Diszip- linen lassen sich demgegenüber einfacher bilden. Man kann einen eigenen Wert darin sehen, für die Sprachvermittlung im Studium disziplinübergreifende Gruppen zu bilden: Die Studierenden erweitern ihren Horizont, indem sie sich mit Themen Christian Krekeler 222 aus anderen Disziplinen beschäftigen und sich mit Studierenden aus anderen Dis- ziplinen austauschen. Als weiterer Aspekt ist zu nennen, dass Sprachlehrkräfte sich oftmals nicht in der Lage sehen, einen Fachfremdsprachenunterricht zu erteilen. Ein allgemeiner Wissenschaftsbezug wirft für die – akademisch ausgebildeten – Lehrkräfte hinge- gen keine Schwierigkeiten auf. Das AWS-Konzept ist also eine hilfreiche konzeptionelle Grundlage für die Organisation von Sprachlehrangeboten in der Studienvorbereitung oder in der Studienbegleitung sowohl im Hinblick auf die Gruppenzusammenstellung als auch auf die Eignung der Lehrkräfte. Im Folgenden wird das Konzept aus linguistischer und didaktischer Sicht erörtert. 4 Sprachliche Anforderungen und AWS Das AWS-Konzept beruht auf der Annahme, dass es sprachliche Mittel gibt, die zur Kommunikation in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eingesetzt werden. Dass diese Schnittmenge vorhanden ist, wurde nicht als Ergebnis sprach- wissenschaftlicher Korpusuntersuchungen formuliert, sondern eher als Hypothese, die begründet wurde, indem auf ausgewählte Beispiele und die akademische All- tagserfahrung verwiesen wurde. So schreibt Ehlich: Unter Bezug auf konkrete Beispiele […] und das philosophische Kon- zept der ‚Alltagssprache‘ […] wird dem Alltag der Wissenschaft und ih- rer Sprache nachgegangen. Deren vielfältige Ausdrücke werden gegen- über der weitgehend allein auf Terminologie fixierten Wissenschafts- sprachforschung als eigener Untersuchungsgegenstand benannt. (Ehlich 1999: 114) Bei den „konkreten Beispielen“ handelt es sich um zwei Texte, einen Auszug aus einem linguistischen Werk von 1980 („Ethnische Identität als Inhalt der Enkultu- ration“) und einen philosophischen Text von Hegel aus dem Jahre 1830 („Der freie Geist“). Anhand der Beispiele lässt sich das AWS-Konzept erläutern, denn sie illustrieren, dass „wissenschaftliches Arbeiten zentral gebunden ist an jene alltägli- che Sprache, die das unumgängliche Verständigungsmittel der ganzen Sprach- kommunität ist“ (Ehlich 1999: 7). Die Frage, ob die AWS fachübergreifend ver- wendet wird oder ob es fachgebundene Unterschiede gibt, wird dabei nicht thema- tisiert. Um das AWS-Konzept linguistisch zu begründen, ist es meiner Einschätzung nach nicht ausreichend, auf einzelne Beispiele zu verweisen. Damit bleibt die zen- trale Frage unbeantwortet, ob die sprachlichen Elemente disziplinübergreifend verwendet werden oder ob es in verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Aus- drucksformen gibt bzw. ob unterschiedliche Kommunikationsabsichten verfolgt werden. Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern 223 Der Grundgedanke der AWS, das Vorhandensein typischer sprachlicher Elemente abseits der Terminologie, ist in späteren sprachwissenschaftlichen Untersuchungen aufgegriffen worden. Im Folgenden wird zunächst exemplarisch eine Studie vorge- stellt, in der sprachliche Elemente in einer Disziplin beschrieben werden. In einem zweiten Schritt werden Studien vorgestellt, in denen sprachliche Elemente in ver- schiedenen Disziplinen verglichen werden. Skrandies (2011) untersucht ein Textkorpus aus der Geschichtsschreibung. Dabei konzentriert er sich ausdrücklich nicht auf die Terminologie, sondern auf Wendungen, die in den Texten zur Realisierung des Metadiskurses verwendet wer- den. Ihn interessiert, ob man diese Wendungen der AWS zuordnen kann. Seine Vorgehensweise: Er sucht in den Texten nach Wendungen mit „ich“ oder „wir“ als Subjekt oder nach alternativ verwendeten Passivkonstruktionen. Er stellt fest, dass in den betreffenden Sätzen folgende Verben besonders häufig auftreten: „verste- hen, festhalten, übersehen, sprechen, erkennen, sagen, fragen, bezeichnen, sehen, nennen“ (Reihenfolge der häufigsten zehn Verben). Typische Wendungen sind etwa: „[x] muss als Reaktion auf [y] verstanden werden“, „unter [x] wird hier [y] verstanden“, „es muss festgehalten werden, dass [x]“, „zusammenfassend ist fest- zuhalten, dass [x]“. Aus diesen (und anderen) Beobachtungen schlussfolgert Skran- dies, dass die Annahme der AWS zutreffe: Fachtexte bestehen nicht nur aus Fach- terminologie, sondern auch aus Wendungen, die durchaus „alltäglich“ sind. Offen bleibt angesichts des Designs der Studie notwendigerweise, ob die Wendungen, die in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung verwendet werden, mehr oder weniger frequent auch in anderen Disziplinen anzutreffen sind. Das kann nur bei einem interdisziplinären Vergleich festgestellt werden. Es gibt weitere Untersuchungen, in denen sprachliche Elemente in wissen- schaftlichen Fachtexten abseits der Fachterminologie betrachtet werden (z.B. Graefen 1997, Liu 2012, Paquot; Granger 2012, Parkinson 2011, Pecorari 2009, Steinhoff 2007). In einigen Studien werden auch Texte aus unterschiedlichen Dis- ziplinen berücksichtigt, die Analyse war jedoch nicht darauf ausgerichtet, domä- nentypische sprachliche Mittel zu beschreiben. Im Folgenden gehe ich auf Studien ein, in denen gezielt Unterschiede erhoben wurden. Hyland (2008) untersucht ein Korpus aus wissenschaftlichen Texten (For- schungsbeiträge, Abschlussarbeiten) aus vier Disziplinen: Elektrotechnik, Wirt- schaft, Sprachwissenschaft und Biologie. Er erhebt, welche Vier-Wort-Kookkur- renzen („four-word bundles“) in den Texten verwendet werden (z.B. „on the other hand“), und stößt auf deutliche Unterschiede zwischen den Disziplinen: Zunächst stellt er fest, dass die Anzahl der signifikanten Vier-Wort-Kookkurrenzen in Tex- ten aus der Elektrotechnik höher ist als in den anderen Disziplinen. Dies legt nach Hyland nahe, dass die Sprache, die in den Texten dieser Disziplin verwendet wird, formelhafter ist. Außerdem beobachtet er, dass in den unterschiedlichen Diszipli- nen unterschiedliche Vier-Wort-Kookkurrenzen verwendet werden. Dies wird deutlich, als er die 30 am häufigsten beobachteten Kookkurrenzen vergleicht: Nur Christian Krekeler 224 vier Verbindungen zählen in allen vier Disziplinen zu den 30 häufigsten. Dies sind: „on the other hand“, „in the case of“, „as well as the“ und „at the same time“. Etwa die Hälfte der Verbindungen war nur in einer Disziplin signifikant häufig. In einer weiteren Studie untersucht Hyland an einem Korpus mit Texten aus Fachpublikationen aus acht Disziplinen, welche Verben genutzt werden, um Inter- textualität herzustellen, also beispielsweise um Zitate und Verweise einzuleiten (1999, 2004). Er stellt zunächst einmal fest, dass Autoren in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich häufig auf andere Quellen verweisen. Die nach der Häufigkeit von Verweisen geordnete Liste der untersuchten Fächer lautet: Soziolo- gie, Marketing, Philosophie, Biologie, Sprachwissenschaft, Elektrotechnik, Maschi- nenbau, Physik (Hyland 1999: 346). Demnach sind bei Fachaufsätzen in den Sozi- al- und Geisteswissenschaften mehr Verweise anzutreffen als bei Beiträgen aus naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Abgesehen von der Häufig- keit unterscheiden sich auch die sprachlichen Mittel, die verwendet werden, um Intertextualität herzustellen (siehe Tab. 1). An der Häufigkeit der verwendeten Verben wird deutlich, dass sich Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen unter- schiedlicher sprachlicher Mittel bedienen, wenn sie Zitate einleiten oder auf andere Texte verweisen, und dass diese Verweise jeweils andere Funktionen erfüllen. Auf das gesamte Korpus betrachtet wurden die Verben „say“ und „think“ fast aus- schließlich in Texten aus philosophischen Fachzeitschriften verwendet. Demge- genüber fanden sich 70 Prozent aller Verwendungen von „use“ in Texten der Elektrotechnik, 82 Prozent aller Verwendungen von „report“ in den technischen Disziplinen. „Argue“ (100 Prozent), „suggest“ (82 Prozent) und „study“ (70 Pro- zent) wurden überwiegend in den Sozial- und Geisteswissenschaften verwendet. Tab. 1: Verben zur Redewiedergabe (nach Hyland 1999: 349) Disziplin häufigste Verben Philosophie say, suggest, argue, claim Soziologie argue, suggest, describe, discuss Sprachwissenschaft suggest, argue, show, explain Marketing suggest, argue, demonstrate, propose Biologie describe, find, report, show Elektrotechnik show, propose, report, describe Maschinenbau show, report, describe, discuss Physik develop, report, study Domänentypische Ausdrucksmuster und Kommunikationsformen sind in weiteren Studien untersucht worden, dabei wurden unterschiedliche Ansätze verfolgt: Gnutzmann; Rabe (2014) führen Interviews mit Wissenschaftlern aus vier Diszipli- nen durch (Geschichte, Biologie, Maschinenbau, Germanistische Linguistik), die in der Fremdsprache Englisch publizieren. Die Auswertung der Interviews legt nahe, Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern 225 dass sich die sprachlichen Anforderungen zwischen den Disziplinen unterscheiden. Dies betrifft etwa die vertretenen Genres und Kommunikationsabsichten. Samraj (2008) untersucht die Einleitungen in Masterarbeiten aus drei Disziplinen (Philo- sophie, Biologie und Linguistik). Sie stellt Unterschiede fest, welche die Präsenz des Autors und die Herstellung von Intertextualität betreffen. Groom (2005) un- tersucht Textkorpora aus zwei Disziplinen (Geschichte und Literaturwissenschaft) mit Blick auf zwei grammatische Strukturen. Seine quantitative Analyse zeigt, dass die Strukturen in den beiden Disziplinen unterschiedlich oft verwendet werden. Es gibt noch weitere Untersuchungen, in denen thematisiert wird, wie sich der Sprachgebrauch in den Disziplinen unterscheidet, auf die jedoch nicht weiter ein- gegangen wird (z.B. Bruce 2009, Charles 2003, Gardner; Nesi 2013, Ketabi; Rahavard 2013, Nesi; Gardner 2012, Samraj 2013). Die Studien zeigen, dass in den Wissenschaftssprachen neben der Terminologie sprachliche Elemente verwendet werden, die man der AWS zurechnen kann. Eher fragwürdig erscheint allerdings die Annahme, dass die sprachlichen Mittel, die in den unterschiedlichen Disziplinen verwendet werden, „mehr oder weniger“ gleich sind. Naheliegender dürfte die Schlussfolgerung sein, dass in unterschiedlichen Disziplinen oftmals unterschiedliche Kommunikationsabsichten verfolgt werden, zu deren Verwirklichung jeweils andere sprachliche Mittel eingesetzt werden. Was diese Feststellung für die Vermittlung von wissenschaftssprachlicher Kompetenz bedeutet, ist Thema des folgenden Abschnitts. 5 Vermittlungskonzepte und AWS Das AWS-Konzept ist auch als Planungsprinzip des studienbegleitenden Fremd- sprachenunterrichts herangezogen und zur Rechtfertigung einer disziplinübergrei- fenden Vermittlung angeführt worden. So erläutern Graefen und Moll: „Die Auto- rinnen sind der Auffassung, dass es nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig ist, Deutsch als (fremde) Wissenschaftssprache disziplinübergreifend zu vermit- teln“ (Graefen; Moll 2011: 14). Hier zeigt sich noch einmal das Versprechen, eine auf Wissenschaftssprache ausgerichtete Vermittlung sinnvoll als multidisziplinäres Angebot durchführen zu können. Die Vermittlung der sprachlichen Mittel steht im Vordergrund, fachspezifische Besonderheiten können ausgeblendet werden. Diese Einschätzung wird zum Teil auch von Autoren geteilt, die domänenspe- zifische sprachliche Unterschiede durchaus anerkennen. So plädiert Carter (2011) für einen Vermittlungsansatz, der sich auf die Besonderheiten von Textarten be- zieht. Am Beispiel von Doktorarbeiten erläutert sie: Yet a thesis from any discipline has a generic quality that distinguishes it not only from a comedy or a tragedy, but from an academic article, book chapter or paper for a taught course. Learning advisors working Christian Krekeler 226 across campus are well placed to put emphasis on thesis genre require- ments and on how they might be patently met. (Carter 2011: 731) Demnach sollen in einem fachübergreifenden Unterricht vor allem studienrelevan- te Textsorten erarbeitet werden. Es ist wenig überraschend, dass Hyland andere Schlussfolgerungen zieht: „[English for Specific Purposes] must involve teaching the literacy skills which are appropriate to the purposes and understandings of particular academic and profes- sional communities“ (2002: 385). Seiner Ansicht nach ist eine disziplinübergreifen- de Vermittlung von Wissenschaftssprachen schwierig, weil die Schnittmenge zwi- schen den Disziplinen zu gering sei. Gemeinsamer Unterricht für Studierende aus verschiedenen Disziplinen wäre demnach nicht effektiv. Seine Forderung: Die Kommunikationsabsichten der jeweiligen Disziplin sollten berücksichtigt und auch die spezifischen sprachlichen Mittel thematisiert werden. Wie linguistische Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten der Disziplinen beurteilt werden, kann sich also auch auf die Vermittlungskonzepte auswirken. Wenn eine disziplinübergreifende Vermittlung erfolgt, spielen Themen und Inhalte im Unter- richt keine große Rolle. Inhalte stellen lediglich den Hintergrund dar, vor dem eine angemessene Verwendung gezeigt und geübt wird, eine inhaltliche Auseinanderset- zung mit Themen ist nicht vorgesehen: „[D]ie Themen und Kontexte der wissen- schaftlichen Zitate und Textstellen [sind] vollkommen unwichtig und sogar stö- rend für die Kursteilnehmer“ (Graefen 2000: 199). Die praktischen Auswirkungen dieses Ansatzes lassen sich in Lehrbüchern und Unterrichtsmaterialien aufzeigen. Besonders konsequent wird der disziplinüber- greifende Ansatz im Lehr- und Arbeitsbuch von Graefen und Moll (2011) „Wis- senschaftssprache Deutsch: Lesen – verstehen – schreiben“ umgesetzt. Es werden wissenschaftssprachliche Phänomene aufgearbeitet. Inhalte werden dabei zur Illus- tration verwendet. So werden wissenschaftssprachlich relevante Begriffe einge- führt, indem Fügungen genannt werden, die diese Begriffe enthalten. Anschließend wird das Vorkommen im Textzusammenhang illustriert. Der Inhalt wird nicht weiter thematisiert. Das Vorgehen soll am Umgang mit dem Begriff „Aspekt“ verdeutlicht werden. Zunächst werden folgende Fügungen genannt:  N ist unter dem Aspekt X wichtig/interessant/auffallend  N behandelt einen bestimmten Aspekt von D  ein Thema kann behandelt werden unter inhaltlichen/formalen/histo- rischen/räumlichen Aspekten  unter dem Aspekt X fällt auf, dass  ein Aspekt wird durch eine Untersuchung erfasst/eine Methode erfasst (Graefen; Moll 2011: 143) In einem zweiten Schritt wird ein ausführliches Verwendungsbeispiel genannt. Es handelt sich um einen Text von Ehlich zum Thema „Wissenschaftssprache“, in dem „Aspekt“ mehrmals verwendet wird. Auszug: Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern 227 Ich habe vier Aspekte unterschieden, in denen Deutsch als Wissen- schaftssprache als eine fremde Sprache oder als eine fremde Sprachvari- etät erscheinen kann: (1) Deutsch kann eine fremde Wissenschaftsspra- che sein, sofern eine Wissenschaftssprache selbst, als eigene Varietät ei- ner Sprache, einzelnen Sprechern und Sprechergruppen fremd ist. (Eh- lich 2011: 143) Bei einer disziplinübergreifenden Vermittlung wie in diesem Beispiel muss man notwendigerweise Texte einsetzen, die einer zufällig ausgewählten Disziplin ent- stammen. Das führt dazu, dass die Lernenden einen anspruchsvollen Text lesen müssen, der allein deshalb thematisiert wird, weil er das sprachliche Phänomen verdeutlicht, das vermittelt werden soll. Es ist nicht vorgesehen, dass sich die Ler- nenden mit dem Thema des Textes (Wissenschaftssprache) auseinandersetzen, andere Themen wären ebenso möglich. In einem fachspezifischen Unterricht wür- de man diesen Text vermutlich nur verwenden, wenn sich der Kurs an Studierende der Sprachwissenschaften oder der Germanistik richten würde. Beim disziplinübergreifenden Ansatz bleibt offen, wie man im Unterricht mit Fragen zum Inhalt umgehen soll. Der Sinn der Aussage „Deutsch kann eine frem- de Wissenschaftssprache sein, sofern eine Wissenschaftssprache selbst, als eigene Varietät einer Sprache, einzelnen Sprechern und Sprechergruppen fremd ist“ aus dem Beispieltext erschließt sich möglicherweise nicht beim ersten Lesen. Nachfra- gen dazu, wem hier eigentlich was fremd ist, sind zu erwarten. Diese Klärung wür- de man in einem fachübergreifenden Unterricht möglichst kurz halten oder unter- binden. Wenn das Textverständnis aber fehlt, ist es meiner Einschätzung nach schwierig, die Verwendung der sprachlichen Mittel zu verdeutlichen. In anderen Lehrwerken zur Wissenschaftssprache, in denen ebenfalls eine dis- ziplinübergreifende Vermittlung angeregt wird, werden Kapitel häufig mit einem inhaltlichen Rahmenthema gestaltet. Doch auch dabei steht nicht die Auseinander- setzung mit dem Thema, sondern die Vermittlung von Strukturen, Wendungen und Fertigkeiten im Vordergrund. Als Beispiel sei auf die im Aufbau befindliche Lehrwerkreihe „Campus Deutsch“ verwiesen. „Campus Deutsch“ besteht aus vier Bänden, in denen jeweils unterschiedliche Fertigkeiten geübt werden: „Lesen“, „Präsentieren und Diskutie- ren“, „Schreiben“ sowie „Hören und Mitschreiben“. Bei Niederschrift dieses Bei- trags lagen die beiden erstgenannten Bände vor (Bayerlein 2014, Bayerlein; Buch- ner 2013). Der Band „Präsentieren und Diskutieren“ enthält Kapitel zu jeweils einem Thema, wie z.B. „Grippe und Grippeschutzimpfung“. Das Thema bildet aber nur den Hintergrund, um die Lernziele zu erreichen. Im Kapitel „Grippe und Grippeschutzimpfung“ sind dies: Zahlen anschaulich machen, Zahlen präsentie- ren, Informationen vereinfachen usw. Welche Informationen vereinfacht werden, ist letztlich nicht relevant. Anders als im Lehrbuch von Graefen und Moll werden in „Campus Deutsch“ also Kapitel mit einem inhaltlichen Rahmenthema gestaltet. Die Problematik, dass Christian Krekeler 228 die Inhalte letztlich beliebig sind, ist aber auch in diesem und in anderen Lehrwer- ken zur Sprachverwendung im Studium anzutreffen. 6 Fazit In diesem Beitrag habe ich zum Ausdruck gebracht, dass ich eine disziplinübergrei- fende Vermittlung von Wissenschaftssprache für die zweitbeste Lösung halte. Um meine Argumentation nicht zu schwächen, habe ich dem praktischen Vorteil des disziplinübergreifenden Ansatzes dabei nur wenig Raum beigemessen. Der Vorteil besteht vor allem darin, dass sich mit dem AWS-Konzept ein Unterricht für Kurse mit Lernenden aus verschiedenen Disziplinen begründen lässt. Fachlich heteroge- ne Lerngruppen sind häufig die Realität, daher besteht ein Bedarf an didaktischer Legitimation und Planungshilfen. Erfahrungsgemäß sind viele Lehrkräfte zudem eher bereit, einen Unterricht nach dem AWS-Konzept als einen fachspezifischen Unterricht zu erteilen. Ich habe mich vor allem mit möglichen Einwänden gegen das AWS-Konzept beschäftigt, zunächst mit der Frage, welche sprachlichen Unterschiede es zwischen den Disziplinen gibt, und anschließend mit den Problemen, die eine disziplinüber- greifende Vermittlung mit sich bringen könnte. Ob sich eine disziplinübergreifende Vermittlung aus linguistischer Sicht rechtfertigen lässt, erscheint vor dem Hinter- grund der Studienergebnisse zu sprachlichen Unterschieden zwischen wissen- schaftlichen Disziplinen fragwürdig. In den disziplinvergleichenden Studien wird deutlich, dass sich die Kommunikationsabsichten, Konventionen und damit auch die sprachlichen Mittel durchaus unterscheiden. Eine spezifische Vermittlung kann auf die Besonderheiten der jeweiligen Disziplin eher eingehen. Ich habe auch deut- lich gemacht, dass ich Vermittlungskonzepte, bei denen Themen und Inhalte nur am Rande berücksichtigt werden, für problematisch halte. Eine von Inhalten losge- löste Sprachvermittlung ist meiner Einschätzung nach dem Hochschulkontext nicht angemessen und wenig motivierend. Mein persönliches Fazit lautet daher: Die disziplinübergreifende Vermittlung ist ein gangbarer, aber nicht der optimale Weg und somit nur die zweitbeste Lösung. In den Beiträgen zum Tagungsschwerpunkt 4 wurden Unterrichtsbeispiele und Studien sowohl zu disziplinübergreifenden als auch zu disziplinspezifischen Ver- mittlungssituationen vorgestellt. Damit wurde der Realität Rechnung getragen, in der beide Ansätze erfolgreich praktiziert und produktiv genutzt werden. Sprachliche Anforderungen in verschiedenen Fächern 229 Literatur Bayerlein, Oliver (2014): Campus Deutsch – Präsentieren und Diskutieren. 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Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung in Mathematik, Physik und Maschinenbau Arne Krause (Hamburg, Deutschland) 1 Vorbemerkungen Der Vermittlungsgegenstand ‚Deutsch als fremde Wissenschaftssprache‘ kann grob betrachtet in zwei Teilbereiche unterteilt werden: Die Vermittlung von Deutsch als Wissenschaftssprache in der Schriftlichkeit auf der einen und die Vermittlung von Deutsch als Wissenschaftssprache in der Mündlichkeit auf der anderen Seite. Wäh- rend für den Bereich der Schriftlichkeit von Graefen; Moll (2011) mittlerweile ein empirisch fundiertes Arbeits- und Lehrbuch vorgelegt wurde, das sich in der Praxis bewährt (Kispál 2013), fehlt eine vergleichbare Publikation für den Bereich der Mündlichkeit. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Notwendigkeit eines Arbeits- und Lehrbuches für die Schriftlichkeit unmittelbar evident, weil ein Groß- teil der abzulegenden Prüfungen im Studium schriftlich erfolgt. Des Weiteren sind schriftliche Daten zumindest auf den ersten Blick wesentlich unkomplizierter zu Arne Krause 232 erheben als mündliche. Dabei ist auch in den modularisierten Studiengängen die mündliche Wissensvermittlung von unbestreitbar zentraler Bedeutung, woraus sich mindestens ein Bedürfnis nach Förderung der rezeptiven Sprachfähigkeiten der Stu- dierenden ableiten lässt. Bei der Vermittlung von mündlichen Sprachfähigkeiten scheinen DaF-Lehr- kräfte insbesondere dann vor größeren Problemen zu stehen, wenn Studierende aus nicht-geisteswissenschaftlichen Studiengängen auf die konkreten sprachlichen Anforderungen vorbereitet werden sollen. Um dieses Problem zu bewältigen, ist es sinnvoll, sich linguistisch mit eben den Fachbereichen zu befassen, die als beson- ders problematisch oder herausfordernd für die Lehrkräfte betrachtet werden, nämlich den so genannten naturwissenschaftlichen Fachbereichen. Befasst man sich mit der Wissensvermittlung in den Fachbereichen, die ge- meinhin als Naturwissenschaften bezeichnet werden, scheint der erste Gedanke das Eröffnen einer Dichotomie zu sein: Geistes- und Sozialwissenschaften hie, Naturwissenschaften da. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass dies nicht die Lösung für eine Beschreibung und Analyse der Hochschulkommunikation sein kann: Es ist wenig sinnvoll von den Naturwissenschaften als Sammelkategorie für die darunter gemeinhin subsummierten Fachbereiche zu sprechen. Denn damit wird impliziert, dass ähnliche Gegenstände behandelt würden, was eine unzutreffende, verkürzte Unterstellung wäre. Deshalb hat sich die differenziertere Bezeichnung ‚MINT‘ ausgeprägt, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Tech- nik. Es zeigt sich also, dass Naturwissenschaften, im Konkreten sind das unter anderem Physik, Biologie und Chemie, nur ein Teil der MINT-Fächer sind. Die MINT-Fächer und insbesondere deren mündliche Wissensvermittlung wa- ren bislang eher selten Gegenstand linguistischer Forschung. Wie Jörissen (2013: 16f.) vermutet, ist der Hauptgrund dafür vermutlich nicht zuletzt darin zu sehen, dass für die Analyse zumindest ein Teilverständnis der vermittelten Gegenstände erforderlich ist, die Erschließung der vermittelten Inhalte für fachfremde Wissen- schaftler also mit nicht unerheblichem Aufwand verbunden ist. So liegen bislang auch nur einige wenige Arbeiten zur mündlichen Wissensvermittlung von MINT- Fächern an Universitäten vor: Chen (1995) befasst sich mit dem Passiv in Labor- praktika und Vorlesungen in der Chemie, Hanna (2003) mit ingenieurswissen- schaftlicher Hochschulkommunikation mit besonderem Blick auf den Einsatz von Grafiken und Visualisierungen und Jörissen (2013) mit mathematischer Wissens- vermittlung an einer Schweizer Fachhochschule mit einem dezidiert auf Multimo- dalität ausgerichtetem Forschungsinteresse. Daneben sind aus dem Zusammen- hang des euroWiss-Projektes (siehe unten) mehrere Artikel von Thielmann (2014, i. Dr.) zu Maschinenbau, Thielmann; Krause (2014) zur Physik sowie Krause (2015) und Wagner (2014) zur Mathematik entstanden, die Einblicke in und Teil- analysen von mündlicher Wissensvermittlung in MINT-Fächern liefern. Dennoch fehlt nach wie vor eine transdisziplinär ausgerichtete Grundlagenforschung im Be- Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 233 reich der mündlichen Wissensvermittlung in den MINT-Fächern im Speziellen sowie an der Hochschule im Allgemeinen. Ziel dieses Artikels soll sein, einen Einblick in die mündliche Wissensvermitt- lung in einigen MINT-Fächern zu geben und dabei insbesondere der Frage nach- zugehen, ob und wenn ja in welcher Form, sprachliche Verfahren zu beobachten sind, die in allen Fachbereichen gleichsam mit demselben Zweck Anwendung fin- den. 2 Datengrundlage Die Daten, die diesem Artikel zugrunde liegen und in Auszügen analysiert werden, sind im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojektes „euro- Wiss – linguistische Profilierung einer europäischen Wissenschaftsbildung“ erho- ben worden. Unter der Projektleitung von Angelika Redder (Hamburg) wurden zwischen 2011 und 2014 an den Projektstandorten Bergamo (Dorothee Heller), Modena (Antonie Hornung) und Chemnitz (Winfried Thielmann) umfangreiche Videographien von universitären Lehrveranstaltungen erstellt. Die Bandbreite der aufgenommenen Veranstaltungsformen reicht von Vorlesungen über Seminare, Übungen, Kolloquien hin zu Praktika. Aufgenommen wurden diese Lehrveranstal- tungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in den MINT-Fächern. Zusätzlich wurden noch alle verfügbaren Begleitmaterialien wie Mitschriften, Skripte, PPTs1 und Tafelbilder gesammelt und die ganze Untersuchung von Frage- bogen-Befragungen und narrativen Interviews flankiert.2 Eine der Thesen des Forschungsprojektes war, dass sich die Wissensvermitt- lung an deutschen Universitäten durch besondere Formen der Hörerinvolvierun- gen in den Lehr-Lern-Diskursen auszeichnet: Der Status des vermittelten Wissens ist – zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften – von Beginn des Studi- ums an kritisch zu hinterfragen, was sich in Kritik-Handeln der Lehrenden äußert, die beispielsweise divergierende Forschungspositionen einander gegenüberstellen oder scheinbar gesicherte Wissensbestände in ihrer Ungesichertheit darstellen. Die- se sprachlichen Handlungen können als „eristisches Handeln“ (Ehlich 1993, 1995, Da Silva 2014) bezeichnet werden. Eristisches Handeln wird im Deutschen als Wissenschaftssprache mit Mitteln der alltäglichen Wissenschaftssprache (Ehlich 1993) realisiert. Wie Ehlich (1993) darlegt, bestehen gerade im Verständnis dieses Teilbereiches deutscher Sprache nicht nur bei DaF-Lernern große Schwierigkeiten, 1 Mit ‚PPT‘ bezeichne ich den via Beamer projizierten und für die Hörer idealerweise sichtbaren Teil einer digitalen, visuellen Unterstützung. Durch die Schreibung in Majuskeln soll die Abgrenzung zur bloßen Datei geleistet werden, die – in Anlehnung an das am meisten verbreitete Präsentationspro- gramm PowerPoint – meist als ‚ppt‘ bezeichnet wird. Siehe ausführlicher hierzu Krause (in Vorb.). 2 Siehe für eine ausführlichere Projektbeschreibung Heller et al. (2013) sowie Thielmann; Redder; Heller (2014). Arne Krause 234 und nicht etwa in erster Linie beim Verstehen von fachsprachlichen Elementen.3 Diese sprachlichen Mittel spielen demzufolge eine zentrale Rolle beim wissen- schaftlichen Kritisieren, das Redder (2014b) in Abgrenzung zum alltagssprachli- chen Architerm „kritisieren1“ als „kritisieren2“ bezeichnet (s. Redder 2014b: 133). Kritisieren2 muss von Studierenden gelernt und mithin zu diesem Zweck erprobt werden. Der institutionelle Ort für diese studentischen Probehandlungen ist vor allem das Seminar und darin vor allem Sprechhandlungssequenzen. Vorlesungen eigenen sich meist nur für ein Vorführen des Kritikhandelns, dennoch gibt es auch in Vorlesungen Beispiele dafür, wie das monologische Sprechen der Dozenten zugunsten von interaktionellen Phasen suspendiert wird, wie Breitsprecher; Red- der; Zech (2014) gezeigt haben. Der ganze Phänomenbereich en gros kann mit Redder (2009, 2014a) als „diskursive Wissensvermittlung“, beziehungsweise aus der Perspektive der Studierenden als „diskursives Lernen“ bezeichnet werden und ist ein Kernmoment der Humboldt’schen Tradition der Verbindung von For- schung und Lehre im Sinne von LernenL und LernenF nach Ehlich (2003) bzw. forschendem Lernwissen und lernendem Forschungswissen nach Redder (2002) an deutschen Universitäten. Weiterhin war für euroWiss die Annahme leitend, dass es hinsichtlich der dis- kursiven Wissensvermittlung Unterschiede zwischen den Geistes- und Sozialwis- senschaften auf der einen und den MINT-Fächern auf der anderen Seite gebe. In den Geisteswissenschaften hat sich gezeigt, dass dort von Beginn an die Studieren- den aktiv in den Seminardiskurs miteinbezogen werden. Damit stellt sich die Frage, wie und ob in den MINT-Fächern das Konzept der diskursiven Wissensvermitt- lung umgesetzt wird, denn zweifelsohne ist das Kritikhandeln und das eristische Handeln auch in den MINT-Fächern, zumindest in Vorträgen und Artikeln, rele- vant. Die Problematik ist allerdings, dass es in den MINT-Fächern das Seminar nicht in derselben Form gibt wie in den Geisteswissenschaften. Es ist also zu fra- gen, wo und ob diskursive Wissensvermittlung ihren Platz in den MINT-Fächern hat. In den MINT-Fächern sind insbesondere zu Beginn des Studiums vor allem drei Veranstaltungsformen relevant: Die Übung, das (Labor-)Praktikum und die Vorlesung. Diese Formen unterscheiden sich hinsichtlich des turn-takings enorm: In mathematischen und wirtschaftswissenschaftlichen Übungen ist vor allem das Aufgabe-Lösungs-Muster präsent (s. Wiesmann 1999: 45, Wagner 2014), wenn- gleich auch sich zumindest in Mathematik-Übungen die Aufgaben teilweise den Studierenden wie echte mathematische Probleme darstellen (s. Krause 2015). Wei- ter sind Übungen eng mit Vorlesungen verknüpft, so dass man sagen kann, dass in Übungen das in den Vorlesungen vermittelte Wissen eingeübt werden soll. Die 3 Prägnanter Weise stellt auch der Begriff „Alltägliche Wissenschaftssprache“ insofern ein ausgezeich- netes Beispiel für die von Ehlich benannten Probleme dar, da mit „alltäglich“ nicht auf Wissen- schaftssprache allgemein Bezug genommen wird, sondern auf die Elemente der Wissenschaftsspra- che, die aus der Alltagssprache entnommen sind. „Wissenschaftssprache“ ist mithin nicht gleichbe- deutend mit „alltäglicher Wissenschaftssprache“ und schon gar nicht mit „Fachsprache“. Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 235 Handelnden sind in Übungen meist wissenschaftliche Mitarbeiter (als Aufgaben- steller) und Studierende (als Aufgabenlöser). In den zu Beginn des Studiums wichtigen Praktika handeln zwar vor allem Stu- dierende sprachlich (s. Chen 1995), die sprachlichen Handlungen sind jedoch in erster Linie Koordinierungshandlungen, die auf Experimentierapparaturen bezo- gen sind. Es geht mithin nicht um die experimentierend angeeigneten Wissensbe- stände und auch nicht um diskursives Lernen oder einem Prae davon. Enorm wichtig sind in den MINT-Fächern, gerade zu Beginn des Studiums, Vorlesungen. Darin handeln in erster Linie die DozentInnen sprachlich. Auch wenn es dort in Ausnahmefällen schon zu Beginn des Studiums zu Thematisierungen von aktuellem Forschungswissen kommen kann, wie Thielmann; Krause (2014) gezeigt haben, gibt es keine systematische Einbeziehung von Studierenden in Form von Interaktion zwischen DozentInnen und Studierenden. Somit kann man also festhalten, dass es offenbar keine zwingende Relation zwischen dem Status des vermittelten Wissens und der Art der Wissensvermittlung zu geben scheint. Den- noch gibt es auch in MINT-Vorlesungen Formen der Hörerinvolvierungen, die zumindest ein Prae von diskursiver Wissensvermittlung (s. Redder 2014a: 35) sind, indem die Wissensvermittlung in spezifischer Weise auf das Hörerwissen abzielt. Sprachliche Verfahren mit diesem Zweck sollen im Folgenden gezeigt werden.4 3 Analysen 3.1 Transkripte und Transkriptionskonventionen Im Folgenden werden nun vier Transkriptausschnitte von Vorlesungen aus MINT- Fächern analysiert, eine Physik-Vorlesung, zwei Maschinenbau-Vorlesungen und eine Mathematik-Vorlesung. Da auch die Darstellung und Erklärung der vermittel- ten Inhalte nicht nur erheblichen Aufwand, sondern auch erheblichen (Seiten-) Umfang erfordert, wird dabei aus Gründen der Lesbarkeit sowie aus Platzgründen auf eine umfangreiche Rekonstruktion der Inhalte verzichtet. Alle im Folgenden abgedruckten Transkripte wurden nach HIAT (Ehlich; Reh- bein 1976, 1979) mit dem Partitur-Editor von EXMARaLDA (s. Schmidt; Wörner 2009) transkribiert.5 Die Transkriptionskonventionen folgen denen in Redder; Heller; Thielmann (2014: 161) nachzulesenden und an Redder; Ehlich (1994: 9ff.) orientierten. Über die dort genannten Konventionen hinaus, wird in den hier ver- wendeten Transkripten noch auf digitale Rekonstruktionen von Tafelbildern ver- 4 Die Analysen können, trotz der im Projekt erhobenen Datenmenge, in diesem Zusammenhang selbstverständlich nur exemplarischen Charakter haben. 5 Ein besonderer Dank soll hier unserer studentischen Hilfskraft Franziska Süß ausgesprochen wer- den, die bei den Transkriptionen maßgeblich mitgewirkt hat. Arne Krause 236 wiesen. Die Segmentation der Rekonstruktionen wurden nach folgender Zielset- zung angefertigt: Die Tafelbilder wurden auf Basis der Videodaten digital rekonstruiert und der Sukzession ihrer Entstehung in der Vorlesung folgend segmen- tiert. Die Segmentierung soll inhaltliche Abschnitte clustern, aber auch größtmögliche Lesbarkeit gewährleisten. (Krause; Thielmann 2014: 73) Die Sukzession der Entstehung ist in den Transkripten durch die Ziffern in der nv- Spur vermerkt. Um im Folgenden die Zuordnung der Äußerungen zu erleichtern, wird auf die nummerierten Äußerungen mit #XY verwiesen. 3.2 Transkriptanalyse 1: Physik-Vorlesung Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einer Einführungsveranstaltung in die Experimentalphysik. Das vermittelte Wissen kann somit als Grundlagenwissen bezeichnet werden. In der Sitzung ist neben den Studierenden und einem Profes- sor ein Assistent anwesend, dessen Aufgabe darin besteht, Experimente vorzufüh- ren, die mit dem in der Vorlesung vermittelten Wissen in einem engen Zusam- menhang stehen. Dieses Vorgehen ist in deutschen Einführungsvorlesungen der Physik nicht unüblich. In dem folgenden Transkriptausschnitt bereitet der Dozent die Studierenden inhaltlich auf ein ebensolches Experiment vor, das im Anschluss von dem Assis- tenten vorgeführt wird. Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 237 Der an dieser Stelle angeschriebene Tafelanschrieb sieht wie folgt aus, es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer digitalen Rekonstruktion: Abb. 1: Tafelbild Physik Beginnend in #70 wird das Experiment im Vorstellungsraum eingeführt, indem die Studierenden explizit dazu aufgefordert werden, sich das Experiment, bzw. hier zunächst genauer den Experimentaufbau, vorzustellen. Teile der Verbalisierung werden parallel dazu angeschrieben. Dabei kann man im Tafelanschrieb sehen, Arne Krause 238 dass die Ausdrücke ‚Kondensator‘ und ‚Spannung‘ abgekürzt wurden. Darüber hinaus wird die Folge des Aufladens des Kondensators, nämlich das Entstehen einer Oberflächenladung, als physikalische Größe mit Q für elektrische Ladung bezeichnet, hier nur am Rande erwähnt. Dieser Zusammenhang von U und Q wird in #72 mündlich verbalisiert und im Tafelanschrieb mit einem Pfeil gekennzeich- net. Auch hier findet also eine Art Abkürzung im Tafelanschrieb statt, die zudem auch damit zusammenhängt, dass das so Abgekürzte als Teil des curricularen Wis- sens vorausgesetzt wird. Würde es sich um einen den Studierenden unbekannten Zusammenhang physikalischer Größen handeln, würde der Zusammenhang we- sentlich ausführlicher behandelt, wie sich an anderen Stellen in unseren Daten gezeigt hat. Insbesondere würde eine Herleitung des Zusammenhangs durchge- führt werden. Im nächsten Schritt des Gedankenexperiments wird die Spannungsquelle abge- klemmt. Der Dozent nimmt dabei den zuvor im Vorstellungsraum etablierten Experimentaufbau als Ausgangspunkt für den nächsten Schritt im Experiment mit der Deixis ‚Jetzt‘ in Anspruch. Dabei zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der mündlichen Verbalisierung und dem Tafelanschrieb: Während der Dozent in der Mündlichkeit in der konkreten Situation des Gedankenexperiments verbleibt und in #73 den nächsten Schritt als Prozess („von der Spannungsquelle abklemmen“) darstellt, wird an die Tafel „von Spannungsquelle getrennt“ ge- schrieben und somit das Resultat des Prozesses festgehalten. Es zeigt sich hier also eine Verbindung zwischen Tafelanschrieb und mündlichen Verbalisierungen, die man in ähnlicher Form auch in weiteren Äußerungen beobachten kann: Aus „da bleiben die Ladungen drauf“ in #73 wird erst „die Ladungen bleiben wie sie sind“ in #76 und abschließend, auch an der Tafel, „Q bleiben unverändert“ in #77. Am Ende des oben zitierten Transkriptausschnitts wird aus dem sehr umgangs- sprachlichen „im D-Feld kann sich nischt ändern“ in #74 „D bleibt ebenfalls un- verändert“ in #77. Somit sind in mehreren Fällen Bearbeitungen von Bezugsäußerungen, die in Tafelanschriebe übergehen, zu beobachten. Es scheint sich bei den Bearbeitungen, die sowohl in der Mündlichkeit als auch auf der Tafel auftauchen, auf den ersten Blick um reformulierende Handlungen, genauer Umformulierungen, im Sinne von Bührig (1996: 283ff.) zu handeln. Umformulierungen erfolgen jedoch i.d.R. in Sprechhandlungssequenzen, nachdem sich die jeweilige Bezugsäußerung als defizitär für den Hörer herausgestellt hat und dieser dies dem Sprecher deutlich macht – und genau dies scheint hier zu fehlen. Was man hier beobachten kann, ist eine Art der Umformulierungen, die in sprechhandlungsverkettend realisierter Wissensver- mittlung in natur- und technikwissenschaftlichen Vorlesungen häufig Anwendung finden und die sich durch eine spezielle Beziehung zu den Bezugsäußerungen aus- Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 239 zeichnen.6 Der Sprecher antizipiert Bewertungen seiner sprachlichen Bezugshand- lungen und passt so seine Äußerungen gezielt an das Hörerwissen an. Durch dieses Verfahren wird hörerseitig das mentale Prozessieren der vermittelten Wissensele- mente implizit eingefordert. In diesem speziellen Fall, ist die Beobachtung aber noch durch weitere Aspekte zu erweitern. Die Bezugshandlungen für diese Umformulierungsprozesse sind hier nicht mündliche Verbalisierungen, sondern der Tafelanschrieb selbst, der aus ei- nem für die Studierenden nicht zugänglichen Skript übertragen wird. Die entspre- chenden Bezüge zum Tafelbild kann man wie folgt darstellen: Abb. 2: Tafelbild und Umformulierungen, Physik Ausgangspunkt für die Wissensvermittlung ist hier also ein Skript, das wiederum die Grundlage für den Tafelanschrieb bildet. Hierfür finden sich in den Videoauf- nahmen eindeutige Belege: Es ist wiederholt zu beobachten, dass der Dozent beim Anschreiben an die Tafel innehält und den Anschrieb mit dem Skript abgleicht. Gleichzeitig ist das Skript aber auch die Grundlage der mündlichen Verbalisierun- gen, so dass man für diesen Ausschnitt in etwa folgende Ablaufstruktur festhalten kann: Zuerst schaut der Dozent in das Skript, um sich seines Plans für die Vorle- sung zu vergewissern. Anschließend werden Teile daraus in ein erklärendes Han- deln (s. ausf. dazu Hohenstein 2006) eingebettet, das mittels Umformulierungen realisiert wird. Im Anschluss daran werden die Bezugsäußerungen aus dem Skript 6 Heller in Vorb. sowie Carobbio in Vorb. zeigen, dass es zumindest in Italien ähnliche Strukturen auch in anderen Fachbereichen gibt. Ein Vergleich von MINT-Fächern und Geistes- und Sozialwis- senschaften in Deutschland steht für diesen Zusammenhang noch aus. Arne Krause 240 an die Tafel angeschrieben, während parallel dazu das Angeschriebene verbalisiert wird. Damit nimmt also nicht eine mündliche Äußerung, sondern eine Äußerung aus dem Skript die Position der Bezugshandlung ein, die sowohl dem antizipiertem als auch curricular vorausgesetztem Hörerwissen angepasst, weil als potentiell defi- zitär bewertet, wird. Diese Umformulierungen scheinen besonders bei stark kano- nisierten Wissensinhalten oder dem Dozenten in schriftlich abgebundener Form vorliegenden Inhalten aufzutreten. In dem vorliegenden Fall ist, wie man sehen konnte, beides zutreffend. 3.3 Transkriptanalyse 2: Maschinenbau-Vorlesung 1 Es handelt sich bei den nächsten beiden Beispielen aus dem Maschinenbau um Ausschnitte aus zwei auf einander folgenden Sitzungen einer BA-Einführungs- veranstaltung in die Konstruktionslehre. Es handelt sich hier im Wesentlichen um stark kanonisiertes Wissen. Interessant ist hierbei unter anderem, dass beide Do- zenten dieselbe Grafik in der Vorlesung verwenden. Grafiken generell spielen eine immens wichtige Rolle in den MINT-Fächern, wie Hanna (2003) in gezeigt hat. Die hier verwendete Grafik sieht in beiden Fällen zunächst wie folgt aus: Abb. 3: Grafik Einsatzhärten original Diese Grafik ist über 30 Jahre alt und findet sich sowohl in der zweiten Auflage von Niemann (1981: 74) als auch in unveränderter Form in der dritten, völlig neu- bearbeiteten Auflage von Niemann; Winter; Höhne (2001: 90) sowie in der aktu- ellsten Auflage (Niemann; Winter; Höhne 2005: 90). Das in der Grafik abgebun- dene Wissen kann damit als sehr stark kanonisiert betrachtet werden. Die Grafik visualisiert die Überlagerung von Bearbeitungsverfahren in Bauteilen: Wenn die Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 241 durch die Linien a und b dargestellten Spannungen sich überlagern, resultiert da- raus eine Spannung, die durch die Linie c dargestellt wird.7 In dem ersten Transkriptausschnitt wurde der Professor von einem erfahrenen Mitarbeiter vertreten. Dieser hat auf das Curriculum bezogen die Aufgabe, in das Thema einzuführen, also die Grundlagen zu vermitteln. 7 Siehe dazu ausführlicher Niemann; Winter; Höhne 2005: 89ff. Arne Krause 242 Der Dozent führt vor diesem Ausschnitt in das Thema ein und beginnt dann mit den „Werkstofftechnischen Maßnahmen“, die er kurz benennt. Anschließend legt er eine Folie auf den Overhead-Projektor auf, die zunächst wie in Abb. 3 gezeigt aussieht. Der Dozent nimmt im weiteren Verlauf keinerlei Modifikationen der Grafik vor, sondern beschränkt sich darauf, die in der Grafik enthaltenen Linien gestisch nachzuzeichnen. Um diese Bewegungen nachvollziehbar zu machen, wur- den in die Grafik die entsprechenden Stellen nummeriert und in einem Fall eine gedachte, gestrichelte Linie hinzugefügt: Abb. 4: Grafik Einsatzhärten Dozent 1 Dabei beginnt er mit der sog. Härtetiefe, die durch die gestrichelte Linie (1) ge- kennzeichnet ist. Der Dozent zeigt auf diese Linie in #12. Anschließend fährt er in #13 die Linie 2 entlang und hebt in #14 bei „im Randschichtbereich • • hab ich höhere Druck • • spannungen“ 2a und bei „in der Mitte hab ich dann einen Zug- spannungsbereich“ 2b hervor, indem er die gestrichelten Linien nachfährt. In #16 fährt er die Linien 3a und 3b nach und in #17 die Linie 4, die in der Grafik auch mit b benannt ist. Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 243 Man kann sich die Zusammenhänge in etwa so vorstellen, dass die Linie c das Ergebnis aus der Überlagerung der Linien a und b ist. Diese Erklärung wird mittels einer komplexen Form des Umformulierens, also ebenfalls einer reformulierenden Handlung (Bührig 1996), realisiert. Hier nimmt die Grafik, beziehungsweise ge- nauer das in ihr abgebundene, kanonisierte Wissen, die Rolle einer Bezugshandlung ein, die für die Hörer, also hier den Studierenden, potentiell defizitär ist, also in diesem Fall für die Wissensvermittlung ohne die begleitende Umformulierung dys- funktional wäre. Die Erklärung der Grafik wird auf das Hörerwissen zugeschnit- ten, weil antizipiert wird, dass hier Probleme bestehen könnten. Dieser Gefahr also wird mit der Umformulierung vorgebeugt. Dazu werden weitere Teile der Grafik mit in die mündliche Verbalisierung eingebunden. Was auffällt, ist, dass weder der Zweck noch die konkrete Umsetzung des Härtens verdeutlicht werden, weder vor dem hier abgedruckten Transkriptausschnitt, noch danach. 3.4 Transkriptanalyse 3: Maschinenbau-Vorlesung 28 Der zweite Dozent, ein Professor, hingegen setzt bei der Erklärung der Grafik an einem anderen Punkt an. Es handelt sich hier um eine Wiederholung der Inhalte. Er nutzt die den Studierenden bereits bekannte Grafik, um das von dem Mitarbei- ter vermittelte Wissen erneut aufzurufen. Dafür bindet er die Grafik mittels Mar- kierungen darauf ein und stellt starke Bezüge zur beruflichen Praxis her: 8 Es handelt sich bei dem folgenden Transkript um einen Ausschnitt, der an anderer Stelle bereits von Thielmann (2014) untersucht wurde. In einem ersten Zugriff auf das Datenmaterial zeigt er da- rin, wie „[d]ie Überführung der durch eine Graphik repräsentierten abstrakt-physikalischen Wissens- bestände in eine fiktive, aber singuläre Handlungskonstellation [realisiert wird; A.K.], indem be- stimmte Aspekte der Graphik graphisch hervorgehoben und in einem fiktiven Problemlösungsge- spräch diskutiert werden“ (ebd.: 205). Zudem zeigt er, wie eine Begriffserklärung mittels Analogiebil- dung sprachlich realisiert wird. Ich werde an dieser Stelle die Ergebnisse von Thielmann sporadisch einfließen lassen, mich aber im Wesentlichen auf die in diesem Artikel thematisierten Schwerpunkte konzentrieren. Arne Krause 244 Im Gegensatz zum vorangegangenen Dozenten beschränkt sich der zweite Dozent nicht auf das bloße Zeigen auf die Grafik und das gestische Nachfahren von Li- nien. Stattdessen zeichnet er sowohl Linien farbig nach und zeichnet auch Zusätz- liches in die Grafik ein. Um die Sukzession dieser Ergänzungen nachvollziehbar zu machen, wurde die Abb. 3 abermals digital ergänzt und die Ergänzungen numme- riert: Abb. 5: Grafik Einsatzhärten Dozent 2 Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 245 Der Dozent beginnt damit, auf der Grafik die Biegung zu markieren, indem er die entsprechende Linie b mit grün nachzeichnet. Bei „hier da geht s • kaputt“ in #5 markiert der Dozent den Punkt 1 sowie den Blitz (2). In #6 bei „so“ wird das Kreuz (3) eingefügt. Anschließend fügt der Dozent in #12 das Minuszeichen ein und zeichnet die Linie a rot nach. Mit der Äußerung „und irgendeiner kommt und sagt“ in #5 beginnt ein Ab- schnitt in der Vorlesung, der sich stark von dem unterscheidet, was der andere Dozent gemacht hat. Was man hier beobachten kann, ist, dass der Dozent offen- kundig einen Bezug zum technischen Problemlösungsgespräch in einer Firma im Vorstellungsraum etabliert. „Marie“ ist hier Vertreterin einer Firma, die sich auf Härteverfahren spezialisiert hat. In „hier da geht s kaputt“ (#5) werden mittels der Deixis hier Verweisobjekt im Vorstellungsraum und Verweisobjekt auf der Folie verbunden. Es wird im weiteren Verlauf eine fiktive Sprechsituation dramatisiert (vgl. Thielmann 2014) und so ein Problemlösungsgespräch simuliert. Gleichzeitig wird auf etwaige finanzielle Belange verwiesen, die für Ingenieure im Berufsleben zu beachten sein werden: Die Maschinenbaustudenten werden als Experten einge- führt, die die Lösung für die Problemkonstellation haben, nämlich das Härten. Das Härten als Verfahren zur Bearbeitung von Werkstoffen ist den Studierenden aus der vorigen Sitzung schon bekannt (s. oben). Der Professor zieht hier jedoch eine Analogie heran, mit der das antizipierte Gewusste bei den Studierenden aktiviert werden soll. Dazu bedient er sich der Gemeinsprache und einer Vorstellung aus der Alltagswirklichkeit (vgl. Thielmann 2014: 201f.). So wird auf mentale Transfer- prozesse bei den Studierenden abgezielt. Die hier zu findenden Umformulierungen („mal die Oberfläche härten“ (#10), „heißt, dass man Druckeigenspannungen in die Oberfläche einbringt“ (#11), „Der Fahrstuhl ist voll und da kommt noch einer rein, der nicht ganz so schlank ist.“ (#16)) arbeiten genau auf diesem sprachlichen Verfahren: Es wird ein Wissenselement verbalisiert, anschließend fachsprachlich und dann alltagssprachlich umformuliert. Es sind hier auch andere Formen des Zuschneidens von Wissenselementen auf das Hörerwissen zu beobachten: Es wird eine Szene im Vorstellungsraum aufgebaut, es werden die Hörer direkt angespro- chen und es werden Fragen gestellt. Aber dennoch findet keine Interaktion statt, stattdessen liegen ausschließlich Sprechhandlungsverkettungen vor. Vergleicht man die beiden Transkriptausschnitte aus dem Maschinenbau mit dem aus der Physik, kann man feststellen, dass es zumindest eine gewisse Ähnlich- keit der beobachtbaren sprachlichen Verfahren gibt, indem sie allem Anschein nach den Zweck der Verankerung der neuen Wissenselemente im Hörerwissen erfüllen sollen. In einem letzten Analyseschritt soll nun ein Transkriptausschnitt aus einer Mathematik-Vorlesung betrachtet werden, um herauszufinden, ob dort ebenfalls vergleichbare sprachliche Verfahren Anwendung finden. Arne Krause 246 3.5 Transkriptanalyse 4: Mathematik-Vorlesung Bei dem abschließenden Transkriptausschnitt aus einer Mathematik-Vorlesung handelt es sich um eine BA-Vorlesung zur Funktionalanalysis, die etwas später im Studium angesiedelt ist als die zuvor analysierten Vorlesungen. Es handelt sich aber auch in dieser Vorlesung um die Vermittlung von kanonisiertem Wissen im weitesten Sinne.9 9 Es wäre insbesondere hinsichtlich der sehr heterogenen Arten des vermittelten Wissens in den einzelnen Fachbereichen sinnvoll, der Frage nachzugehen, was in den jeweiligen Fachbereichen als „kanonisiertes Wissen“ bezeichnet werden kann. Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 247 Der Tafelanschrieb sieht an dieser Stelle wie folgt aus: Abb. 6: Tafelbild Mathematik Das Tafelbild besteht hier sowohl aus Elementen des mathematischen Kalküls als auch aus Elementen der Gemeinsprache die, wie in den vorangegangenen Tran- skriptausschnitten aus den anderen Fachbereichen auch, eng mit den mündlichen Verbalisierungen des Dozenten verbunden sind. Auch in der Mathematik- Vorlesung bildet ein Skript die Grundlage der Veranstaltung, dem Tafelanschrieb kommt also auch hier eine steuernde Funktion des Vorlesungsgeschehens zu. Die Art und Weise, wie dies geschieht, unterscheidet sich in diesem Fall aber massiv von den zuvor betrachteten Fällen. Der Unterschied besteht darin, dass Teile des mathematischen Kalküls, wie z.B. das Symbol10 für „kleiner gleich“, versprachlicht werden müssen. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Umformulieren; nicht zuletzt deshalb, weil in der deutschen Sprache schlichtweg keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, um dies so auszudrücken. Interessanter sind hier aber die eher unscheinbareren Äußerungsanteile: „Wie könn wir da diese Ungleichung umformen“ (#151), „muss kleiner gleich sein“ (#152), „also könn wir das eins durch Alpha reinziehen, ne“ (#153). Hier wird, anders als in den vorangegangenen Transkriptausschnitten, nicht umformuliert. Stattdessen werden hier mentale Prozesse, genauer mentale, mathematische Opera- tionen, versprachlicht, und zwar während der ganzen Vorlesung. Dabei nehmen die Modalverben eine wichtige Funktion ein. Redder beschreibt diese wie folgt: Modalverben dienen der Versprachlichung von Modalitäten, die syste- matisch in der mentalen Vorgeschichte einer Handlung angesiedelt sind und also wesentliche mentale Einschätzungs- und Entscheidungspro- zesse vor einer Handlungsausführung betreffen. (Redder 2001: 314) Bezogen auf den Transkriptausschnitt heißt das, dass sowohl die unmittelbar vo- rangegangenen mathematischen Operationen als auch generell bekannte mathema- tische Operationen wie hier das Umformen in die Bearbeitung der aktuellen Pro- blemstellung mit einfließen. 10 Ausführlicher zu Fragen zum mathematischen Kalkül und der Verwendung von mathematischen Symbolen siehe u.a. O’Halloran (2008). Arne Krause 248 Im Grunde handelt es sich hier um eine verbale Entschleunigung mentaler Prozes- se und damit um ein ähnliches Verfahren, wie ich es an anderer Stelle (Krause 2015) am Beispiel einer mathematischen Übung gezeigt habe. Und genau dies ist ein explizit hörerorientiertes Verfahren der mathematischen Wissensvermittlung an der Universität. Dies wird auch über die versprachlichten Modalitäten deutlich: Das „müssen“ in #152 z.B. ist in der Vorgeschichte dieses Abschnitts etabliert worden. Aus den dort erarbeiteten und in der Problemstellung gegebenen mathe- matischen Bedingungen, ergibt sich an dieser Stelle das „müssen“. 4 Fazit Man kann also Folgendes festhalten: In den natur- und technikwissenschaftlichen Vorlesungen wird die Hörerinvolvierung an vielen Stellen durch Umformulierun- gen geleistet. Dabei nimmt der vorgeplante Tafelanschrieb eine besondere Stellung ein, indem er Bezugshandlung der Umformulierungen ist. Genau an dieser Stelle wird das Zuschneiden auf das antizipierte Hörerwissen und somit die vorlesungs- spezifische Form der Hörerinvolvierung deutlich. Dies konnte sowohl in der Phy- sik als auch im Maschinenbau beobachtet werden. In der Mathematik stellt sich der Fall etwas anders dar: Hier stehen viel stärker mentale Prozesse und weniger ein- zelne Wissenselemente im Fokus der dozentenseitigen Verbalisierungen. Der Ta- felanschrieb fungiert dabei nicht als Bezugshandlung, sondern als eine Art Gedan- kenstütze, die es ermöglicht, die mathematischen Denkoperationen für die Studie- renden zu entschleunigen und retrospektiv nachvollziehbar zu machen. Während an den Beispielen aus dem Maschinenbau gezeigt werden konnte, dass Wissensbe- stände aus dem Alltag herangezogen wurden, um fachliche Inhalte zu verdeutli- chen, ist dies in der Mathematik auf universitärem Niveau schlichtweg nicht mög- lich, weil die behandelten Gegenstände viel zu abstrakt sind. In Physik und Ma- schinenbau hat man es also mit Repräsentationen der außersprachlichen Wirklich- keit zu tun. Dies gilt natürlich insbesondere für den Maschinenbau, wo es mit Thielmann (2014) gesprochen, um handlungspraktisches und physikalisch infor- miertes Problemlösen geht: „Die Physik als Leitwissenschaft informiert eine tech- nische Herstellungspraxis, ohne deren Erzeugnisse sie nicht experimentieren, d.h. kein neues Wissen generieren kann“ (Thielmann 2014: 195). In der Mathematik hat man es nicht mit solchen Repräsentationen außer- sprachlicher Wirklichkeit zu tun, die Gegenstände der Mathematik sind Gegen- stände des Geistes. Was in der hier analysierten Vorlesung passiert, ist im Endef- fekt ein der Sprechsituation der Vorlesung angepasstes, gezieltes Nach-Außen- setzen von mathematischen Denkoperationen. Es gibt also ganz offensichtlich sprachliche Verfahren in den MINT-Fächern, die eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. Dies hängt jedoch nicht unbedingt mit den vermittelten Inhalten zusammen, sondern vor allem mit den Voraussetzungen der Vermittlungssituation, also beispielsweise auf den Tafelanschrieb bezogen, und mit Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung 249 dem Status des vermittelten Wissens; die Ähnlichkeit ist also auf einer abstrakteren Stufe anzusetzen. Denn auch in geistes- und sozialwissenschaftlichen Vorlesungen, in denen beispielsweise Terminologie eingeführt wird, wird das Umformulieren genutzt. 5 Ausblick Es stellt sich abschließend die Frage, welche Schlüsse für den DaF-Bereich gezo- gen werden können. Die Daten haben gezeigt, dass auch die Fachbereiche, die in Verdacht stehen durch rein fachsprachliche Wissensvermittlung gekennzeichnet zu sein, die Gemeinsprache als Ressource zur Erkenntnisgewinnung und Wissens- vermittlung benötigen. Somit sind gerade Elemente der alltäglichen Wissenschafts- sprache auch hier zu finden. Sicherlich gibt es in allen betrachteten Fachbereichen fachsprachliche Elemente, die gerade auch für DaF-Lerner eine große Hürde dar- stellen können, insbesondere die Anteile von mathematischer und physikalischer Fachsprache scheinen problematisch zu sein. Dennoch zeigt sich auch in der hier analysierten Mathematik-Vorlesung, dass mitunter enorm wichtige Teile der münd- lichen Verbalisierung über die so genannte Formelsprache hinausgehen. Für DaF- Lerner bedeutet das, dass es nicht ausreicht, ausschließlich fachsprachliche Ele- mente zu lernen, da gerade auch in der Mündlichkeit und gerade auch in den hier nicht untersuchten Lehrveranstaltungsformen wie Übungen und Seminare, in de- nen mehr auch spontane Verbalisierungen der DozentInnen zu beobachten sind, auch dezidiert alltagssprachliche Elemente für die Wissensvermittlung von großer Bedeutung sind. Um die rezeptiven Sprachfähigkeiten dahingehend auszubauen, wäre es also sinnvoll, beispielsweise in studienvorbereitenden Kursen auf die Ergebnisse von Forschungsprojekten wie euroWiss zurückzugreifen und die angehenden Studie- renden mit der sprachlichen Realität in der Universität zu konfrontieren, beispiels- weise in Form von Transkripten. Nach wie vor fehlt ein Lehr- und Arbeitsbuch für DaF-Lerner, das sich, analog zu Graefen; Moll (2011), mit gesprochener Wissen- schaftssprache befasst. Auch bei der Vermittlung von gesprochener Wissenschaftssprache erscheint es sinnvoll, nicht die von Krekeler (2013) für die Vermittlung von Fachsprache ge- forderte, aber finanziell und praktisch nicht realisierbare Trennung von Lernern aus verschiedenen Fachbereichen vorzunehmen. Ferner ist hier möglicherweise zwischen Fachsprachenaneignung und Aneignung der Alltäglichen Wissenschafts- sprache umfangreicher zu differenzieren. Der von Ehlich (1993) geprägte Aus- druck „Alltägliche Wissenschaftssprache“ beansprucht eben nicht, dass alle Berei- che der Wissenschaft ein und dasselbe Vokabular verwenden, sondern dass es Teile der Wissenschaftssprache Deutsch gibt, die in allen Bereichen der Wissenschaft von Bedeutung sind und die sich, wie Thielmann (2012) zeigt, im Zuge der Ent- Arne Krause 250 wicklung des Deutschen zur ausgebauten Wissenschaftssprache eben distinktiv in eine andere Richtung entwickelt haben, als beispielsweise das Englische. Literatur Breitsprecher, Christoph; Redder, Angelika; Zech (= Di Maio), Claudia (2014): ‚So. Jetzt müssen sie kritisch dazu Stellung nehmen.‘ – Zur Vermittlung von Kritik in einer wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesung. In: Hornung, Antonie; Ca- robbio, Gabriella; Sorrentino, Daniela (Hrsg.): Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik. Deutsch und Italienisch im Vergleich. Münster u.a.: Wax- mann, 137-167. 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Dies soll am Beispiel des Formats Talente_schreiben an der Westfäli- schen Hochschule und seinen fachsprachlichen Kursen für Studierende des Studi- engangs Wirtschaftsrecht erläutert werden.1 Die Westfälische Hochschule mit ihren Standorten in Gelsenkirchen, Reckling- hausen und Bocholt sowie dem Studienort Ahaus wurde 1992 als Fachhochschule Gelsenkirchen gegründet. Der bildungspolitische Auftrag der Hochschule liegt 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet. Die Studieren- den des Studiengangs International Business Law and Business Management, die ebenfalls an den Kursen teilnahmen, werden unter dem Studiengang Wirtschaftsrecht zusammengefasst. Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 256 darin, durch Lehre und praxisnahe Forschung zur beruflichen Befähigung junger Menschen beizutragen und dabei die Entwicklung der in der Region liegenden Industrie- und Dienstleistungsbetriebe zu unterstützen (vgl. Yilmaz; Kottmann 2013: 297). So ist das Studienangebot vor allem technisch-ökonomisch ausgerich- tet: Fast 50 Prozent der über 8.000 Studierenden sind in MINT-Fächern einge- schrieben, weitere 40 Prozent der Studierenden sind wirtschaftsnahen Fächern in Studiengängen wie Wirtschaftsingenieurwesen, Wirtschaftsinformatik oder – und auf diesem Studiengang liegt der Fokus dieses Beitrags – Wirtschaftsrecht zuzu- ordnen. Im Wintersemester 2013/14 wurden an der Westfälischen Hochschule erstmals fachspezifische Deutschkurse für Studierende des Studiengangs Wirtschaftsrecht durchgeführt. Die Kurse gehörten zum Angebot der Unterstützungsmaßnahmen, die seit Ende 2012 mit dem Projekt Talente_schreiben zur Verbesserung der für den Studienerfolg sowie für den Übergang in den Arbeitsmarkt erfolgskritischen Schriftsprache an unserer Hochschule etabliert werden.2 Anders als die meisten bislang existierenden Angebote im Hochschulbereich setzen wir nicht erst am Ende des Studiums bei der Unterstützung von Abschlussarbeiten an, sondern in der Studieneingangsphase, da hier der grundlegende Entwicklungsbedarf auszu- machen ist. Talente_schreiben ist Teil der Talentförderung der Westfälischen Hochschule und richtet sich an engagierte und motivierte Studierende, die fachlich gut sind und mit großem Interesse und Zielstrebigkeit studieren, denen für einen erfolgreichen Studienabschluss allerdings das schriftsprachliche Handwerkszeug fehlt. Zur Zielgruppe gehören dabei nicht etwa Studierende, die Deutsch als Fremdsprache lernen, sondern jene, die Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache gelernt haben. 2 Sprach- und Schreibförderung an der Westfälischen Hochschule In weiten Teilen des Bildungssektors herrscht Konsens über die Bedeutung von schriftsprachlicher Kompetenz sowohl für ein erfolgreiches Studium als auch für einen erfolgreichen Eintritt in den Arbeitsmarkt (vgl. Moll 2003, Göttemann 2008). Schreibfertigkeiten sind als „Kernkompetenzen moderner Industriegesellschaften“ (Grießhaber 2010a: 228) nicht nur karriererelevant, sondern erleichtern den „Zu- gang zu gesellschaftlichen Schlüsselpositionen“ (Lehnen; Schindler 2008: 230f.). Für die Arbeit an Schulen und Hochschulen sind Deutschkenntnisse darüber hinaus für die Aneignung fachlichen Wissens von Bedeutung. Hochschullehrer und Ausbilder stellen die direkte Korrelation von Sprachkompetenz und Kompe- 2 Dieses Projekt wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 11PL12050 gefördert. Zu den aktuellen Angeboten von Talente_schreiben siehe: http://meinetalentförderung.de (1.06.14); http://www.w-hs.de/studieren/studienergaenzende-kurs- workshopangebote/talente-schreiben-kurse-beratung (1.06.14). Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 257 tenz in naturwissenschaftlichen Fächern her; stellt das sprachliche Wissen doch die Basis für das Verstehen sämtlicher Fächer und Themen dar (vgl. Maßberg 2013: 74). In unterschiedlichen Studien aus dem Schulbereich wurde aufgezeigt, dass die Vermittlung von fachlichen, besonders mathematischen, Kenntnissen von dem Vermittlungserfolg von Deutschkenntnissen abhängig ist (vgl. Grießhaber 2010b: 37f., Chudaske 2012: 176). Auch für ein erfolgreiches Hochschulstudium spielen Deutschkenntnisse eine entscheidende Rolle. Sprach- und Schreibkompetenzen gelten hier als Voraussetzung für Studierfähigkeit und Studienerfolg (vgl. Hoff- mann 2010: 9, Kruse 2008: 14). Daher erscheint es sinnvoll, eine strukturierte schriftsprachliche Förderung, die meist mit dem Schulabschluss endet, auch an Hochschulen fortzuführen. 2.1 Die regionale Zielgruppe der Westfälischen Hochschule Die Studierendenschaft der Westfälischen Hochschule stammt größtenteils aus der Region der jeweiligen Standorte – am Hauptstandort Gelsenkirchen und am Standort Recklinghausen aus dem nördlichen Ruhrgebiet. In diesem Einzugsgebiet stellen Studierende mit Zuwanderungsgeschichte eine relevante Gruppe dar. Der Anteil der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte ist im nördlichen Ruhrgebiet – so auch in Gelsenkirchen – generell sehr hoch. In Gelsenkirchen liegt der Anteil von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte der Grundschulen beispielsweise bei über 50 Prozent (vgl. Der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen 2011: 66). Diese Tendenz spiegelt sich auch innerhalb der Studierendenklientel der Westfälischen Hochschule wider: So lag im Jahrgang 2013/14 der Anteil der Studienanfänger mit Zuwanderungsgeschichte am Standort Gelsenkirchen bei knapp 42 Prozent, in Recklinghausen bei 48 Prozent – im Studiengang Wirtschaftsrecht bei 50 Prozent (vgl. Institut für Innovationsforschung und -management 2014). Das Wissen um den hohen Anteil an Studierenden mit mehrsprachiger Her- kunft ist relevant, da Sprachkompetenz ein entscheidender Faktor für die Bil- dungsunterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Zuwande- rungsgeschichte ist. So haben die PISA-Studien Kompetenzunterschiede zwischen Schülern mit mono- und bilingualer Herkunft bzw. von Deutsch als Mutterspra- che- und Deutsch als Zweitsprache-Lernern in Mathematik und den Naturwissen- schaften aufgezeigt und diese mit der mangelnden Beherrschung der Unterrichts- sprache Deutsch begründet (vgl. Chudaske 2012: 173). Auch stellen die PISA- Studien im Bereich der Lesekompetenz Schwächen in Grundkenntnissen bei Schü- lern, die Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, heraus (vgl. Schindler; Siebert- Ott 2011: 91). Demnach weisen Jugendliche aus Familien mit Zuwanderungsge- schichte, die innerhalb ihrer Familien die Herkunftssprache sprechen, aufgrund ihrer von deutschen Muttersprachlern abweichenden Sprachkenntnisse geringere Schulerfolge auf (vgl. Boston Consulting Group 2009: 21, 31f.). Parallelen gibt es zum Erfolg eines Hochschulstudiums: Hier zeigen sich Schwächen in der wissen- Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 258 schaftlichen Lese- und Schreibkompetenz und auch hier stellen Deutschkenntnisse eine der zentralen Barrieren für den Studienerfolg nichtdeutscher Muttersprachler dar (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2011: 10). Eine weitere regionale Besonderheit der Westfälischen Hochschule stellt die überproportional hohe Anzahl an jungen Menschen aus nichtakademischen Her- kunftsfamilien dar (vgl. Yilmaz; Kottmann 2013: 297f.). Eine aktuelle hochschulin- terne Erhebung zeigte, dass auch innerhalb der Gruppe der Studienanfänger des Jahrgangs 2013/14 der Anteil an Studierenden aus nichtakademischen Herkunfts- familien hoch ist: Am Standort Recklinghausen lag der Anteil bei 69 Prozent, am Hauptstandort Gelsenkirchen bei 70 Prozent und am Standort Bocholt bei 66 Prozent (vgl. Institut für Innovationsforschung und -management 2014). Oftmals fehlen in nichtakademischen Herkunftsfamilien akademische Vorbilder, mit der Folge, dass die Allgemeine Hochschulreife deutlich seltener erworben und ein Hochschulstudium seltener aufgenommen wird: Während 77 Prozent der Kinder von Akademikern ein Hochschulstudium aufnehmen, liegt der Anteil von Kindern aus nichtakademischen Herkunftsfamilien bei 23 Prozent (vgl. Middendorff et al. 2013: 11f., 112). Ferner mangelt es an einem Umfeld, das Erfahrungen etwa zum Zugang zu Hochschulen oder die für ein Hochschulstudium notwendigen Sprach- und Schreibkompetenzen weitergibt. Ein letzter, für die Studierendenschaft der Westfälischen Hochschule spezifi- scher Aspekt kommt noch hinzu: An Universitäten verfügen über 90 Prozent der Studierenden über ein Voll-Abitur. An Fachhochschulen hingegen haben lediglich 55 Prozent der Studierenden das Voll-Abitur erlangt (vgl. Wolter 2011: 22). Dage- gen beträgt der Anteil der Studienanfänger an der Westfälischen Hochschule, die ihre Hochschulzugangsberechtigung an beruflichen Schulen oder Berufskollegs erworben haben, über 60 Prozent. Die Zugangswege zur Fachhochschule sind generell stark ausdifferenziert, was zur Folge hat, dass auch die Voraussetzungen der Studienanfänger heterogen sind (vgl. Yilmaz; Kottmann 2013: 302). Dies zeigt sich im mathematisch-naturwissenschaftlichen, aber auch im sprachlichen Kompe- tenzfeld, bringen die unterschiedlichen Ausbildungswege doch ein unterschiedli- ches Maß an Erfahrungen im schriftsprachlichen Kompetenzbereich mit sich. Diese besonderen (bildungs-)biografischen Ausprägungen der Studierenden müssen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Sprach- und Schreibförder- maßnahmen an der Hochschule zu etablieren. Denn Bildungsbiografien wirken sich auf den Eintritt in die Hochschule, den Verlauf und Abschluss eines Hoch- schulstudiums sowie auf den Übergang in den Arbeitsmarkt aus (vgl. Yilmaz; Kottmann 2013). 2.2 Talente_schreiben: Angebote zur Verbesserung der Schriftsprache Trotz des Wissens um die bildungsbiografischen Besonderheiten der jungen Men- schen aus dem nördlichen Ruhrgebiet und um die Schlüsselrolle, welche die Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 259 Sprachkompetenz beim Bildungserfolg einnimmt, hat die Vermittlung von schrift- sprachlichen Grundkenntnissen noch kaum Eingang in die Sprach- und Schreiban- gebote an der Westfälischen Hochschulen gefunden. Dies soll sich mit den Ange- boten von Talente_schreiben ändern. Beim wissenschaftlichen Schreiben handelt es sich um eine Kompetenz, die Studienanfänger erst noch erlernen müssen, da wissenschaftliches Schreiben kei- nen Teil des schulischen Curriculums darstellt (vgl. Kruse 2007: 117f., Moll 2003: 232, Graefen 2001). Doch weisen Hochschullehrer vermehrt auf die mangelnde Beherrschung der deutschen Orthografie und Grammatik – also der Grundkennt- nisse – innerhalb der Studierendenschaft hin (siehe z.B. Bethke 2014). Auch bele- gen Studien aus dem deutschsprachigen Hochschulbereich Schwächen in schrift- sprachlichen Grundkenntnissen sowohl bei deutschen Muttersprachlern als auch bei Studierenden, die Deutsch als Zweitsprache gelernt haben (vgl. Romero; Warneke 2012, Grütz 2011, Brinkschulte 2012: 70). Diese Tendenz zeigt sich auch an der Westfälischen Hochschule, wie eine Sprachstandserhebung von 308 Studie- renden – eine Auswahl an Studienanfängern aller Studiengänge des Jahrgangs 2013/2014 – hervorbrachte (siehe Abb. 1). Abb. 1: Auswertung von Schreibproben, Wintersemester 2013/14 (Fehlerquellen in Pro- zent) Es handelte sich hierbei um eine Schreibaufgabe auf dem Niveau des Goethe- Zertifikats C2. Während sich Stärken in der Argumentation – eine im Studium essentielle Kompetenz – herauskristallisierten, zeigten sich Schwächen in der 15% 19% 36% 58% 77% 85% Argumentation Kasus Satzbau Ausdruck Rechtschreibung Kommasetzung Auswertung Schreibproben WS 2013/14 Fehlerquellen in Prozent Gesamte Teilnehmerzahl: 308 Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 260 Kommasetzung (in 85 Prozent der Schreibproben), in der Rechtschreibung (in 77 Prozent der Texte), im Ausdruck (58 Prozent) und im Satzbau (36 Prozent). Generell ist es sinnvoll, jene Bereiche, in denen sich schriftsprachliche Schwä- chen zeigen, in die Curricula der Sprach- und Schreibangebote an Hochschulen aufzunehmen, um die Studierenden nach ihrem tatsächlichen Bedarf zu unterstüt- zen. So bieten auch einige Hochschulen im Ruhrgebiet ihren Studierenden Kurse an, die über das wissenschaftliche Schreiben hinausgehen.3 Das Konzept der Sprach- und Schreibförderung der Westfälischen Hochschule, wie es seit Septem- ber 2012 mit dem Format Talente_schreiben vorangetrieben wird, beruht auf ziel- gruppenspezifischen Angeboten zur Verbesserung der schriftsprachlichen Kompe- tenz von Studienanfängern, die folgende drei Aspekte miteinander vereinen:  Den zielgruppenspezifischen Fokus auf die Studierenden unserer Hochschule mit insgesamt über 40 Prozent aus Familien mit Zuwande- rungsgeschichte und mit über 60 Prozent ohne Allgemeine Hochschul- reife zu legen,  Den inhaltlichen Fokus auf essentielle Grundkompetenzen wie Ortho- grafie und Grammatik, Ausdruck und Satzbau zu legen,  Den zeitlichen Fokus auf die Studieneingangsphase zu legen, basierend auf dem Wissen, dass es für einen gelungenen Übergang von der Schu- le in die Hochschule sinnvoll ist, die (schrift-)sprachlichen Kompeten- zen angehender Studierender so früh wie möglich zu fördern. (Vgl. Schindler; Siebert-Ott 2011: 92f.) Zu den exklusiven Angeboten von Talente_schreiben gehören semesterbegleitende Kurse und Workshops, an denen engagierte und motivierte Studierende im ersten und zweiten Semester auf freiwilliger Basis teilnehmen können. Die Kurse und Workshops decken unterschiedliche Niveaus ab, von Grundkenntnissen der Grammatik und Rechtschreibung über Vertiefungsangebote, fachspezifische An- gebote – wie die Kurse für Studierende des Studiengangs Wirtschaftsrecht – sowie Angebote zum wissenschaftlichen Schreiben bis hin zu speziellen Themen wie dem Verfassen von Motivationsschreiben für Bewerbungen um Stipendien. Ein Kurs zum Schreiben im Studium sollte unserer Meinung nach jedoch nicht aus- schließlich das wissenschaftliche Formulieren und Schreiben umfassen, denn eine fehlerhafte Kommasetzung oder Rechtschreibung kann sich beispielsweise negativ auf die Bewertung eines Textes auswirken, unabhängig davon, ob dieser gut struk- turiert und angemessen formuliert ist. Vielmehr bedienen wir uns also unterschied- licher Inhaltsbausteine, um bestmöglich auf den Bedarf der jeweiligen Kursgruppe 3 Nach unserem aktuellen Kenntnisstand (1.06.14) sind darunter die Schreibwerkstatt der Universität Duisburg-Essen, die Workshops zu Grundkenntnissen wie Ausdruck, Kommasetzung und Recht- schreibung anbietet, das Zentrum für HochschulBildung der Technischen Universität Dortmund mit ihrem Angebot für Deutsch als Zweitsprache-Lerner zum Schwerpunkt Grammatik sowie das Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum mit dem Kurs zum Schreiben einer Hausarbeit in der Zweitsprache Deutsch. Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 261 einzugehen. So werden auch in Kursen zum wissenschaftlichen Schreiben Aspekte der schriftsprachlichen Grundkenntnisse wiederholt – meist die Kommasetzung –, wenn sich diese in der jeweiligen Gruppe als Schwäche herausgestellt haben. Daher wird der inhaltlichen Konzeption jedes einzelnen Kurses eine Schreibprobe der Teilnehmenden vorangestellt, auf deren Auswertung die Themenzusammenstel- lung erfolgt. In den Kursen und Workshops arbeiten wir in Kleingruppen (4-12 Personen), um eine möglichst individuelle Betreuung zu ermöglichen. An allen drei Standorten bieten wir zudem Sprechstunden zur Sprach- und Schreibberatung an, in der Stu- dierende bei aktuellen Schreibprojekten begleitet werden. Mit dem Angebot von Talente_schreiben sind die Ziele verknüpft,  vor dem Hintergrund, dass die Zugangswege zur Hochschule hetero- gen sind, die Einstiegsvoraussetzungen der Studierenden im schrift- sprachlichen Kompetenzbereich zu verbessern;  neben der Kompetenz des wissenschaftlichen Schreibens auch die schriftsprachlichen Grundkompetenzen zu erweitern;  den Studienerfolg positiv zu beeinflussen, da die Vermittlung von fach- lichen Kenntnissen oft mit sprachlichen Kenntnissen einhergeht, und  die Übergänge von der Hochschule in den Arbeitsmarkt zu verbessern. 3 Deutsch für Wirtschaftsrechtler In juristischen Studiengängen und Berufen handelt es sich bei der deutschen Spra- che um das grundlegende Handwerkszeug im Umgang mit dem Recht: Sachverhal- te müssen korrekt dargestellt und Ergebnisse nachvollziehbar begründet werden (vgl. Putzke 2012: 23, Schimmel 2012: 1). Lehrende des Faches Rechtswissenschaft kritisieren neben zum Teil geringen Fachkenntnissen und dem Schreib- und Sprachstil der Studierenden auch den Umgang mit fachspezifischen Textsorten (vgl. Mix 2011: 7) und mangelnde Grundkenntnisse der deutschen Sprache (vgl. Schimmel 2012: 106-114). Die große Bedeutung der Sprachkompetenz für das Studium der Rechtswissenschaft zeigt sich auch darin, dass Textsorten und sprach- stilistische Besonderheiten in juristischen Lehrbüchern aufgegriffen werden (exemplarisch Putzke 2012, Mix 2011, Schimmel 2012). Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache-Lerner wiederum vermitteln Wortschatzkenntnisse und die gram- matischen Merkmale der Rechtssprache (exemplarisch Sander 2004, Simon; Funk- Baker 2006, Schwierskott 2006). Für die zielgruppenspezifischen Kurse von Talente_schreiben gilt es nun, be- darfsorientierte Kurse zu konzipieren und durchzuführen, welche die Besonderhei- ten der Zielgruppe der Hochschule, die schriftsprachlichen Anforderungen des juristischen Studiums sowie den sprachlichen Bedarf der jeweiligen Kursgruppe berücksichtigen. Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 262 3.1 Schriftsprachliche Anforderungen im Studium der Rechtswissenschaft Im Studium der Rechtswissenschaften wird die juristische Fachsprache verwendet. Lothar Hoffmann definiert Fachsprache als „die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten“ (Hoffmann 1987: 53). Die juristische Fachsprache schöpft aus dem deutschen Sprachbereich, nur selten sind etwa lateinische Fremdwörter not- wendig (vgl. Mix 2011: 64, Simon; Funk-Baker 2006: 31). Eine Schwierigkeit in der juristischen Fachsprache liegt darin, dass gemeinsprachliche Begriffe verwendet werden, die im juristischen Kontext eine spezifische Bedeutung haben (vgl. Mix 2011: 64, Sander 2004: 2). Daher ist das Wissen um die juristische Verwendung allgemeinsprachlicher Begriffe für eine effektive Fachkommunikation essentiell (vgl. Mix 2011: 64). Ein häufig zitiertes Beispiel für die juristische Semantik sind die Begriffe Besitz und Eigentum. Anders als in der Gemeinsprache besagen sie als juristische Fachbegriffe, dass sich eine Person in Besitz eines Gegenstandes bereits dadurch befindet, dass sie ihn in den Händen hält. Dies sagt aber nicht aus, dass die Person auch der Eigentümer des Gegenstandes ist (vgl. Mix 2011: 64, Sander 2004: 2). Als weitere Eigenschaft der Rechtssprache gilt ein wissenschaftlicher Schreib- stil, der an einem großen Wortschatz, einem wissenschaftlich präzisen Formulieren sowie den Komponenten Sachlichkeit, Objektivität und Neutralität festgemacht wird (vgl. Mix 2011: 66). Der Anspruch an das präzise Formulieren schließt die korrekte Verwendung der juristischen Terminologien mit ein, appelliert darüber hinaus an die gängigen wissenschaftssprachlichen Prinzipien wie den Verzicht auf Füllwörter, Klischees, Widersprüche, Ungenauigkeiten, Unverständlichkeiten (vgl. Mix 2011: 68ff.), Überflüssiges oder irreführende Formulierungen (vgl. Putzke 2012: 24). Des Weiteren werden Sachlichkeit, Objektivität und Neutralität – bei- spielsweise durch den Verzicht auf die Ich-Form (vgl. Putzke 2012: 25) – über die Wissenschaftlichkeit hinaus als die „obersten Gebote eines Juristen“ (Mix 2011: 73) aufgeführt. Zum wissenschaftlichen Schreiben gehört auch ein adäquater Ausdruck, was eine Auseinandersetzung mit der deutschen Grammatik erfordert. Zum einen wer- den grammatisch korrektes Schreiben bzw. die sichere Beherrschung der deut- schen Orthografie und Grammatik als Voraussetzung angesehen (vgl. Mix 2011: 61, Putzke 2012: 8) und dabei explizit auch die Zeichensetzung, Groß- und Klein- schreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, der Satzbau, Kasus und das Tempus genannt (vgl. Schimmel 2012: 106ff.). Zum anderen werden die Verwen- dung von Nominal- und Verbalstil sowie von Aktiv- und Passivkonstruktionen, die angemessene Satzlänge sowie die Funktionen von Haupt- und Nebensätzen ange- sprochen (vgl. Mix 2011: 73ff.). Die Meinung, dass es sich beim juristischen Schreiben um einen umständlichen Stil mit vielen Substantiven und verschachtel- ten Sätzen handelt, ist weithin verbreitet (vgl. Simon; Funk-Baker 2006: 30). Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 263 Eine Besonderheit des juristischen Formulierens liegt in den spezifischen Text- sorten des Faches. Generell müssen Juristen in ihren Texten den Leser überzeu- gen, indem Lösungen argumentativ hergestellt werden. Daher müssen Studierende juristische Argumentationstechniken erlernen (vgl. Pilniok 2009: 394). Eine Text- sorte, mit der an deutschen Hochschulen bereits Studienanfänger konfrontiert wer- den, ist das Gutachten. Um rechtliche Sachverhalte korrekt zu beurteilen, lernen Studierende daher die Gutachtentechnik (vgl. Schimmel 2012: 1). Dabei wird unter Berücksichtigung der besonderen sprachlichen Form ein rechtliches Problem in vier Schritten gelöst, wie an dieser Stelle kurz nach Wieduwilt (2010: 290f.) und Mix (2011: 43) erläutert werden soll. Der erste Schritt, in dem das mögliche Ergebnis mitgeteilt wird, wirft als Ein- stieg in das Gutachten eine Frage auf, die es im Folgenden zu überprüfen gilt. Die- se hypothetische Ebene muss auch sprachlich verdeutlicht werden. Es folgt darauf eine Begründung: Im zweiten Schritt (Obersatz) werden die Voraussetzungen, die geprüft werden, d.h. die Tatbestandsmerkmale des Gesetzes, als allgemeine Aussa- ge dargestellt, oft in Form einer Definition. Im dritten Schritt (Untersatz) wird der in Schritt zwei festgestellte Sachverhalt mit der allgemeinen Aussage der Rechts- norm verglichen (Subsumtion). Das im vierten Schritt folgende Ergebnis stellt die Schlussfolgerung aus der vorangegangenen Begründung dar und spiegelt sprachlich den Einstiegssatz wider. Als Beispiel – zit. n. Mix: E hat eine wertvolle Uhrensammlung. E verstirbt. A ist Alleinerbe. Wer ist Eigentümer der Uhrensammlung geworden? Das mögliche Ergebnis wird dem Leser mitgeteilt: 1. Schritt: Fraglich ist, ob A Eigentümer der Uhrensammlung des E ge- worden ist. Es folgt die Begründung: 2. Schritt: Gem. § 1922 BGB geht mit dem Tode einer Person deren Vermögen als Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erbe) über. 3. Schritt: E ist gestorben, und A ist sein Alleinerbe. Als einzige logische Konsequenz aus obiger Begründung folgt das Er- gebnis: 4. Schritt: Somit ist A der Eigentümer der Uhrensammlung geworden. (Mix 2011: 44) Für die Konzeption und Durchführung von fachsprachlichen Kursen im Studien- gang Wirtschaftsrecht deuten die hier skizzierten schriftsprachlichen Anforderun- gen eines juristischen Studiums bzw. Berufs auf die Notwendigkeit hin, die Ver- Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 264 mittlung der schriftsprachlichen Grundkenntnisse, des wissenschaftlichen Schrei- bens und der Fachsprache am Beispiel von Gutachten zu üben. 3.2 Kurse und Kursinhalte Im Wintersemester 2013/14 wurden an der Westfälischen Hochschule in Koope- ration mit dem Fachbereich Wirtschaftsrecht erstmals fachspezifische Kurse zur Verbesserung der schriftsprachlichen Kompetenz für Studierende des Studien- gangs Wirtschaftsrecht im ersten Semester angeboten. Um den Bedarf der Ziel- gruppe zu ermitteln, wurden zunächst Einschätzungen und Erfahrungen von Leh- renden über die Stärken und Schwächen der Studierenden eingeholt, die spezifi- schen schriftsprachlichen Anforderungen des Studiengangs Wirtschaftsrecht an der Westfälischen Hochschule festgehalten sowie Schreibproben von Studienanfän- gern analysiert. An der zu Beginn des Wintersemesters 2013/14 durchgeführten Sprachstands- erhebung, die oben bereits erwähnt wurde, nahmen 89 Studierende des Studien- gangs Wirtschaftsrecht teil. Die Schreibproben wurden nach schriftsprachlichen Stärken und Schwächen untersucht, wobei sich folgende Fehlerquellen zeigten (siehe Abb. 2). Abb. 2: Auswertung von Schreibproben Wirtschaftsrecht, Wintersemester 2013/14 (Feh- lerquellen in Prozent) 3% 18% 52% 75% 76% 91% Argumentation Kasus Satzbau Ausdruck Rechtschreibung Kommasetzung Auswertung Schreibproben Wirtschaftsrecht WS 2013/14 Fehlerquellen in Prozent Gesamte Teilnehmerzahl: 89 Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 265 In 91 Prozent der Schreibproben fanden sich Schwächen in der Kommasetzung, was in etwa den Ergebnissen der oben genannten, gesamten Sprachstandserhebung entspricht. Auch die Prozentzahl der Texte, in denen sich Schwächen in der Recht- schreibung zeigten (76 Prozent), ist ähnlich jener der allgemeinen Sprachstandser- hebung (77 Prozent). Im Vergleich dazu fanden sich in drei Viertel der Texte der Wirtschaftsrechtler Schwächen im Ausdruck – ein Kompetenzbereich, der für das juristische Schreiben ebenfalls von hoher Bedeutung ist – und in über der Hälfte der Texte Schwächen im Satzbau (52 Prozent). Im Anschluss an die Auswertung der Schreibproben wurden mit den Teilneh- menden Feedbackgespräche über die jeweiligen schriftsprachlichen Stärken und Schwächen geführt sowie individuelle Lernempfehlungen gegeben. Das Angebot wurde von 35 Studierenden wahrgenommen. An den daran anschließenden semes- terbegleitenden Kursen, die wöchentlich stattfanden, nahmen 36 Studierende regel- mäßig teil. Da in den Kursen von Talente_schreiben in Kleingruppen gearbeitet wird, war ein Kurs für maximal 12 Teilnehmende konzipiert. Die Einteilung der Studierenden in die einzelnen Gruppen wurde anhand der Ergebnisse der Schreib- probe vorgenommen. Die Bestimmung der Kursinhalte orientierte sich größtenteils an den schrift- sprachlichen Anforderungen, die seitens der Lehrenden formuliert wurden. Hier standen vor allem die Arbeit mit dem Gutachtenstil, das Lernen von Lesetechni- ken, die Wortschatzarbeit sowie das Einüben des juristischen bzw. wissenschafts- sprachlichen Formulierens im Vordergrund. Berücksichtigt wurden außerdem Themen, die aus der Auswertung der Schreibproben ermittelt wurden, also Grundkenntnisse wie die Kommasetzung. Im Mittelpunkt stand das Verfassen der Textsorte Gutachten. Am Beispiel der Gutachten wurden einzelne Aspekte der Rechtssprache, der Sprachregeln für einen guten Ausdruck, des präzisen Formulie- rens, der Grammatik, aber auch der Lesetechniken vermittelt. Diese Themenviel- falt mag zunächst bunt und überfrachtet wirken, doch handelte es sich dabei um Inhalte, die auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden zugeschnitten waren. Daher wurden nur einzelne, für die jeweilige Gruppe relevante Themen behandelt. Generell wurden Gutachten, Sachverhalte und Gesetzestexte als Textgrundla- gen verwendet, damit sich die Studierenden an die Rechtssprache gewöhnen, sie einerseits verstehen und andererseits lernen, sie anzuwenden. Die Wortschatzarbeit mit juristischen Texten wurde mit populärwissenschaftlichen Texten aus dem Ju- rabereich ergänzt, etwa in der Auseinandersetzung mit Funktionsverbgefügen (An- klage erheben, Delikte begehen etc.). Den Hinweis, mit populärwissenschaftlichen Texten zu arbeiten, erhielten wir von den Lehrenden, um damit das Interesse der Studierenden am Lesen zu erhöhen. Obwohl die Arbeit mit populärwissenschaftli- chen Texten, wie sie häufig im Bereich Deutsch als Fremdsprache üblich ist, im fachsprachlichen Bereich umstritten ist (vgl. Graefen 2001: 196), zeigte sich, dass dies eine sinnvolle Maßnahme war, um den Teilnehmern spezifische Fachbegriffe näherzubringen. Hierbei wurde mit Methoden des Fremdsprachenerwerbs gearbei- Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 266 tet. Die Studierenden wurden dazu angehalten, ein Vokabelheft zu führen, in dem Begriffe, Definitionen und gängige Formulierungen notiert werden sollten (vgl. Mix 2011: 65). Darin sollten auch Begriffe über den Fachwortschatz hinaus aufge- schrieben werden, wie Wörter, die häufig verwechselt werden – etwa der Unter- schied von glaubhaft und glaubwürdig: Aussagen sind glaubhaft, Personen sind glaubwürdig (vgl. Mix 2011: 66). Die regelmäßige Arbeit mit dem Vokabelheft konnte sich in der Unterrichtspraxis jedoch nicht durchsetzen. Da der allgemeine wissenschaftliche Schreibstil generell als essentieller Teil der Rechtssprache gilt, wurden auch einzelne Aspekte der Wissenschaftssprache einge- übt und dafür Aufgaben aus Lehrwerken zur Wissenschaftssprache verwendet (vor allem Graefen; Moll 2011, Jahr 2011, Esselborn-Krumbiegel 2012, Schade 2009). Hier wurde mithilfe von Übungen zu Nominal- und Verbalstil sowie zu wissen- schafts- und umgangssprachlichen Begriffen am Ausdruck gearbeitet. Außerdem wurden Übungen zum präzisen Formulieren durchgeführt. Mit diesen Übungen wurde ein Beitrag dazu geleistet, ein angemessenes Sprachgefühl zu entwickeln. Die behandelten grammatischen Themen umfassten die Kommasetzung und den Satzbau. Gearbeitet wurde hier mit Material aus der Deutsch- bzw. Deutsch- als-Fremdsprache-Didaktik. Lesetechniken wurden an Texten zu juristischen Sach- verhalten vermittelt und das Verfassen von Gutachten über das Erkennen der Struktur und die Arbeit mit Formulierungshilfen geübt (einen Überblick über For- mulierungsbeispiele bietet Schimmel 2012: 31ff.). Die Abschlussevaluationen zeigten, dass die Teilnehmenden folgende Themen als hilfreich wahrgenommen haben: Übung des Gutachtenstils, Arbeit an gramma- tischen Schwächen, Übungen zum juristisch präzisen Formulieren und zum Auffri- schen der Rechtschreibung. Laut den Evaluationen nahmen die Studierenden die Erkenntnis mit, dass eine präzise Wortwahl von großer Bedeutung ist, dass man sich mehr Zeit beim Schreiben nehmen sollte, dass Deutsch Spaß machen kann, dass die Sprache sehr wichtig für Juristen ist, dass man nicht alleine mit seinen Fragen ist und dass es möglich ist, den Gutachtenstil zu erlernen. Somit verdeutli- chen die studentischen Rückmeldungen, dass Unterstützungsangebote dieser Art dankbar angenommen werden und einen positiven Lerneffekt erzielen. Was die Attraktivität der einzelnen Themen unter den Teilnehmenden betrifft, zeigte sich, dass die Studierenden Übungen zum Leseverstehen und zur Wortschatzarbeit – Inhalte, welche die Lehrenden des Studiengangs Wirtschaftsrecht in den Vorge- sprächen zur Kursplanung als besonders wichtig herausgestellt hatten – am we- nigsten schätzten. Während des Semesters stand die Lehrkraft in engem Kontakt zu Professoren und Tutoren aus dem Studiengang Wirtschaftsrecht. Dies war notwendig und wichtig, um die Kursinhalte und Materialien mit jenen der Pflichtmodule abzu- stimmen und sich darüber hinaus fachlich auszutauschen. Im kommenden Winter- semester soll die Kooperation noch weiter ausgebaut werden. So sollen einzelne Sitzungen im Team unterrichtet werden. Dies würde den Studierenden insofern Deutsch für Wirtschaftsrechtler – ein Praxisbeispiel der Westfälischen Hochschule 267 entgegenkommen, als sie über eine fundierte Sprach- und Schreibförderung hinaus vom fachlichen Wissen und den Erfahrungen ihrer Kommilitonen profitieren können. 4 Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag befasste sich mit der Sprach- und Schreibförderung, wie sie mit dem Format Talente_schreiben seit Ende 2012 an der Westfälischen Hoch- schule für Studienanfänger etabliert wird. Das Angebot richtet sich an engagierte und motivierte Studierende, die Deutsch als Muttersprache bzw. Zweitsprache gelernt haben, die fachlich gut sind und mit großem Interesse und Zielstrebigkeit studieren, denen für einen erfolgreichen Studienverlauf allerdings das schrift- sprachliche Handwerkszeug fehlt. Anhand des Beispiels von Talente_schreiben und seinen im Wintersemester 2013/14 erstmals durchgeführten fachsprachlichen Kursen für Studierende des Studiengangs Wirtschaftsrecht sollte erläutert werden, wie Angebote zur Verbesserung der schriftsprachlichen Kompetenz konzipiert und umgesetzt werden können, welche die spezifischen Voraussetzungen der Stu- dierenden berücksichtigen. Das Beispiel Talente_schreiben zeigt, wie eine kontinuierliche Vermittlung schriftsprachlicher Kompetenzen auch über den Schulbereich hinaus an Hoch- schulen fortgeführt werden kann. Da es sich bei der Aneignung von Sprach- und Schreibkompetenzen um einen Prozess handelt, werden die Unterstützungsange- bote in der Studieneingangsphase platziert, nicht erst kurz vor dem Verfassen der Abschlussarbeit. Eine besondere Chance solcher Angebote an Hochschulen ist, spezifische Un- terstützungsmaßnahmen zu entwickeln und in Form von Kleingruppenarbeit eine individuelle Betreuung der Teilnehmenden zu gewährleisten. Hier gilt es, die (bil- dungs-)biografischen Ausprägungen der Studierenden zu berücksichtigen, die etwa aus den regionalen Besonderheiten des Einzugsgebiets bzw. der spezifischen Ziel- gruppen der Hochschule resultieren. An der Westfälischen Hochschule ist dies der hohe Anteil von Studierenden mit Zuwanderungsgeschichte, von Studierenden, die ihre Fachhochschulreife an einem Berufskolleg erworben haben sowie von Studie- renden aus nichtakademischen Herkunftsfamilien. Eine Anpassung der Kursinhalte an den Bedarf der jeweiligen Kursgruppe hat an unserer Hochschule zur Folge, dass ein inhaltlicher Fokus des Angebots von Talente_schreiben auf der Vermittlung bzw. Wiederholung und Vertiefung von schriftsprachlichen Grundkenntnissen liegt. Sprachstandserhebungen, die zu Be- ginn des Semesters mit den potenziellen Kursteilnehmern durchgeführt werden, dienen dazu, die Kursinhalte zu bestimmen. Daher werden bei Bedarf auch in Angeboten zum wissenschaftlichen Schreiben oder zur Fachsprache sprachliche Grundkenntnisse vermittelt. Für die inhaltliche Konzeption von fachsprachlichen Kursen für Studienanfänger im Studiengang Wirtschaftsrecht hatte dies zur Folge, Lena Kreppel & Hilke Birnstiel 268 dass hier schriftsprachliche Grundkenntnisse, wissenschaftliches Schreiben, fach- sprachliche Aspekte und das Üben der Gutachtentechnik verknüpft wurden. Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Studierende so früh wie möglich und kontinuierlich für die Bedeutung schriftsprachlicher Kompetenz im Studium sensibilisiert werden sollten, um sie optimal unterstützen zu können. Literatur Bethke, Hannah (2014): Studenten können keine Rechtschreibung mehr. (http://www.faz. net/aktuell/beruf-chance/campus/sprachnotstand-an-der-uni-studenten- koennen-keine-rechtschreibung-mehr-12862242.html) (1.06.14). Boston Consulting Group (2009): Standortfaktor Bildungsintegration. 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Das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“ im Kontext der Diskussion um „Bildungssprache“ Silvia Demmig (Leipzig/Jena, Deutschland) 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag ist die schriftliche Form eines Vortrags, der bei der Ta- gung als Diskussionsgrundlage gedient hat. Daher hat die Schriftform einerseits berichtenden, andererseits auch kommentierenden Charakter. Die Kommentare beruhen sowohl auf Forschungsergebnissen als auch auf langjährigen Erfahrungen aus dem Berufsfeld. 2 Schule – Studienvorbereitung – Studium: Bildungssprache oder Wissenschaftssprache? Im Kontext der neueren Diskussion um den Begriff „Bildungssprache“ ergibt sich eine veränderte Sichtweise auf das Handlungsfeld DSH-Vorbereitung und Deutsch Silvia Demmig 272 im Studium. Anstatt die Bereiche Schule – Studienvorbereitung – Studium als ab- gegrenzte Gebiete zu betrachten und jeweils unterschiedliche sprachliche Hand- lungsfelder anzunehmen, wäre es sinnvoll, hier ein Kontinuum zu sehen. Da je- doch die Forschung in den drei genannten Handlungsfeldern aus ganz unterschied- lichen Fachgebieten kommt und von unterschiedlichen Bezugswissenschaften beeinflusst wird, sind sowohl die Terminologie als auch die didaktischen Implikati- onen nicht kongruent. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick der Begriffsdiskus- sion gegeben. Im Bereich der Schule hat sich der Begriff „Bildungssprache“ durchgesetzt: „Bildungssprache“ ist eine Art, Sprache zu verwenden, die durch Ziele und Traditionen der Bildungseinrichtungen geprägt ist. Sie dient der Vermittlung fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten und zugleich der Einübung anerkannter Formen der beruflichen und staatsbürgerlichen Kommunikation. (Gogolin; Lange 2010: 9) Für den Bereich der Studienvorbereitung und für das Studium sind die Begriffe der „Wissenschaftssprache“ und der „alltäglichen Wissenschaftssprache“ etabliert: Die alltägliche Wissenschaftssprache ist, als ein ausgearbeitetes Präsup- positionensystem für die Kommunikation in allen wissenschaftlichen Zusammenhängen, eine Substruktur der Sprache, die im Unterricht „Deutsch als Fremdsprache“ zu vermitteln ist. ... Insofern ist der Er- werb der alltäglichen Wissenschaftssprache eine unumgängliche Vor- schule der Wissenschaft. Sie gehört zu einer späten Etappe dessen, was Vygotskij „Begriffsbildung“ in dem von ihm beschriebenen Sinn nennt. (Ehlich 1994: 347-348) Der Begriff der Fachsprache wird selbstverständlich sowohl für den Bereich der Schule als auch für den Bereich der Studienvorbereitung und des Studiums ver- wendet. Nach Hoffmann ist Fachsprache „die Gesamtheit aller sprachlichen Mit- tel, die in einem fachlich abgrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet wer- den, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten“ (Hoffmann 1985: 53, zitiert nach Roelcke 2010: 15). Bildungsspra- che enthält fachsprachliche Elemente „und zwar vor allem im Bereich der Termi- nologie – dem besonderen Wortschatz der Unterrichtsfächer“ (Gogolin; Lange 2010: 12). Mit steigendem Grad an Spezialisierung steigt der Anteil an Fachspra- che: In den meisten Unterrichtsfächern, beispielsweise der Mathematik und der Chemie, steigt nach Leisen (1999) der Anteil an Fachsprache von Klassenstufe zu Klassenstufe an. Gleichzeitig wird die Unterrichts- kommunikation zunehmend von fachsprachlichen Elementen und fach- spezifischen Inhalten bestimmt. (Eckhardt 2008: 71) Das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“ 273 Ausgehend von dieser Betrachtungsweise wäre die Kontinuität von der Schule über die Studienvorbereitung bis hin zum Studium durchaus mit dem zunehmen- den Anteil an Fachsprache zu beschreiben. Für die Begriffe Bildungssprache und Wissenschaftssprache kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sie ein und dasselbe Phänomen bezeichnen. Die beiden Begriffe sind ebenso wenig als Bezeichnungen für die jeweilige Ausprägung desselben Phänomens auf unterschiedlichen Bildungsstufen (Schule -> Bildungs- sprache, Hochschule -> Wissenschaftssprache) zu verstehen. Redder zeigt auf, dass die Begriffe aus unterschiedlichen Herangehensweisen resultieren: „,Wissen- schaftssprache‘ hat die Qualität einer funktionalen Erklärungskategorie. Demgegen- über ist Bildungssprache eine reine Beschreibungskategorie von recht hoher Vagheit.“1 Das Verhältnis der beiden Termini2 sieht sie nicht als ein Verhältnis von „systema- tischen Entwicklungsstufen oder Hierarchiebeziehungen“ und folgert daher: „Wir werden also kategorial keine Ableitungsrelationen erwarten dürfen“ (Redder 2014: 26). Sie schlägt vor, den aus ihrer Sicht weniger brauchbaren Begriff der Bildungs- sprache auch im schulischen Bereich durch den Begriff der Wissenschaftssprache zu ersetzen (Redder 2014: 31f.). Die Frage um die Begriffsverwendung, die Redder eindrucksvoll analysiert und diskutiert, zeigt besonders deutlich, wie weit die beiden Betrachtungsweisen, die hinter den Begriffen „Bildungssprache“ und „Wissenschaftssprache“ stehen, von- einander entfernt sind. Die Forschung zur Zielgruppe der Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache3 in den deutschen Schulen befasst sich hauptsächlich mit der Frage der Benachteiligung dieser Gruppe und damit, wie sprachliche Förde- rung gestaltet werden kann, um diese Benachteiligung auszugleichen. Die Schul- und Bildungssprache wird dabei in ihrer gesellschaftspolitischen Funktion der Ausgrenzung und Machtausübung betrachtet (vgl. Fürstenau; Niedrig 2011). Die- ser Aspekt, der im Begriff „Bildungssprache“ automatisch mitgedacht wird, ist in der neutraleren Bezeichnung „Wissenschaftssprache“ nicht enthalten. Insofern würde der Diskurs um Bildungssprache möglicherweise entpolitisiert, wenn statt- dessen von Wissenschaftssprache die Rede wäre. Um jedoch die sprachliche Entwicklung von jungen Menschen über die Über- gänge zwischen Schule und Hochschule, bzw. Schule, Studienvorbereitung und Hochschule hinweg betrachten, erforschen und sinnvoll fördern zu können, ist es unerlässlich, eine gemeinsame Sprache zu finden. Das Symposium „Kompetenz- profile Deutsch als fremde Bildungssprache“4 verfolgte diesen Ansatz. Ein Beitrag des WIDA-Consortiums stellte das Konzept der durchgängigen Sprachförderung 1 Hervorhebungen im Original. 2 Und des dritten Terminus, den sie in ihrem Aufsatz diskutiert, nämlich des Lehr-Lern-Diskurses. 3 Ich verwende den Begriff „Deutsch als Zweitsprache“ hier zu Gunsten der besseren Verständlich- keit über Fachdisziplingrenzen hinweg. Besser wäre, von Mehrsprachigkeit zu sprechen. 4 Oktober 2013 in Leipzig am Herder-Institut, die Tagungsdokumentation mit dem erwähnten Bei- trag erscheint 2014. Silvia Demmig 274 vor, das in den USA in 35 Bundesstaaten umgesetzt wird. Dabei werden das sprachliche, das „fachsprachliche“ und das fachliche Lernen einzeln durch Stan- dards erfasst. Der Terminus „fachsprachlich“ ist hier eine Übersetzung der eng- lischsprachigen Begriffe „Language of ...“: Insgesamt werden fünf Ausprägungen von Standards ausformuliert und getestet: Standard 1 – English for Social and Instructional Language (SIL) Standard 2 – Language of Language Arts (LoLA) Standard 3 – Language of Mathematics (LoMA) Standard 4 – Language of Science (LoSC) and Standard 5 – Language of Social Studies (LoSS) (WIDA 2012) Diese Standards werden für alle Klassenstufen ab der Primarstufe bis hin zur Highschool definiert. Ausgehend von einer solchen stufenweisen Beschreibung der „Language of ...“-Standards für den Schulbereich scheint es sehr gut möglich zu sein, zu einer ebenfalls stufenweisen Beschreibung der Sprache der Fachwissen- schaften in der Hochschule zu gelangen. Dagegen ist die Situation in Deutschland, sowohl in Bezug auf die Erforschung, als auch auf die Gestaltung von Bildungsprozessen bezogen eher durch Brüche in den Übergängen gekennzeichnet. Dies zeigt sich an der oben diskutierten unter- schiedlichen Ausrichtung der Forschungsdisziplinen, aber auch an der stark ausdif- ferenzierten Verantwortlichkeit von Akteuren in der Bildungspolitik, die für die drei hier relevanten Bereiche Schule, Studienvorbereitung und Studium zuständig sind. In Bezug auf die einzelnen Individuen führt dies dazu, dass Übergänge schwierig zu beschreiben, zu erforschen und zu gestalten sind. Wenn Spracher- werbsprozesse beschrieben und curricular geplant werden, so wird lediglich von der Zielsprache Deutsch ausgegangen. Mehrsprachigkeit ist in diesem gesamten Zusammenhang nicht eingeplant und wird in didaktischen Konzepten und Rah- menrichtlinien kaum berücksichtigt. Insofern erscheinen mehrsprachige Studieren- de im Vergleich zu ihren einsprachigen Kommilitoninnen und Kommilitonen viel- fach immer noch als defizitär. Diese monolinguale Sichtweise ist an den Schulen bereits durchbrochen worden. Sprachliche Bildungsprozesse werden mittlerweile in der Schule als Zweit- sprachförderung, im Idealfall als mehrsprachige Bildungsverläufe beschrieben und durch didaktische Maßnahmen unterstützt. Die Forschung und didaktische Ent- wicklung zum Bereich des sprachsensiblen Fachunterrichts ist bereits weit fortge- schritten, wie auch zahlreiche Beiträge zu dieser Tagung beweisen. Für die Hoch- schulen gibt es einige Pilotprojekte zur Förderung der Zielgruppe, die in der Schule mit „DaZ-Schüler“ charakterisiert wird. Parallel dazu existieren die Angebote zum studienbegleitenden DaF-Unterricht für ausländische Studierende. Eine übergrei- fende Sprachförderkonzeption oder Mehrsprachigkeitsdidaktik in Bezug auf die Zielgruppe der Studierenden ist bisher nicht Gegenstand der Diskussion. Von der Möglichkeit, an Hochschulen sprachsensiblen Fachunterricht zu gestalten, ist in Das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“ 275 Deutschland bisher nur in Bezug auf deutschsprachige Studiengänge im Ausland die Rede (vgl. Murdsheva 2008, Fandrych 2007, Baur; Chlosta; Wenderott 2000). Mit „Language across the curriculum“5 wird an deutschen Hochschulen eher der englischsprachige Fachunterricht bezeichnet bzw. die Möglichkeit, Fremdspra- chenkenntnisse im Fachstudium anzuwenden. Lediglich einzelne Projekte zur Schreibförderung setzen die Idee des „Writing across the curriculum“ um (vgl. Brandl; Duxa; Leder; Riemer 2010). 3 Welche Anknüpfungspunkte bieten sich im Diskurs des Faches DaF für die Beschreibung und Gestaltung der Übergänge Schule – Studienvorbereitung – Studium für mehrsprachige Studierende? Wenn in den letzten Jahren im Fach DaF vom Übergang Studienvorbereitung – Studium in Bezug auf ausländische Studienbewerberinnen und -bewerber die Rede war, so ging es meistens um die Frage von Sprachtests. Individuelle Bildungsver- läufe und -entwicklungen wurden zu Gunsten der Frage, wie eine möglichst ho- mogene Gruppe von Studierenden auszuwählen sei, in den Hintergrund gerückt. Damit geriet auch die Frage der Übergänge bisher wenig in den Blick der For- schung. Nimmt man jedoch die Diskussion um die Validität der Sprachtests ernst, so müssen die Übergänge mitgedacht werden: McNamara und Roever (2006: 32) beschreiben einen „double feedback-loop“ zwischen dem Test und dem sprachli- chen Handlungsfeld: Die ausländischen Studierenden müssen sich einerseits nach dem bestandenen Test im Studium bewähren; dies ist die erste Feedback-Schleife und gleichzeitig ein Beweis für die Validität des Tests (siehe Abb. 1, oberer Pfeil). Umgekehrt aber sind sie selbst Teil des sprachlichen Handlungsfeldes „Deutsch im Studium“, gestalten dieses mit und sollten somit auch die Testentwicklung indirekt beeinflussen (siehe Abb. 1, unterer Pfeil). Dies ist der zweite Teil der doppelten Feedback-Schleife. Dieser Aspekt ist bisher noch viel zu wenig berücksichtigt wor- den: Obwohl die Gruppe der ausländischen Studierenden bereits mehr als 10% ausmacht, wird sie immer noch als Ausnahme und Sonderfall betrachtet und nicht als selbstverständlicher Teil des sprachlichen Handlungsfeldes gesehen. 5 Dieser Begriff wird hier nach Vollmer und Thürmann (2010: 110) gebraucht, die diesen für die Sprachlichkeit des Fachunterrichts im schulischen Kontext verwenden. Silvia Demmig 276 Abb. 1: Sprachtests für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerberinnen und -bewerber und der „double feedback-loop“ (nach McNamara; Roever 2006) Die zunehmende Heterogenität der Studierenden begründet sich nicht nur in der Gruppe der ausländischen Studierenden. Ebenso wächst die Heterogenität der Bildungsinländerinnen und -inländer, also derjenigen Studierenden, die über eine deutsche Hochschulzugangsberechtigung verfügen. Diese Heterogenität und ihre sprachlichen Facetten zu untersuchen und zu beschreiben ist ein Desiderat und wäre eine Aufgabe der Forschung zur Wissenschaftssprache Deutsch. Im deutschen Auslandsschulwesen ist bereits auf die Frage des sprachlichen Übergangs zwischen Schule und Hochschule reagiert worden: In den Rahmenplan DaF für das Auslandsschulwesen sind dezidiert wissenschaftssprachliche Anteile im Sinne der Propädeutik aufgenommen worden: Ziel ist, „dass Schüler ihren Bil- dungsweg mit Blick auf grundlegende studien- und wissenschaftspropädeutische, berufsvorbereitende sowie arbeitsweltliche Erwartungen und Entscheidungen er- folgreich fortsetzen können“ (Bundesverwaltungsamt 2009: 38). Die deutschen Auslandsschulen bereiten also curricular auf ein Studium in Deutschland vor. Ergebnis Beurteilung Messung Sprachliches Handlungsfeld Deutsch im Studium Zugrunde liegende kommunikative Kompe- tenz Kommunikative Kompetenz in Bezug auf die Testaufgabe Im Test sichtbare kom- munikative Kompetenz Konstruk- tion Sampling Analyse   Erreichte Punktzahl Das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“ 277 Den Studienkollegs kommt eine Schlüsselrolle bei der Erforschung und Gestaltung des Übergangs Schule – Studienvorbereitung – Studium zu. Besonders der Zu- sammenhang zwischen fachlichem und sprachlichem Lernen, der in der Schule durch die Diskussion um Bildungssprache bereits weit fortgeschritten ist und an den Hochschulen selbst noch gar keine Rolle zu spielen scheint, wird an den Studi- enkollegs bereits seit Langem eingehend diskutiert. Die Beiträge in diesem The- menschwerpunkt und viele weitere Beiträge, die in den Tagungsbänden des FaDaF bereits veröffentlicht wurden, dokumentieren dies (vgl. Schreiber 2002; Wolf; Jus- ten; Klingel 1991). Strategien für ein erfolgreiches Studium Strategien und Anpassungsmechanismen an die Studiensituation in Deutschland sind im Hinblick auf ein erfolgreiches Studium von besonderer Bedeutung. Dies ist ein Ergebnis meiner Untersuchung zur Konstruktvalidität der DSH-Prüfung (Demmig 2012, 2014). Alle in der Studie befragten Studierenden berichteten von Strategien, die sie entwickelten, um im Studium in Deutschland erfolgreich zu sein. Alle diese Strategien haben etwas mit der Sprachverwendung im Studium zu tun: Ein Student entwickelte eine Strategie, um mit dem großen Lesepensum umzuge- hen, das er in seinen Fächern (Erziehungswissenschaft und DaF) zu bewältigen hatte. Außerdem erarbeitete er sich eine Strategie zur besseren Vor- und Nachbe- reitung von Vorlesungen. Eine Medizinstudentin hatte die Erfolgsstrategie, dass sie sich eng mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen abstimmte, wenn es um Prüfungen und Studienorganisation ging. Ein Student der Wirtschaftswissenschaf- ten entwickelte die von ihm selbst so benannte „Professor-Strategie“. Dabei ging es darum herauszufinden, welche Gewichtung die jeweils mathematischen und sprachlichen Anteile aus der Sicht der Professoren hatten. Insgesamt, so sagte er, sei es wichtig, „die Fähigkeit zu selbst evolutionieren“ zu haben. Er meinte damit, dass die Strategien immer wieder neu angepasst werden müssen und die eigene Situation immer wieder neu aktiv gestaltet werden muss. Dies kommt in den Inter- views an vielen Stellen zum Ausdruck. Da diese Strategie als grundlegende Fähig- keit bei der Bewältigung der Statuspassage in ein erfolgreiches Studium gesehen werden kann, ist sie in dem Baumschema als Stamm dargestellt (siehe Abb. 2). Strategien können also fächerübergreifend betrachtet werden. Silvia Demmig 278 Abb. 2: Faktoren, die zum Studienerfolg beitragen (vgl. Demmig 2012) 4 Fazit: Fachübergreifend oder fachspezifisch? Zusammenhänge zwischen fachlichem und sprachlichem Lernen zu berücksichti- gen ist auf allen Stufen des Bildungsprozesses sinnvoll. Für den Bereich der Schule sind bereits vielfältige Ansätze zum sprachsensiblen Fachunterricht bzw. zur Be- schreibung der Sprachlichkeit des Fachunterrichts vorhanden. Im Bereich der Hochschulen gibt es einzelne Ansätze für die deutschsprachigen Studiengänge im Ausland, in Deutschland selbst beschränkt sich die Diskussion um die aktive, di- daktische Berücksichtigung sprachlicher Aspekte im Fachstudium jedoch zurzeit auf den Kreis der Studienkollegs und der DSH-Vorbereitung. Einzelne Projekte zur Schreibförderung wie sie auch in diesem Themenschwerpunkt vorgestellt wur- den, beschäftigen sich ebenfalls mit der Förderung sprachlicher Aspekte in allen Fächern und für alle Zielgruppen. Einen wichtigen Schwerpunkt der Forschung und Entwicklung von Konzepten sollten in Zukunft die Übergänge zwischen Schule, Studienvorbereitung und Stu- dium bilden. Diese Forderung wird sowohl aus der Sicht der Forschung zur Bil- dungssprache als auch aus der Sicht des Bereiches der Wissenschaftssprache unter- stützt (Gogolin; Lange 2010: 21f.; Redder 2014: 26). In meiner Studie zur Kon- struktvalidät der DSH-Prüfung ist durch die Interviews mit Studierenden ebenfalls das Problem der vielfältigen Statuspassagen zwischen Schule und Studium disku- tiert worden, die ausländische Studierende zu bewältigen haben (Demmig 2012, 2014). Auch aus dieser durch die Forschung in den Erziehungswissenschaften inspirierten Perspektive erscheint es lohnenswert, die Faktoren für ein erfolgrei- ches Studium bereits im Übergang Schule – Studium zu betrachten. Die „Professor- Strategie“ Mit den Kommili- tonInnen kommuni- zieren Studier- und Lernstrategien „Die Fähigkeit zu selbst evolu- tionieren“ Das sprachliche Handlungsfeld „Deutsch im Studium“ 279 In Bezug auf die Fragestellung des Themenschwerpunktes wäre weiterhin die Fra- ge zu erörtern, wie das Verhältnis zwischen fachspezifischen und fachübergreifen- den Maßnahmen zu gestalten ist. In Bezug auf die Frage der Übergänge liegt eine fachübergreifende Perspektive nahe. Auch zur Gestaltung geeigneter didaktischer Maßnahmen an den Hochschulen sollte die Thematik zunächst als Ganzes be- trachtet werden. Die Strategien für ein erfolgreiches Studium sind ebenfalls eher fachübergreifend zu betrachten. Eine fachbezogene Ausdifferenzierung und Anbindung der Diskussion an die bereits existierenden Forschungen in den Fachdidaktiken für den Schulbereich ist jedoch genauso wünschenswert. Dazu müssen allerdings, wie dieser Beitrag gezeigt hat, wissenschaftliche Bezüge zwischen Fachdisziplinen ausgestaltet und Koopera- tionen zwischen den Fächern angeregt und ausgebaut werden. Die Diskussion im Themenschwerpunkt: „Unterschiedliche sprachliche Anforderungen in verschie- denen Fächern?“ der FaDaF-Jahrestagung 2014 war ein weiterer Baustein auf die- sem Weg. Literatur Baur, Rupprecht; Chlosta, Christoph; Wenderott, Claus (2000): Bilingualer Unter- richt in Russland – ein konkretes Beispiel zur Förderung des Deutschen. In: Ulrich Ammon (Hrsg.): Sprachförderung. Schlüssel auswärtiger Kulturpolitik. Frank- furt a.M.: Peter Lang, 83-91. Brandl, Heike; Duxa, Susanne; Leder, Gabriela; Riemer, Claudia (Hrsg.) (2010): Ansätze zur Förderung akademischer Schreibkompetenz ab der Hochschule. Fachtagung 2.-3. März 2009 an der Universität Bielefeld. Göttingen: Universitätsverlag Göttin- gen. 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Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Münster 2014